Loe raamatut: «Mord aus heiterem Himmel», lehekülg 2

Font:

»Wie alt sind Sie eigentlich?«, fragte sie ihn.

»Achtundzwanzig. Was passiert jetzt mit dem Professor?«

»Er kommt in die Gerichtsmedizin. Wir wollen aus dem ungeklärten Todesfall einen aufgeklärten Todesfall machen.« Er nickte. Sie waren nun am Wald angelangt und folgten einem schmalen, kurvigen Weg. Struppiges Unterholz zu beiden Seiten. Hohes Gras. Brennnesseln, Brombeerbüsche, lange Schatten.

»Er hat mir sehr geholfen. Es hat …«, er stockte und holte tief Luft. Sie waren wieder stehengeblieben. Er rang um Atem. Sie schaute ihn fragend an, hob die Hand. Er wehrte sie ab. »Geht schon wieder. Wir sind gleich da.«

»Waren Sie befreundet?« Er schüttelte den Kopf. »Aber Sie kannten ihn schon länger.«

»Seit ein paar Jahren.

»Wie haben Sie …«, doch Melzick konnte ihre Frage nicht zu Ende formulieren. Sie starrte auf einen Punkt, etwas entfernt und in rund fünfzehn Metern Höhe. »Was ist denn das?«

»Wir sind da«, sagte er.

»Ist das denn erlaubt?«, fragte sie, den Kopf im Nacken.

»Typisch deutsche Frage«, sagte Alba und ergriff mit einer Hand eine Strickleiter. »Denjenigen, auf den es ankommt, habe ich gefragt.«

»Und wer ist das?« Er klopfte mit der anderen Hand auf den silbrig schimmernden mächtigen Stamm einer 250-jährigen Buche. Dann begann er, vorsichtig zu klettern.

»Achten Sie auf die sechste und die siebte Sprosse«, rief er ihr über die Schulter zu.

»Warum?«, rief sie zurück.

»Die sind präpariert. Ich mag keine ungebetenen Besucher.« Melzick schaute sich um, spähte zwischen den hohen, mächtigen Buchen, die sich an diesem Ort versammelt hatten, umher. Stille im Wald, von Bienen eingefangen. Sie schaute nach oben. Alba war schon verschwunden. Sie seufzte. Dann kletterte sie ihm nach in sein Baumhaus.

3. Kapitel

Zur gleichen Zeit stand Zweifel vor der smaragdgrünen, extra breiten Eingangstür des südlichen Victoria-Palais. Das auf Hochglanz polierte Messingschild wies nur vier Namen auf. Der oberste, leicht abgesetzt von den übrigen, lautete Marie-Theres Mindelburg. Professor Mindelburgs Schwester wohnte nicht einfach nur, sie residierte. Dafür eignete sich das Victoria-Palais allerdings vorzüglich. Er drückte auf den matt und edel schimmernden Klingelknopf. Das Auge der Überwachungskamera, schwarz, klein und böse, links von ihm,

ignorierte er. Zwei, drei, vier Minuten tat sich überhaupt nichts. Zweifel hatte das erwartet. Audienzen verlangen Geduld. Er trat ein paar Schritte zurück und ließ den Blick nach oben schweifen. Die eindrucksvolle Fassade leuchtete blassgelb im Morgenlicht. Die Balustraden und Pfeiler der oberen Balkone waren von majestätischer Ruhe umgeben. Er schlenderte noch ein paar Schritte nach rechts in Richtung des parkähnlichen Gartens, der sich hinter dem Wohnpalast erstreckte. Sein Blick strich über den perfekt gepflegten Rasen, auf dem, fast unbemerkt, lautlos und pflichtbewusst ein Mähroboter seinen Dienst versah. Vereinzelt standen prachtvolle Bäume, gelassen und stolz. Sein Blick verlor sich in ihrem flirrenden Blättermeer. Er hörte die sonore Stimme nicht sofort.

»Hast Du es?«, fragte Serafina Moor Anna Eichhorn. Diese schüttelte den Kopf und blickte zu Boden. Sie waren an der Villa Fontenay angelangt. Das Blatt Papier, das sie dem toten Professor aus der Brusttasche hätte entwenden sollen, war nicht zu finden gewesen.

»Jemand muss schneller gewesen sein«, sagte Anna Eichhorn mit einem Seitenblick auf ihre Freundin. Diese runzelte die Stirn und sagte mit vor Ärger zischender Stimme:

»Das ist einfach unglaublich. Hast Du auch wirklich genau nachgesehen?« Eichhorn nickte verdrossen.

»Die Tasche war leer.«

»Na dann«, sagte Moor mit Ingrimm, »kommt dafür nur unser lieber Dr. Wollmaus in Frage.«

»Ein wundervoller Garten, nicht wahr, Sir?« Zweifel fuhr herum. In respektvollem Abstand verharrte ein ganz in schwarz gekleideter, silberhaariger Mann von unbestimmbarem Alter. Er hielt sich sehr gerade und ließ sich nicht anmerken, dass er diesen Satz zum zweiten Mal äußerte. Der Kommissar war immer noch vertieft in den Anblick des Parks.

»Kann ich Ihnen behilflich sein, Sir?« Der hauchfeine Oxfordakzent war nur für geübte Ohren erkennbar. Doch Körpersprache und Wortwahl waren unverkennbar: Dies war ein Butler bester englischer Schule, wie man ihn bestenfalls in einer Dokumentation der BBC zu sehen bekam. Der Kommissar räusperte sich.

»Adam Zweifel. Ich möchte mit Frau Mindelburg sprechen.« Der Butler legte den Kopf etwas schief.

»Zweifel, Sir?«

»Ja – Kriminalpolizei.« Er zeigte seinen Dienstausweis. Sein Gegenüber stutzte für einen winzigen Moment. Dann verbeugte er sich leicht.

»In diesem Falle wird es am besten sein, wenn Sie mir folgen wollen, Sir«, sagte er mit einer einladenden Geste seiner behandschuhten Rechten.

»Nur, wenn Sie mir vorher verraten, wer Sie sind«, sagte Zweifel.

»Ich bitte um Verzeihung, Sir. Mein Name ist Willoughby.«

»Nun, Willoughby, dann wollen wir mal.« Der Butler ging voraus und verblüfft registrierte Zweifel, dass sie sich offensichtlich auf den Weg in die Tiefgarage machten. Zwischen den beiden identischen Gebäudekomplexen des Victoria-Palais führte, verborgen hinter einer dichten Hecke, eine gewundene Marmortreppe in die Tiefe. Eine dunkelblau schimmernde, schwere Metalltür kam nach einer leichten Biegung ins Blickfeld. Rechts davon war ein kleines Display in der dunklen Stahlbetonwand eingelassen. Willoughby tippte routiniert eine sehr lange Zahlen- und Buchstabenkombination ein und nach einer kurzen Verzögerung öffnete sich die Tür automatisch und lautlos. Sie betraten nun den Aufenthaltsraum für eine Schar exklusiver Luxusgefährte. Willoughby deutete vage auf einen grünen Bentley, der, auf Hochglanz poliert, in der Mitte des Raumes ruhte.

»Wenn Sie sich hier ein paar Minuten gedulden wollen, Sir. Frau Mindelburg wird in Kürze erscheinen.« Zweifel nickte und Willoughby ging gemessenen Schrittes zu einer extra breiten Aufzugstür, die sich in der weißglänzenden Seitenwand befand. Auch hier tippte er wieder einen äußerst langen Sicherheitscode ein. Ein gedämpfter Gongschlag war zu hören, die Tür glitt lautlos zur Seite, und wenig später war er verschwunden. Zweifel schaute sich um. Eine dünne Nervosität beschlich ihn, wie stets, wenn er kurz davorstand, eine Todesnachricht zu überbringen.

»Sie haben ihn hoffentlich weggeschickt, Willoughby? Wir sollten uns etwas beeilen.« Marie-Theres Mindelburg stand in ihrem Salon, eine Handtasche in der Linken, in der Rechten ein Smartphone, auf das sie flüchtig schaute.

»Das war leider nicht möglich, Madam. Es handelt sich um einen Polizisten«, sagte Willoughby.

»Das spielt keine Rolle.« Sie steckte das Smartphone in ihre elegante Handtasche. »Hat er gesagt, worum es geht?« Sie warf einen Blick auf ihren Butler. »Nein, das hat er wohl nicht.«

»Er ist von der Kriminalpolizei, Madam.« Sie stockte auf ihrem Weg zur Eingangstür. »Ich hab’ ihn gebeten, beim Wagen zu warten.«

»Gut, Willoughby.«

»Darf ich Madam?« Er griff nach dem schmalen Aktenkoffer, den sie von einem kleinen Tisch neben dem Eingang genommen hatte.

»Nein, den nehme ich selbst.« Als sie in der Eingangstür stand, drehte sie sich noch einmal um und warf einen langen Blick durch die Panoramafenster am anderen Ende des Raumes.

Zweifel war ein wenig umhergegangen und hatte die wenigen, dafür umso imposanteren Karossen zumeist italienischer oder britischer Herkunft begutachtet. Als sich die Aufzugstür öffnete, war er gerade dabei, sich das Display etwas näher anzusehen, auf dem Willoughby den Sicherheitscode eingetippt hatte. Er drehte sich halb um. Vor ihm stand eine große, grauhaarige Frau. Die Eleganz ihrer Kleidung war nicht zu übertreffen. Zwei kalte, graue Augen musterten ihn durch eine schwarzumrandete Brille. Sie reichte ihren kleinen Aktenkoffer dem Butler, der ihn sogleich im Kofferraum verstaute.

»Sie kommen ungelegen. Ich bin auf dem Weg nach München«, sagte sie anstelle einer Begrüßung. Sie hatte eine ungewöhnlich tiefe Stimme und sprach in einer leisen Art und Weise, die Widerspruch nicht zu dulden schien.

»Ich bin untröstlich, Frau Mindelburg«, sagte Zweifel und holte seinen Dienstausweis hervor. »Mein Name ist Adam Zweifel. Ich muss Sie dringend sprechen.« Willoughby wartete an der geöffneten Wagentür. Sie seufzte.

»Also gut, dann fahren Sie eben mit und wir lassen Sie unterwegs aussteigen.« »Beschlossen und verkündet!«, dachte Zweifel. »Diese Frau ist es gewohnt, zu bestimmen.« Es würde interessant sein, zu sehen, wie sie auf seine Neuigkeit reagierte. Seine Nervosität war verflogen, als er neben ihr auf dem cognacfarbenen Leder saß. Willoughby, im Zweitberuf Chauffeur, startete die Limousine und achtete, sobald sie die Tiefgarage verlassen hatten, auf keinerlei Geschwindigkeitsbegrenzungen, ungeachtet seines offiziellen Passagiers.

»Und was ist nun so dringend, Herr Zweifel?«

»Wann haben Sie zuletzt ihren Bruder gesehen?« Sie schaute aus dem Fenster und antwortete nicht sofort.

»Das war an einem Sonntagnachmittag, irgendwann im letzten Monat.«

»Sie treffen sich regelmäßig mit ihm?«

»Wir haben keine festen Termine, wenn Sie das meinen. Aber er kommt hin und wieder bei mir vorbei.« Sie fixierte ihn über ihre schwarz geränderte Brille hinweg. »Ich verstehe den Grund Ihrer Fragen nicht, Herr Zweifel. Was ist mit Abraham?« Ohne sich lange um die Formulierung Gedanken zu machen, sagte Zweifel:

»Sein Leben hat heute Morgen geendet.« Sie zeigte keinerlei Reaktion. Er glaubte schon, sie hätte ihn nicht verstanden. Dann bemerkte er ihre Hände, die ganz weiß geworden waren.

»Er ist also tot«, sagte sie leise.

»Es tut mir leid, Frau Mindelburg.« Sie nickte kaum merklich. Willoughby beobachtete sie aufmerksam im Rückspiegel.

»Mein Bruder Abraham Mindelburg ist tot«, sagte sie langsam und nun etwas lauter vor sich hin, als könne sie die Tatsache so besser begreifen. Die ganze Zeit über hatte sie aus dem Seitenfenster geblickt, wo nun die von dieser Tatsache völlig unbeeindruckte Landschaft grün in grün vorbeifloss, unter einem klaren blauen Himmel. Sie schaute Zweifel an. »Wo?«

»Jemand hat ihn heute Morgen im Kurpark gefunden.«

»Jemand?«

»Er ist dort aus großer Höhe auf eine Wiese gestürzt.« Zweifel wurde jetzt, da er es aussprach, erst richtig bewusst, wie absurd sich das anhörte. Willoughbys wachsames Auge traf ihn im Rückspiegel.

»Das verstehe ich nicht. Wie …?«

»Wir wissen noch nichts Genaueres, aber …«, er verstummte. Sie hatte eine Hand leicht erhoben, dann ließ sie sie wieder fallen.

»Mein Bruder hat extreme Höhenangst, Herr Zweifel.«

»Nun, der Arzt meinte, dass sein Herz vor Schreck stehen blieb während seines Sturzes.«

»Der Arzt?«

»Dr. Wollmaus.«

»Ja, sicher, Dr. Wollmaus. Das sieht ihm ähnlich.«

»Wie meinen Sie das?«

»Aber Herr Kommissar – sie sind doch Kommissar – ich frage Sie: Wie lange dauert wohl ein Sturz, selbst aus großer Höhe? Wie will er denn da mit Sicherheit feststellen können, wann das Herz meines Bruders …« Sie brach ab und verbarg ihr Gesicht in den langen, schmalen, weißen Händen. Der Schmerz kam mit Verzögerung. Zweifel hatte dies oft genug beobachtet. Er wartete einige Minuten ab, ohne sie anzusehen und dachte über ihren Satz nach. Es ärgerte ihn ein wenig, dass er die Behauptung des Arztes nicht hinterfragt hatte. Er wischte den Ärger jedoch gleich darauf beiseite. Nach der Obduktion würden sie hoffentlich klarer sehen. Und überhaupt: Von wo herab konnte er denn gestürzt sein? Unwillkürlich suchte er den Himmel ab und wusste mit einem Mal die Antwort. Dabei musste er an seine Assistentin denken. Melzick war ungewöhnlich clever, wenn es darum ging, Rätsel zu lösen. Außerdem hatte sie ein Talent dafür, die richtigen Fragen zu stellen. Was ihr fehlte, war, Geduld mit ihren Mitmenschen zu haben. Sie hatte auch keine Geduld mit sich selbst. Und das war wohl auch der Grund für ihre latente Aggressivität, ihre Art, anderen ins Wort zu fallen. Zweifel hatte sie von Anfang an respektiert – mit Aggressionen konnte er gut umgehen.

»Was werden Sie jetzt tun, Kommissar?« Marie-Theres Mindelburg hatte ihren ruhigen, beherrschten Ton wiedergefunden. Er schaute zu ihr hinüber und räusperte sich.

»Dasselbe wie immer – ich suche nach der Wahrheit.« Sie verzog die Lippen, dann hielt sie ihre rechte Hand mit vier langen weißen Fingern in die Höhe. Er konnte diese Geste nicht deuten.

»Sie werden sie nicht finden. Suchen Sie den Mörder.« Sie machte nach jedem Wort dieses Satzes eine kleine Pause. Es klang wie ein Befehl.

»Sie sind davon überzeugt, dass ihr Bruder umgebracht wurde?«

»Ich bitte Sie, Herr Kommissar. Er hatte krankhafte Höhenangst, wie ich schon sagte. Er war ganz sicher nicht freiwillig in einer solchen Höhe. Man muss ihn mit Gewalt dazu gezwungen haben. Ein Unfall kann es daher nicht gewesen sein.«

»Dann frage ich Sie ganz geradeheraus: wer hätte ihn denn umbringen sollen?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Wir sind in fünfzehn Minuten am Hauptbahnhof, Madam«, kam Willoughbys Stimme von vorn. Zweifel war überrascht. Sie mussten mit einer Geschwindigkeit von weit über 2oo Stundenkilometern gefahren sein.

»Danke Willoughby«, sagte sie.

»Haben Sie einen Verdacht?«, wiederholte Zweifel seine Frage. Sie hatte ihre Hände nun gefaltet.

»Wissen Sie, Herr Kommissar, mein Bruder war ein eigenartiger Mensch. Niemand kannte ihn solange wie ich. Doch was heißt schon kennen?« Sie seufzte. »Ich weiß wie seine Stimme klang, welche Länder er bereist hatte, was er als kleiner Junge anstellte, um beachtet zu werden. Aber ich habe keine Ahnung davon, was in ihm vorging, was seine Pläne waren, seine Absichten. Es ist vielleicht seltsam, so etwas zu sagen, aber ich sehe ihn eher als Gast in meinem Leben. Ein Gast, der allerdings selten zu Besuch kam. Daher weiß ich nichts von seinen Freunden, wenn er welche hatte. Und noch weniger von seinen Feinden, wenn Sie danach fragen.« Zweifel rieb sich mit der linken Hand bedächtig über seine Glatze. Er richtete seine dunklen Augen auf sie.

»Dennoch steht für Sie außer Frage, dass er ermordet wurde. Er war demnach jemand, den Sie für geeignet halten, ermordet zu werden?«

»Sie haben eine merkwürdige Art, sich auszudrücken, Herr Zweifel, um nicht zu sagen, eine zynische Art. Finden Sie das angebracht?«

»Dann lassen Sie es mich anders formulieren. Hatte Ihr Bruder Talent dazu, sich Feinde zu machen?« Sie warf einen scharfen Blick auf ihn.

»Davon müssen wir konsequenterweise wohl ausgehen, oder nicht?«

»Wissen Sie, womit er sich in der letzten Zeit beschäftigte?«

»Er war Kunstsachverständiger. Soviel ich weiß schrieb er an einem Buch über verlorengegangene Gemälde. Er hat aber ein ziemliches Geheimnis daraus gemacht.«

»Hatten Sie den Eindruck, dass er mit diesem Buch ein Risiko einging?«

»Sie meinen, ob er jemandem auf der Spur war?« Sie zögerte etwas. »Nein, das kann ich mir nicht vorstellen.«

»Aber ausschließen können Sie es ebenso wenig?« Sie nickte nach abermaligem Zögern.

»Hören Sie, Herr Kommissar, wir sind gleich am Hauptbahnhof. Ich habe dort eine eminent wichtige Verabredung.«

»Sie verreisen?«

»Das weiß ich noch nicht. Es könnte sich aus diesem Gespräch ergeben.«

»Und mit wem treffen Sie sich?« Sie schaute ihn an und versuchte ein Lächeln, doch sie beantwortete seine Frage nicht. Wieder rieb er kreisförmig mit der linken Hand über seinen kahlen, gebräunten Schädel. Für dieses Mal würde er ihr Schweigen akzeptieren.

»Ich möchte, dass Sie für uns in den nächsten Tagen erreichbar sind. Können Sie das einrichten?«

»Nun, falls ich verreise, ist es nur für ein oder zwei Tage. Ich werde mich ja auch um die Beerdigung kümmern müssen, nicht wahr?« Zweifel nickte. Willoughby bog gerade in die Taxibucht vor dem Haupteingang des Bahnhofs ein und hielt. Zweifel reichte Marie-Theres Mindelburg die Hand und Willoughby öffnete ihm schweigend den Wagenschlag. Fürs Erste war alles gesagt.

4. Kapitel

»Nicht dahin!«, sagte Ferdinand Alba zu Melzick, die sich gerade etwas außer Atem auf einen kleinen Hocker setzen wollte, der aussah wie eine Kreuzung aus Buschtrommel und Klavierstuhl. »Der hält Sie nicht aus. Ist auch eher als Tisch gedacht. Nehmen Sie das dort.« Gleichgültig ließ sie sich auf einem schmalen Brett, das längs an der Wand angebracht war, nieder und schaute sich um. Das Baumhaus bestand aus zwei übereinander angebrachten Räumen. Der Untere, Größere, in dem sie sich befanden, war eine Art Wohnraum. Außer dem Brett, auf dem Melzick saß, gab es eine große Anzahl von Regalbrettern, die mit unzähligen vergilbten und zerfledderten Taschenbüchern gefüllt waren. In der Mitte stand der Hocker, auf den sie sich beinahe gesetzt hatte. In einer Ecke war ein Sitzsack platziert, wie sie in den siebziger Jahren beliebt gewesen waren, in dem für damals typischen Orange. Auf diesen ließ Alba sich nun fallen. Auch ihn hatte der Aufstieg angestrengt. In zwei Wänden war je ein quadratisches Fenster ausgespart. Auf dem Fußboden lag ein Sisalteppich. Rund um die niedrige Eingangstür waren mit Reißzwecken alte Schwarzweißfotos, zum Teil noch mit weiß gezacktem Rand, befestigt. Über die Strickleiter gelangte man auf einen schmalen Sims, der sich rund um die vier Wände hinzog. An einer Außenwand waren Vierkanthölzer als Stufen montiert, über die man den oberen Raum erreichte. Was Melzick nicht sehen konnte: Dort war ein Atelier eingerichtet. Fenster in allen Wänden sowie eine gläserne Lichtluke im Dach. Ein alter Rattantisch, übersät mit rostigen Konservendosen, in denen sich hunderte von Pinseln mit farbverschmierten Griffen von ihrer Arbeit ausruhten. An den Wänden wenig Leinwand. Der Boden »Jackson-Pollock«-mäßig gesprenkelt. Terpentin- und Ölfarbenduft in der staubigen, grünschimmernden Luft. Mitten im Raum eine alte Staffelei, die schon viel ertragen hatte, und die aktuell einer unbefleckten Leinwand Halt und Sicherheit gab.

»Was sind das für Fotos?«, fragte Melzick.

»Die hab’ ich von meinem Großvater«. Sie stand auf und ging näher heran.

»Wer ist die Frau?« Sie hatte festgestellt, dass praktisch auf jedem Bild dieselbe Person zu sehen war.

»Ich weiß es nicht. Niemand weiß es. Zumindest habe ich keinen gefunden, der es mir sagen könnte.« Sie betrachtete die Bilder genauer. Sie mussten über einen längeren Zeitraum hinweg aufgenommen worden sein.

»Ihr Großvater muss sich sehr für sie interessiert haben. Warum haben Sie die hier aufgehängt?«

»Keine Ahnung«, sagte er. »Ungewöhnlich helle Augen«, dachte er bei sich. »Blasses Coelinblau«.

»Die müssen ziemlich alt sein«, sagte sie.

»Keine Ahnung«, sagte er. »Vielleicht noch ein Spritzer Indigo, aber ganz wenig«, dachte er, »für die Schatten in der Iris«. Er bemerkte, wie sie ihn anstarrte und versuchte, sich auf eine vernünftige Antwort zu konzentrieren.

»Fünfziger Jahre schätze ich. Ist aber nicht wichtig. Ich meine – mir ist es egal. Das Licht – ich finde das Licht auf alten Schwarzweißfotos sehr schön. Nicht auf allen natürlich. Eigentlich sind es nur wenige. Man findet es selten. Auf denen da ist es gut zu erkennen. Die alten Momente leuchten auf, finde ich. Man kommt ganz leicht hinein in die Bilder. Ich bin da gerne. Deswegen …, sicher habe ich sie aus diesem Grund da aufgehängt. Ich …, ach was rede ich denn da wieder für einen sentimentalen Schwachsinn.« Er warf beide Hände in die Luft. Melzick hatte sich wieder gesetzt.

»Wie haben Sie den Professor kennen gelernt?« Er schaute nervös an die Decke.

»Wollen Sie eigentlich etwas trinken? Ich habe Ihnen ja noch gar nichts angeboten.«

»Was haben Sie denn hier draußen?«, fragte sie skeptisch. Statt einer Antwort schwang er sich aus seinem bequemen Sitzmöbel in die Höhe, verschwand durch die schmale Öffnung des Eingangs und kletterte an der Außenwand auf den Holzstufen nach oben in sein Atelier. Sie war drauf und dran, ihm zu folgen, überlegte es sich aber anders und blieb sitzen. Von draußen klang heftiges Blätterrauschen herein, ein Wind war aufgekommen. Sie fragte sich, ob er hier oben auch übernachtete. Und wie es sich wohl anfühlen mochte, nachts bei Sturm und Regen, fünfzehn Meter über dem Waldboden in einer schwankenden Hütte zu schlafen. Der Gedanke begann ihr zu gefallen. Alba kam nach einigen Minuten zurück mit einer dampfenden Thermoskanne Kaffee und zwei blauen Keramikbechern.

»Solarzellen?«, fragte sie. Er nickte.

»Für die Kaffeemaschine reicht es aus«, sagte er und schenkte ein.

»Ich sehe keine Lampen.«

»Natürlich nicht. Elektrisches Licht im Wald – das geht ja gar nicht. Dafür hab’ ich Kerzen«, sagte er und streckte ihr einen vollen Becher entgegen. Dann setzte er sich mit seinem Kaffee wieder in seine Ecke.

»Verstehe«. Sie versuchte einen Schluck und verbrannte sich die Zunge. »Also – wie haben Sie Professor Mindelburg kennen gelernt?« Er nippte vorsichtig an seiner Tasse und ließ sich Zeit mit der Antwort. Sie zog ebenso genervt wie auffordernd die Augenbrauen in die Höhe. Ihre Zungenspitze fühlte sich ganz rau an und brannte.

»Er hat mir geholfen.«

»Wobei?«

»Er hat ein paar meiner Bilder gekauft. Außerdem kennt er die richtigen Leute in dem Metier. Kannte.« Er schüttelte den Kopf bei dem Gedanken an seinen toten Gönner.

»Wie war das heute Morgen, als Sie ihn fanden?« Er stellte seinen Becher ab und verschränkte die Arme.

»Das war absolut strange. Wenn ich mir vorstelle, dass ich da meine Übungen machte und ihn dabei im Blickfeld hatte. Die ganze Zeit. Die ganze Zeit liegt der tote Professor praktisch vor mir. Aber ich konnte es nicht erkennen. Er lag ja da wie ein dicker Ast.«

»Was für Übungen?«

»Qi Gong, die acht edlen Übungen. Schon mal davon gehört?« Sie nickte.

»Aber irgendetwas hat Sie veranlasst, zu ihm hin zu gehen?« Er musterte ihre hennarote Haarkonstruktion.

»Muss wohl so gewesen sein. Irgendwas kam mir komisch vor.«

»Haben Sie vorher irgendjemanden bemerkt, einen Spaziergänger oder Radfahrer? Haben Sie vielleicht etwas gehört?« Er griff sich an die Nase und überlegte, dann schüttelte er den Kopf.

»Gesehen habe ich keinen. Gehört? Ich kann mich nicht mehr – oh, warten Sie.« Er schaute sie an und runzelte die Stirn. »Etwas hat gefaucht.«

»Wie – gefaucht?«

»Na gefaucht eben. Ich kann’s nicht anders beschreiben.«

»Wann haben Sie das gehört?«

»Als ich mit den Übungen anfing, glaube ich. Ja – da bin ich ziemlich sicher.«

»Und wann war das etwa?«

»Ich fange meist um sechs Uhr an. Heute war es wohl ein paar Minuten später. Nach etwa vierzig Minuten bin ich fertig.«

»Und dieses Geräusch kam von wo?«

»Von irgendwo aus den Bäumen.«

»Aus den Bäumen? Also von oben?«

»Ja, von oben, tatsächlich.« Melzick dachte nach, während sie noch einen vorsichtigen Schluck aus ihrem Becher nahm.

»Sie haben vorhin gesagt, der Professor habe die richtigen Leute aus dem Metier gekannt. Was meinen Sie damit? Was für Leute?«

»Hauptsächlich Sammler, Galeristen, Kunsthändler.«

»Reiche Leute?«

»Da können Sie Gift drauf nehmen.«

»Schwierige Leute?«

»Das weiß ich nicht. Aber in diesen Kreisen kreisen schon ein paar exotische Vögel herum.«

»Jemand dabei, der dem Professor vielleicht grollte?«

»Grollte?«

»Ja, an den Kragen wollte.«

»Da hab’ ich nun wirklich gar keine Ahnung.«

»Ach nein?« Sie stellte den halb vollen Kaffeebecher auf den hölzernen Boden. »Haben Sie den Professor oft getroffen?«

»Nein, eigentlich nicht. Er hat mir damals die Bilder abgekauft und den Kontakt zu einem Galeristen hergestellt. Dort hab’ ich ihn dann noch ein paar Male getroffen.«

»Kann ich mal den oberen Raum sehen?«

»Mein Atelier? Sorry – das ist keine gute Idee. Da gibt es gerade nichts zu sehen – außer ein paar weißen Leinwänden.« Er zögerte. »Oder muss ich Sie da etwa rein lassen?« Sie zuckte mit den Schultern.

»Irgendwann vielleicht schon.« Sie stand auf und wollte sich an den Abstieg machen. »Tja, Herr Alba …« Als sie schon auf der Strickleiter stand, fiel ihr noch etwas ein. »Übernachten Sie hier draußen auch?« Er grinste und schaute auf sie herunter.

»Manchmal schon.« Sie nahm ein paar weitere Sprossen abwärts

»Und wo wohnen Sie in der übrigen Zeit?«

»Bei meiner Tante in Kirchdorf.«

»Sie steht im Telefonbuch, nehme ich an.«

»Nein, wir haben eine Geheimnummer.«

»Die Sie mir jetzt sicher nicht verraten.«

»Ich geb’ Ihnen meine Handynummer, reicht das?« Sie hielt sich mit einer Hand an der Strickleiter fest, fischte ihr Smartphone aus der Hosentasche und tippte ein, was er ihr zurief.

»Danke.« Sie steckte es wieder ein. »Könnte sein, dass mir noch ein paar Fragen einfallen.« Sie war unten angelangt und schaute nach oben, aber da war er schon verschwunden.

Als sie in Zweifels Büro kam, war er noch nicht da. Sie warf einen Blick auf seinen Schreibtisch, der wie immer penibel aufgeräumt war. Ein schwarzes, quasi vorsintflutliches Bakelit-Telefon mit Wählscheibe hielt dort die Stellung. Es war ihr ein Rätsel, wann er die Zeit fand, all den Schreibkram zu erledigen, der tagtäglich neu hereinschwappte, wobei sie nicht ganz ausschließen mochte, dass er ab und zu einfach eine Nachtschicht einlegte. Das würde zu ihm passen. Sie schaute sich um. Irgendjemand, wahrscheinlich Lucy, hatte behauptet, dass er nur unter der Bedingung, eigene Möbel mitbringen zu können, zum hiesigen Kommissariat gekommen war. Bis dato war ihr verborgen geblieben, dass man als Beamter Bedingungen stellen konnte. Womöglich hing dieses Privileg mit seinem Ruf zusammen und mit seinem engen Draht zum Chef der Dienststelle, Alois Klopfer. Jedenfalls glich sein Büro eher einem Wohnzimmer, wenn auch einem sehr kleinen. Drei dunkelgraue Sessel, niedriger Glastisch mit Gläsern und Karaffe, Bücherschrank. Vor dem Fenster der schmale Schreibtisch, darauf in einem schlichten Glasrahmen das Foto seiner Frau. Es war in Berlin aufgenommen worden, im Hintergrund war das Reichstagsgebäude zu erkennen, in seiner verpackten Version. Das war das Jahr, in dem Christo das riesige Gebäude mit unzähligen Planen eingehüllt hatte. An einem dieser Tage im Sommer 1995 war Zweifels Frau auf eine schreckliche Art ums Leben gekommen. Auf dem Foto trug sie ein gelbes Sommerkleid, weiße Sandalen, eine riesige Sonnenbrille, in die blonde Haarmähne hochgeschoben, ein stolzes Lächeln im Gesicht. Melzick dachte wieder einmal daran, dass sie sie gerne kennengelernt hätte. Sie hatte die Arme verschränkt und stand, ganz in den Anblick versunken, vor dem Schreibtisch. Die Tür ging auf und Zweifel kam herein. Er blieb stehen, die Hand auf dem Türgriff. Melzick fuhr herum, wie ertappt.

»Hallo Chef, wo bleiben Sie denn?«, brachte sie heraus. Angriff war noch immer die beste Verteidigung. Er ließ die Tür zufallen.

»Na ja, der Münchener Hauptbahnhof liegt ja doch etwas weiter weg.«

»Sie waren in München? Wieso das denn?« Er schilderte ihr seine Begegnung mit Marie-Theres Mindelburg und ihrem Butler/Chauffeur.

»Und wie sind Sie mit Herrn Alba zurechtgekommen?« Sie zählte an den Fingern ab.

»Er hat ein Baumhaus. Er malt. Er macht Qi Gong. Er ist ein Romantiker. Er hat oder hatte einen Großvater. Er wohnt bei seiner Tante. Er hat den Professor ein paar Mal getroffen. Dieser hat ihm beim Verkauf seiner Bilder geholfen und auch selbst einige gekauft. Er hat ein Fauchen von oben gehört, kurz bevor er mit seinen Qi Gong-Übungen anfing. Frau Eichhorn hat das Geräusch ganz ähnlich beschrieben.«

»Sie wissen natürlich schon, woher es kam?«, unterbrach Zweifel sie.

»Für mich kommt da nur ein Heißluftballon in Frage.«

»Und was heißt das für uns?«

»Jemand hat den Professor aus diesem Ballonkorb gestoßen. Oder der Professor ist selbst gesprungen.«

Zweifel setzte sich in einen der Sessel.

»Dagegen spricht seine angebliche Höhenangst«, sagte Zweifel. »Wie hoch war der Ballon wohl zu diesem Zeitpunkt? Immerhin haben zwei Leute den Gasbrenner hören können.« Melzick schüttelte langsam und nachdenklich den Kopf.

»Wer geht denn so ein hohes Risiko ein? Als Fluchtfahrzeug ist so ein Riesending doch so was von ungeeignet. Jeder kann einen schon von weitem sehen, man bewegt sich wie in Zeitlupe und man ist von den Windverhältnissen abhängig. Wer wäre denn so verrückt, einen Mord auf diese Weise zu begehen?«

»Sie meinen demnach es war kein Mord. Selbstmord jedoch ist nach allem was wir jetzt wissen sehr unwahrscheinlich. Bleibt als dritte Möglichkeit Unfall. Dann stellt sich aber die Frage, wieso der Professor eingestiegen ist. Und wo der Ballon jetzt ist. Den müssen wir unbedingt finden.« Das Telefon klingelte. Zweifel stand auf und nahm ab, dabei deutete er auf die Karaffe, die auf dem Glastisch stand. Melzick beschränkte sich darauf, nur ein Glas einzuschenken. Klares Wasser lag eindeutig nicht in ihrer Geschmacksrichtung.

»Zweifel hier. Ja, Dr. Kälberer! Was …?« Der Kommissar zog überrascht die Augenbrauen nach oben. Melzick schaute ihn an und versuchte, aus seiner Miene zu lesen, was der Arzt zu ihm sagte. »Ich verstehe nicht. Wie …?« Zweifel kam nicht zu Wort. Er tauschte einen Blick mit Melzick und verdrehte die Augen nach oben. Dann griff er nach seinem Glas. »Nein, Dr. Kälberer, das habe ich nicht! Sie verstehen das ganz falsch. Dr. Wollmaus hat …, – wieso?« Während der folgenden Minuten konnte Melzick beobachten, wie anfängliche Überraschung, Ungeduld, leichte Verärgerung, schwere Verblüffung und schließlich Ratlosigkeit sich auf dem Gesicht ihres Chefs ablösten. »Ich habe keine Erklärung dafür, Dr. Kälberer, aber das ist jetzt auch unwichtig. Haben Sie denn schon etwas Konkretes?« Zweifel schwieg und lauschte gespannt. »Gut, das hilft uns erstmal. Melden Sie sich gleich, wenn Sie etwas Neues haben.« Er legte den schwarzen Hörer behutsam auf und schnalzte mit der Zunge, dann leerte er sein Glas in einem Zug.

4,99 €