Loe raamatut: «Adams Söhne»
Erstes Buch
I. Kapitel
Es war Julis Anfang, und ein richtiger, heißer, kornreifender Sommertag. Wittekind war am Morgen vom Hintersee über die Schwarzbachwacht nach Reichenhall gewandert, und seinen fünfundvierzig Jahren tat es doch wohl, in dem tiefen Schatten eines menschengefüllten Wirtsgartens auszuruhen und sich an einem leidlichen Mittagsmahl zu stärken. Er hatte den Ranzen, mit dem er ganz nach seiner alten Weise dahinzog, neben sich gelegt, fühlte diese angenehme Erregung und behagliche Glut, die nach einer heißen Wanderung noch so sachte fortglüht, und beobachtete die Hunderte von Sommergästen an den kleinen Tischen.
Indessen eine gewisse Unruhe in ihm ward nicht ganz beschwichtigt, und sie galt in diesem Augenblick weniger dem lieben Jungen, seinem Sohn, den er heute wiedersehen sollte, als dem Untersberg, dem ihn seine Wanderung so nahe gebracht hatte. Der Untersberg ragt aus den Tälern, die sein breites Fußgestell umgeben, inselgleich hervor; wie ein verwildertes Dreieck, von etwas unsicherer Hand bei geschlossenen Augen gemacht. Von welcher Seite man ihn auch sehen mag, immer ist er einer Riesenburg ähnlich, mit langgestreckten Mauern, hinter denen sich eine Welt von Höfen und Häusern verbergen könnte; auch das Haus des alten Kaisers, den die Sage hier im ›Wunderberg‹ sein Leben fortträumen ließ, – was nun nicht mehr nottut. Wittekind hatte die Wege, die am Untersberg hinführen, schon in jungen Jahren alle unter seinen Füßen gehabt, nur den einen nicht, der am Nordrand, von Reichenhall her, gegen die Salzach führt. An dem großen Dreieck fehlte noch ein Stück.
Er musste selber lächeln, als er daran dachte; aber wie einem oft aus der Jugendzeit dieser oder jener unerfüllte Wunsch, ein Plan, eine Sehnsucht bleibt, die wie Luftblasen im stillen Wasser immer wieder auftauchen, so erging es ihm mit diesem letzten Stück Weges, das von je zu seinen Wandersträumen gehört hatte. Zwischen den Bäumen durch, über kleinen Häuschen an der Straße, konnte er ein Stück vom ›Wunderberg‹ sehen. Ihm war, als schaute der Berg ihn mit Vorwurf an, dass er von hier auf der Bahn nach Salzburg fahren wollte, und dann so weiter seinem Sohn entgegen, statt ihm, seinem alten Freund, endlich Wort zu halten.
Er setzte sich den Hut wieder auf und sah nachdenkend in sein Glas.
›Ich muss und soll nun doch endlich diesen Weg machen!‹ dachte er. ›Die Hitze, die tut mir nichts. Er wartet auf mich nun schon fünfundzwanzig Jahre. So lange kann ich ihn wohl nicht wieder warten lassen. Geh’ ich noch über Glanegg nach Grödig, so find’ ich da meinen Jungen an der neuen Bahn, und hab’ gegen den Untersberg ein reines Gewissen. Also auf nach Grödig!‹ Die alte Rastlosigkeit, die ihn in der Einsamkeit immer überkam, schnellte ihn empor. Er hatte hier ausruhen wollen, bis die kühleren Stunden kämen; mit der plötzlichen Unruhe eines Jünglings stand er auf, zahlte, hängte sich den Ranzen über die etwas unlustigen Schultern – sie waren an solchen Druck nicht mehr gewöhnt – und verließ den Garten. Als er in die Sonne kam, schüttelte er doch den Kopf. Es war noch mittagsheiß. Die Straße blendete ihn.
Der Himmel war blau wie Stahl. Die Sohlen brannten ein wenig; das von Speise und Trank erregte Blut lag ihm auf den Augen. Es fuhr ihm ein flüchtiges Missvergnügen durch den Kopf, mit einem so ruhelosen Menschen zu tun zu haben, der sich immer wieder plagen müsse und nicht Frieden halte. Dann aber lächelte er, stieß mit dem Stock auf die Erde, summte ein altes Studentenlied, das ihm plötzlich einfiel, und wanderte durch die heißen Straßen des Orts seinem Feldweg zu.
Wittekind war eine kraftvolle, noch schlanke Gestalt von auffallender Größe; sein blondes, ein wenig lockiges Haar ward an den Schläfen grau, die blauen Augen hatten aber das reinste jugendliche Feuer, den fast naiven, aber festen und unternehmenden Blick, der so viele Nordländer auszeichnet, und seine leuchtende, weiße, rosig gebräunte Haut war von großer Frische. Während er ging, wechselte er oft zwischen neugierig lebhaftem Umherschauen und tiefem Sichversinnen; stieß zuweilen einen herzhaften, aber gemütlichen Fluch aus, der der Hitze galt, weidete sich dann wieder mit treuherzigem Lächeln an dem schönen Tag, der so rein, so blau über den Bergen lag, so leise in den gelben Kornfeldern spielte und – was seinem Landmanns-Herzen wohltat – so reichlichen Erntesegen versprach. Von dem Hügel, an dem die letzten und vornehmsten Villen stehen und auf Reichenhall hinunterschauen, sah auch er noch einmal auf das Städtchen zurück, ehe er über die Felder ging; setzte sich auf eine schattige Bank, da ihm das Blut doch gar zu unruhig in den Augen tanzte, und saß eine Weile still. Er schloss sogar die Augen; ›nur auf ein paar Minuten!‹ dachte er. ›Eine kleine Siesta; es war noch zu früh!‹ – Indem er sich zurücklehnte, drückte ihn der Ranzen; er war im Begriff, ihn abzuwerfen; mitten in der Bewegung hielt er aber inne. Ihm fielen die wandernden Handwerksburschen ein, die er so oft beobachtet und in seinem menschenfreundlichen Herzen mitfühlend bedauert hatte. Die schonen sich nicht. Und die wandern anders als du, dachte er; nicht weil das Dreieck um den Untersberg noch nicht fertig ist, sondern weil das Handwerk oder die Not es will. Sollen wir Glücklichen, wir Verzogenen es denn immer besser haben, als die Stiefkinder des Schicksals? Er soll nur drücken, der Ranzen! Heute wenigstens, am Tag eines so ersehnten Wiedersehens, wollte er es nicht besser haben als sie. Er setzte sich aufrecht, um den Ranzen stärker zu spüren, um weniger – auszuruhen. Auf einmal flog, wie ein Vogelschwarm, eine ganze Kette von Erinnerungen vor ihm auf, und mit geschlossenen Augen ließ er sie vorbeiziehen.
Als junger Student, auch so mit dem Ranzen, wanderte er zum ersten Mal dem Untersberg entgegen! Die Welt, das Leben erschien ihm ein Paradies. Dann kamen die schwarzen Wolken, die aus diesem Paradies so oft ein Leichenfeld oder ein Schlachtfeld machen; plötzlich starb der Vater, neben dem stillen, wachsbleichen Gesicht stand die bisher ungekannte Sorge. Der lustige Student ward Landwirt, er übernahm das Gut, den einzigen Besitz, für sich und die Schwestern, verschuldet war und etwas verkommen: denn der gute, hochgesinnte Vater hatte zu sehr in Projekten, Idealen und Phantasien gelebt. Umso ernster packte nun das Leben seinen Sohn.
Nach langen Mühen ward’s licht; eine liebe, zarte, zärtliche Frau kam ins Haus; liebe Kinder dazu. Das Gut, das Vermögen gedieh. Die zarte Frau schwand dahin. Endlich lag sie da, mit stillem, wachsbleichem Gesicht. Die Sorge kam nicht wieder; das Gedeihen blieb; aber das reine Glück der Jugend fand sich nicht wieder ins Haus. Auch die Kinder schwanden ihm wieder dahin, ihrer Mutter nach. Nur dieser eine blieb ihm, der Berthold, der Blondkopf, der heute von Salzburg kam, den er noch vor Nacht ans Vaterherz drücken sollte.
›Seltsam‹, dachte er: ›und diese Freude ist doch nicht vollkommen; es liegt mir eine Art von Nebel ums Herz. Das sind nicht nur die Toten; auch sonst.‹ Eine eigene, weiche Wehmut, die zum Trübsinn ward, beklemmte ihm die Brust; ein Ungenügen am Leben, das ihm zuweilen in das heiterste Glücksgefühl hineindämmerte. Er kannte diesen Feind sehr wohl, aber er gab sich nicht gerne Rechenschaft über ihn. Solche Feinde wachsen, wenn man über sie nachdenkt irgendwo war in seinem Leben eine große Lücke.
Seine Tätigkeit tat ihm wohl, an Leib und Seele, seine Studien aller Art erhoben ihn über die Alltäglichkeit, er liebte das Landleben, die Unabhängigkeit, auch die Einsamkeit; seinem Ehrgeiz winkte die Politik, das Parlament, er brauchte nur zuzugreifen wenn er wollte; sein deutsches Vaterland gedieh unter der Kaiserkrone, wie es seine glühendsten Jünglingsträume ersehnt hatten. Dennoch war in seinem Leben eine große Lücke. … Fünfundvierzig Jahre! … Das ist ein Stück Zeit; und er hatte viel darin genossen und besessen. Aber wenn man noch so voll Kraft, Gesundheit, Lebensfeuer ist. … Wenn man noch zu jung ist, um sich nur auf das Wiederseh’n mit seinem erwachsenen Sohn, dem Herrn Studenten, zu freuen. … Wittekind sprang auf, um diesen Gedankengang abzubrechen: er wollte nicht weiter, und er hatte die Kraft, sich darin zu zwingen. Bald war er unten auf der Straße, die die Felder durchschnitt; die Sonne brannte zwar frei aus der Höhe herab, aber in der reinen Luft schwebten all die kräftigen und süßen Sommer-Wohlgerüche, die unser Juli bringt. Von den Wiesen herüber duftete frisch geschnittenes Heu; der dorfsüße Holunderduft kam von allen Wegen und Gehöften; wo eine Linde blühte, war sie schnell zu spüren; und auch das reifende, nickende, sonnenwarme Getreide gab seine Würze dazu. Wittekind brach sich von den Holunderbüschen am Weg einige mächtig blühende Zweige ab, die ihm als Fächer hätten dienen können; er musste sie aber bald zu einem unerwarteten Liebesdienst benützen. Als er in die Tiefe eines langsam ansteigenden, von der Sonne stark durchglühten Waldes eingedrungen war, fiel auf einmal, wie Wegelagerer, eine Wolke von Stechfliegen über ihn her, wie er noch keine erlebt hatte. Es war, als wäre diese Horde durch irgendeinen Vorgang in der Natur aufgeregt und zum wildesten Blutdurst aufgestachelt worden: so ungestüm fielen sie den Wanderer an, und so unermüdlich zogen sie neben ihm her. Er holte nach rechts und links gegen sie aus, um sie wegzuscheuchen; das war verlorene Mühe.
Sie warfen sich umso wütender, in ganzen Scharen, gegen sein Gesicht. Eine Weile ward er ganz verblüfft; dann sah er, dass er gegen dieses besessene Raubgesindel keine andere Waffe hatte, als mit den Holunderbüscheln vor seinem Gesicht auf und ab zu fahren, dann wieder einmal in die Wolke hineinzuschmettern, dann wieder durch rastloses Auf und Nieder Stirn und Augen zu schützen. Er ging rascher und rascher; die Wolke zog immer mit; oder hinter jedem Baum schien ein neues Geschwader von Bremsen hervorzubrechen. Es war ein wildes, minutenlanges Gefecht.
Endlich musste Wittekind in aller Erregung über sich selber lachen; er war in eine richtige Berserkerwut geraten, wie ein alter Germane, der sich im Hohlweg mit Tod und Teufel herumschlägt. Von seinen fünfundvierzig Jahren waren ihm höchstens zwanzig geblieben. In diesem kampflustigen Vernichtungsgrimm hätte er vielleicht noch eine Weile fortgewütet, aber der Anlass hörte plötzlich auf. Der Feind ließ von ihm ab. Als er die Waldhöhe überschritten hatte und in der kühleren Senkung hinabstieg, war das ganze Heer der Bremsen aus seinem Wege verschwunden.
Ein sonderbares, dröhnendes Lachen kam dagegen aus dem Wald herüber. Wittekind wandte den Kopf. Auf halber Höhe eines unbedeutenden Tannenbühels, hinter dem die Mauern des Untersberges aufstiegen, stand eine auffallend mächtige Gestalt, ein Mann in grauer Lodenjoppe und steirischem Hut. Ein langer weißer Bart hing ihm unter dem Kinn. Der Alte lachte noch einmal, herzlich, aber gedämpfter; dann kam er vollends den Bühel herab und ging, mit der rechten Hand zutraulich grüßend, auf Wittekind zu.
»Nichts für ungut«, sagte er ohne weiteres, in bayrischer oder österreichischer Klangfarbe, aber in reinem Deutsch; »mein Lachen war nicht übel gemeint. Ich hab’s eine Weile s mit angeseh’n, wie Sie sich mit diesem kleinen Raubzeug – —! Ein rechtes Gesindel das! Ich kenn’s! Hab’ zuweilen auch gedacht: die ganze Erde schlag’ ich in den Grund hinein!«—
Indem das hagere, lange Gesicht des Alten behaglich lächelte, setzte er hinzu:
»Mir war, als säh’ ich mich selbst, als Sie so kriegerisch, so ganz bei der Sache. – Hat mir sehr gefallen. Verzeih’n Sie, dass ich das sage. Hat mir halt gefallen!«
Wittekind sah diesem sonderbaren Wanderer etwas befremdet in die grauen Augen. Fast hätte er gedacht, der Alte mache sich über ihn lustig: es lag aber ein zu treuherziger Ausdruck auf dem braunen, faltigen, scharfgeschnittenen, ungewöhnlichen Gesicht, als dass er dieses Missgefühl hätte behalten können.
»Was sollte ich machen?« erwiderte er, höflich. »Ich musste notgedrungen eine komische Rolle spielen, und hab’ sie gespielt.«
»Wieso eine komische Rolle?« sagte der alte Herr und bewegte seine mächtigen, etwas ausgefransten Brauen mehrmals auf und nieder. »Alles was man tut, soll man ganz tun. Auf das Feuer kommt’s an, und nicht, wo es brennt. Feuer – — Ja so. Mit Verlaub: könnten Sie mir für meine Zigarre etwas Feuer geben?«
»Mit Vergnügen«, entgegnete Wittekind, der ein Schächtelchen hervorzog und ein Wachskerzchen anzündete. Der Weißbärtige machte eine Verneigung, deren vornehme Grazie Wittekind überraschte, nahm das Kerzchen und setzte seine große, dicke Zigarre langsam in Brand. Zwischen je zwei Zügen warf er einen Blick auf Wittekinds Gesicht, und jeder schien etwas zu fragen oder zu ergründen. Endlich nickte er vor sich hin.
»Ich danke Ihnen«, sagte er; dann setzte er langsam hinzu, mit seiner tiefen, etwas rollenden Stimme: »Eine Frage ist frei, und die Antwort kostet Sie nichts. Sie haben auch das rechte Gesicht für meine Frage; sonst behielt’ ich sie bei mir. Wollen Sie mir deutsch, das heißt ehrlich, sagen, ob es Ihnen angenehm ist, wenn ich Sie ein Stück Weges begleite, oder ob Sie lieber allein geh’n? Seh’n sie meine weißen Haare; schenken Sie mir aus Achtung ein wenig Aufrichtigkeit.«
Der Alte hatte diese seltsame Anrede mit einem gewissen feierlichen Ernst begonnen; sie endete aber mit einem sehr anmutigen, liebenswürdigen Lächeln. Dann bewegte er leise, wie fragend, seine Knie, und stützte beide Hände auf seinen Stock. Wittekind vergaß eine Weile zu antworten, so sehr beschäftigte ihn alles an diesem merkwürdigen Menschen. Lächelnd sagte er dann:
»So, hat man mich noch nie gefragt – und doch sollte es eigentlich immer so sein! Ich danke Ihnen für die gute Meinung, die Sie von mir haben. Ganz aufrichtig: ich ginge sonst gern allein; aber Sie – Sie möchte ich kennenlernen…«
Ein tiefes »Hm!« war die Antwort. Der Alte nahm die rechte Hand von seinem Stock – es war ein einfacher, oben gekrümmter Bergstock – und ergriff Wittekinds Hand, um sie stumm zu drücken. Darauf setzte er sich sogleich in Bewegung, mit zuerst langsamen, dann immer größeren Schritten; es war erstaunlich, wie elastisch und jugendlich er ausschritt.
»Sie wollen nach Grödig, denk’ ich, an die neue Bahn«, fing er an zu sprechen.
Wittekind nickte.
»Wie kommen Sie denn auf diesen Weg, wenn ich fragen darf? Von den norddeutschen ›Touristen‹ – und Sie sind – offenbar ein Norddeutscher – gehen hier nicht viele.«
»Daran ist der Untersberg schuld«, entgegnete Wittekind. »Dem war ich das schuldig. – Eine alte Liebe«, setzte er lächelnd hinzu.
Der Alte riss die Augen auf; ohne Zweifel aus Wohlgefallen.
»Sie lieben den Untersberg! – Seh’n Sie! Seh’n Sie!« rief er aus, als wäre nun die gute Meinung bestätigt, die er von Wittekind hatte. »Das ist ja mein Berg, lieber Herr; ohne den möchte’ ich nicht mehr leben. Um den kreis’ ich eigentlich das ganze Jahr herum; in Salzburg, Reichenhall, Berchtesgaden, Hallein; jetzt komm’ ich von oben. Von der Vierkasers-Alp – und so weiter. Eine alte Liebe! Seh’n Sie!«
»Und ich dachte wohl, dass Sie vom Untersberg kämen«, erwiderte Wittekind, »als ich Sie vorhin an dem Tannenbühel entdeckte. Sie sahen aus —« Er stockte.
»Nun, wie sah ich aus? – Nun, wie sah ich aus?«
»Wie der ›Alte vom Berge‹«, sagte Wittekind heiter. »Wie einer von denen, die in den ›Wunderberg‹ verzaubert sind; – mit dem weißen Bart da —«
»Und mit dem langen, ledernen Gesicht!« setzte der Alte vergnügt hinzu, und begann zu lachen. »Und bei alledem haben Sie’s getroffen«, fuhr er ernsthafter fort. »Ich gehör’ nicht mehr zu euch in die Welt – sondern in den Berg!«
»Wie meinen Sie das?« fragte Wittekind.
»Wie ich das meine? Dass ich ein Siebziger bin; – ja, ja; schütteln Sie nicht den Kopf. Nächstens zweiundsiebzig. Darum leb’ ich auch nicht mehr in der Welt. Sondern wie die Hindus – — Sie wissen wohl, wie die alten Indier dachten: der Jüngling kämpft, der Mann schafft, der Greis geht in den Wald, das heißt, er hört auf zu kämpfen und zu schaffen; er sieht nur noch zu. Er geht in die Beschaulichkeit. Ein weises Volk, diese alten Hindus! Der Arm nimmt ab und das Hirn nimmt zu; also lebe mit dem Hirn, wenn die Arme alt werden, lass’ deine Hand von der Welt und denke über sie nach, um sie zu begreifen! – Worüber lächeln Sie?« setzte er nach einer kleinen Stille hinzu.
Wittekind lüftete seinen Hut, wischte sich den Schweiß von der Stirn, und sagte:
»Verzeihen Sie! Ich lächelte nur, dass Sie schon ›in den Wald geh’n‹, wie Sie sagen —.«
»Nun, warum ich denn nicht? Zweiundsiebzig, Herr! – Ich hab’ mir das Leben um die Ohren geschlagen, kann ich Sie versichern; hab’ immer zuletzt Feierabend gemacht; hab’ toll und voll gelebt. Nun ist’s Abend worden. Also in den Wald geh’n. Es gibt keine weiseren Leute, sag’ ich Ihnen, als die alten Hindus … Warum stehen Sie still?«
Der Alte hatte bemerkt, dass er allein vorwärts rannte, hielt an und blickte zurück.
»Warum steh’n Sie still?« wiederholte er.
Wittekind lächelte wieder.
»Weil Sie – bei dieser Hitze – so gewaltige Schritte machen. Kurz, weil Sie, der Sie ›in den Wald geh’n‹ – weil Sie mir zu jung sind! —«
Einen Augenblick flog eine herzliche Heiterkeit über des Alten Gesicht. Plötzlich zog er aber die zerpflückten Brauen zusammen und stieß die eiserne Spitze seines Stocks mit solcher Gewalt zu Boden, dass sie in der trocknen, spröden Erde zitternd steckenblieb.
»Zum Teufel hinein!« dröhnte seine Bassstimme. »Das ist ja der Unsinn, dass wir nicht alt werden, wie es sich gehört; dass wir keine Hindus sondern unvernünftige Germanen sind! ›Gewaltige Schritte‹…Nun ja, ich kann keine Damenschritte machen. Ich bin ein Bergsteiger, und ein Wandersmann. Und das alte Mark in den Knochen – das ist wie der Saft in so ‘nem alten Eichbaum; wächst und steigt immer wieder nach. Wo bleibt da die Philosophie! —«
Mit einem komisch grimmigen Gesicht rief der Alte so laut, dass die Luft erbebte:
»Herr, ich bin manchen Tag noch wie ein junger Mensch!«
»Ist das ein Unglück?« fragte Wittekind, der zu lachen anfing.
»Herr, ich sage ja nicht, dass es ein Unglück ist! Aber dabei kommt man nicht zur Ruhe, zur Weisheit, zur Beschaulichkeit … Wir Germanen, mein’ ich! Seh’n Sie doch nur unsre Deutschen an; ein merkwürdiges Volk —« er begann zu lächeln und seinen Stock in der Erde hin und her zu drücken – »ein unvernünftiges, übersaftiges, ewig junges Volk! Wenn sie siebzig sind, so fangen sie von vorne an; so liefern sie erst ihr Stück Weltgeschichte ab! Der alte Blücher – da seh’n Sie’s – der alte Wilhelm – der alte Moltke; und so manches alte Haus, das mir nicht gleich einfällt. —«
Er schlug auf seinen Schenkel und auf seine Brust:
»Da geh’ einer in den Wald, mit solchen Muskeln – und mit so ‘nem dummen, affenjungen Herzen!«
»Nun, so geh’n Sie noch nicht«, sagte Wittekind.
Der Alte warf ihm einen Blick von der Seite zu, zog seinen Stab aus der Erde und schritt wieder weiter.
»Verehrter Herr«, sagte er im Gehen, den Stock leise schwingend, – »seh’n Sie, ich mag nicht mehr. Hab’ wohl zu viel erlebt. Das Leben ist ja eine gute Sache, aber ein Kinderspiel ist es nicht. Und dann – dieses Sterben! Rechts fällt einer, links fällt einer; all’ die alten Bekannten, die Freunde – Weib und Kind … Man marschiert immer weiter; endlich sieht man sich um und sieht lauter fremdes Volk. Für wen soll man schaffen? – Ja, wenn man gezwungen wird – durch das große Schicksal, wie diese Alten, von denen ich eben sprach – oder auch durch die Not … Beides trifft mich nicht. Mit dem großen Schicksal hab’ ich leider nichts zu schaffen. Gegen die Not schützt mich mein bisschen Hab und Gut. Na, da leb’ ich so hin; seh’ dem Weltlauf zu, denke mir das Meine – und bereite mich vor auf – —.«
Er brach ab. In seine Augen war ein tiefer Ernst, ein gesteigerter Glanz gekommen; es schien aber, dass er ihn verbergen wollte. Sie hatten, aus dem Wald hervortretend, eine freiere Stelle von großer und stimmungsvoller Einsamkeit erreicht: von der hohe Mauer des Untersberges senkten sich die waldigen Vorberge bis zu einer finsteren, schwarzgrauen Felsmasse herab, die man vielfach zerschlagen und zerrissen hatte, um den nutzbaren Stein zu brechen. Geformte und ungeformte Trümmer lagen überall umher; die schwärzliche Farbe des Gesteins machte das ganze Bild düster und ernst; nur ein paar rohe Holzhütten standen in der Nähe, Menschen sah man nicht. Der Alte blickte umher, zog die Stirn herunter, und seine Lippen drängten sich zusammen. Er schien in Erinnerungen zu versinken. Nach einer Weile legte er dem andern seine lange, schöngeformte, auffallend wohlerhaltene Hand leicht auf den Arm und sagte:
»Das ist der Veitl-Bruch. Wie man mit der Natur doch zusammenwächst, wenn man viel erlebt. Hier hab’ ich einmal – es ist gar nicht so lange her – einer jungen Dame gesagt, die ich recht gut kannte: ›Gib Acht, nimm den nicht. … Es wird dein Unglück: glaub mir’s…‹«
Er lächelte ein wenig und stieß einen kurzen Laut aus, durch den verhaltener Schmerz hindurchklang.
»Nun, natürlich hat sie mir nicht geglaubt! Und ich – — ich hab’ leider Recht behalten. – Ja, hier war’s! Das ist der Veitl-Bruch!«
Plötzlich winkte er, wie um sich loszureißen, seinem Begleiter stumm mit dem Kopf und ging mit seinen großen Schritten über die Steine weg, bis er auf einem kleinen Vorhügel stehenblieb. Über eine waldige Senkung hinweg tauchte hier in der Ferne, im leuchtenden Sonnenlicht, die Festung von Salzburg auf. Es war ein überraschender Anblick, wie ein Gruß aus einer andern, reizenden Welt in diese finstere Öde hinein. Die herrlichen Formen der Festung, auch in dieser Entfernung noch wirkend, wenn auch sonderbar zierlich, fast zum Spielzeug geworden, schimmerten in zartem Duft und zogen die Seele auf einmal wie an einem Faden ins ebene Land hinaus. Wittekind ward zu einem Ausruf der Überraschung und Bewunderung hingerissen, der den Alten ergötzte.
»Ja, ja!« sagte dieser. »Das ist unser Salzburg! Da liegt’s! – Die schönste von allen deutschen Städten; und ein wahres Wunder, wie sie daliegt in der abgestimmten Natur. Alles im großen Stil: der Fluss, die Ebene, das Hochgebirg’, die beiden Berge, in die sie sich hineinschmiegt. Da fehlt nur eins … Wissen Sie, was da fehlt?«
Wittekind sann und schwieg; der Alte rief aus:
»Ein See fehlt! Weiter nichts! – Und seh’n Sie, die Natur hätte nichts dagegen, so ein See wäre noch zu machen: da unten das flache Land zwischen Glanegg und Salzburg, grün und eben wie ein Billardtuch! Sie können’s von hier nicht seh’n – das war ja einmal ein See, und heißt noch das ›Moos‹ – oder ›Moor‹, wie ihr sagt – und z stäche man die Erdrinde wieder ab, so wäre das Wasser da! Herr, das gäb’ einen See – bis Leopoldskron und so weiter – zwischen dem Glanbach und dem Almkanal – der sich anseh’n ließe! Mehr als halb so groß wie der Mondsee oder der Wolfgangsee; und bei dieser Stadt und bei diesen Bergen; bis an die Wurzel unseres Untersbergs, Ihrer ›alten Liebe‹!«
Es war ein Feuer über den Alten gekommen, das nun wieder Wittekind ergötzte; die bronzenen Wangen fingen sacht an zu glühen, und der lange, weiße Bart, von der linken Hand ergriffen, stieg bis zu den Lippen hinauf.
»O ja«, murmelte Wittekind. »Wohl ein schöner Traum!«
»Geben Sie mir Macht und Geld«, rief der Alte aus, »und ich mache Ihnen Wahrheit aus dem Traum! – Seh’n Sie, das könnte mich noch wieder ins Leben zieh’n, verjüngen: wenn ich der Herzog von Salzburg wäre —, oder, wie er nun heißen soll – und könnte graben und graben, ein umgekehrter Faust, um Land zu Wasser zu machen – aber was für ein Wasser dann! Der ›Untersberger See‹. Da würden bald die Landhäuser aller Nationen an den Ufern stehen, um sich in dem See zu spiegeln und dies Paradies zu bevölkern; weiße Segel wie die Schmetterlinge; Wälder, Dörfer und Gärten; und die Salzburger Veste sähe in den See hinein – und der Untersberg. Und zuletzt würden die klugen Leute noch sagen: Der Saltner war gar nicht dumm, das Geld, das er da hineingegraben hat, das kommt auch wieder heraus. Der See trägt noch Zinsen. Und die ›dankbaren Salzburger‹ würden dem Saltner ein Denkmal bauen, nachdem sie im Anfang gesagt hätten: ›Der muss ins Narrenhaus‹, und ich – — ich wollte mich dann ganz zufrieden aufs Ohr legen und zu meinem Sterbekissen sagen: ich bin bereit, es war gut, ich hab’ doch gelebt!«
Wittekind war still. Er blickte von der Seite, in einer eigentümlichen Bewegung, auf den verjüngten Alten. Nach einer Weile fuhr dieser, wie zu sich kommend, fort, indem er ein Auge schloss und dazu lächelte:
»Bei dieser Gelegenheit hab’ ich mich Ihnen ja auch vorgestellt. Saltner. Ja, Saltner ist mein Name.«
»Ich heiße Wittekind«, entgegnete der andre.
»Ah! Der richtige Norddeutsche!«
»Zu dienen. Von der Ostsee.«
»Von der Ostsee! – Und ich aus dem richtigen Hochland: ein Tiroler Kind. Aber hier im Salzburger Land leb’ ich nun schon lange: fühl’ mich hier zu Haus. Dort hinter der Salzburger Festung seh’n Sie den langen Rücken, den Kapuzinerberg: an dessen Fuß steht mein Haus. Das schaut hierher, auf den Untersberg. Da bin ich noch in der Welt – und bin doch schon draußen. Hab’ zu viel erlebt … Geh’n wir weiter, wenn es Ihnen recht ist; dass wir nach Grödig kommen. Ja, da hinten am Kapuzinerberg, da träum’ ich noch zuweilen einen herzhaften Traum, wie den vom Salzburger oder Untersberger See; – sie enden auch alle so. Lebendig werden sie nicht. Vielleicht ist’s auch besser. Damit man desto mehr zurück und in sich geht, und sich vorbereitet … Kurz – geh’n wir weiter!«