Loe raamatut: «Fridolins heimliche Ehe»
Erstes Buch
I
Bester aller Leser, ich führe dich in ein Haus in Berlin, in der jetzigen Königgrätzer Straße, die zu jener Zeit noch Hirschelstraße hieß; über den Hof, in den dritten Stock; in ein Zimmer, das dir ohne meine Hilfe selber sagt, wes Geistes Kind darin wohnt. Wenn vier Wände voll Kupferstiche und Photographien nach den berühmtesten Gemälden der Welt, wenn einige Dutzend Gipsabgüsse nach der Antike, wenn Reliefs, Statuetten, Bildermappen, Schnitzwerke, künstlerische Geräte jeder Art, jedem Quadratzoll freien Raumes aufgenötigt, wenn die Unmöglichkeit, sich zwischen diesen tausend schönheitsfrohen Hindernissen gefahrlos hindurchzuwinden – wenn dies alles das Dasein eines Kunstfreundes verkündigen kann, so bist du dessen hier nach dem ersten Blick gewiß. Als ein Mensch von Geist – für den ich dich halte – siehst du nach dem zweiten Blick, daß dieser Kunstfreund eine auffallende Vorliebe für Rafaels frühere Madonnen und zugleich für Rembrandtsche Radierungen hat; und du erlaubst dir daraus zu schließen, daß vermutlich zwei Seelen in seiner Brust wohnen, von denen die eine nach der zarten Grazie des Südens, die andere nach dem derben Humor des Nordens zeigt. Trittst du alsdann auf den Balkon, der sehr liebe- und sinnvoll in einen kleinen Garten verwandelt ist, doch aus dessen Nachbarschaft alle Spätzchen und Tauben, sobald nur der Thürgriff sich regt, in wahrer Todesangst aufflattern, so sagst du dir nach diesem dritten Blick, daß die hier wohnende Doppelseele die Blumen zu lieben und die Vögel zu hassen scheint. Das Bild eines sonderbaren Menschen fängt sich dir zu gestalten an; und nach dem vierten Blick – auf den Gaskronleuchter, an dem schon jetzt, im hellen Zwielicht, alle Flammen brennen, und auf die Kerzen in allen Ecken umher – fügst du die Bemerkung hinzu, daß du offenbar zu einem leidenschaftlichen Lichtfreund gekommen bist. Wie liebebedürftig dieser Lichtfreund ist, erkennt dein fünfter Blick auf ein langes Gesims, auf dem – die künstlerische Anordnung dieser Wand mit unästhetischer Sentimentalität unterbrechend – eine lange Reihe kleiner Photographien in stillosen Rähmchen Front macht: würdige, aber unbedeutende Kreise und Greisinnen in Kleidern von verschollenem Schnitt; eben ins Weinen übergehende Mundwinkel von mißvergnügten Kindern, mit unendlich glücklichen und unschönen Müttern; ein paar reizende, behagliche Frauenköpfe in Häubchen (vermutlich, denkst du, hat er sie geliebt, und sie haben andere geheiratet) und endlich einige Gruppen junger Männer mit kühn geschlungenen Krawatten und, sozusagen, begeistertem Haarwuchs, und nicht ohne widmende Unterschriften: »Ihrem teuren Meister«, »Ihrem Fridolin«. Wer ist dieser Fridolin? Dein sechster Blick auf einen großen Kalender an der Thür scheint es dir zu verraten. In abwechselnden Farben, blau, rot und gelb, siehst du hier die Wochentage angezeichnet oder unterstrichen; die Sonntage sind frei. Zuweilen steht neben dem heiligen Blasius, oder der ehrenwerten Veronika, oder der frommen Agatha, mit kleinster Gelehrtenschrift geschrieben: Vier bis Fünf, oder: halb Sechs. Du hast keinen Zweifel mehr. Du stellst bei dir fest, daß dieser derb-zarte Kunstmensch, der die Ordnung, die Spielereien, die Menschen, das Licht und die Blumen liebt und die Vögel haßt, ein angestellter Lehrer der Kunst ist, den zärtliche, tändelnde Jünglinge Fridolin nennen, der seinen Liebhabereien und Idealen lebt, und dem sich zu nähern – wenn man kein Sperling ist – wohl seinen Reiz haben möchte.
Und so hast du dir einzig durch die Kraft deines Scharfsinns ein nicht mehr undeutliches Bild dieses Menschen gemacht, und mir die Anstrengung erspart, durch die der Erzähler dem Leser oft so furchtbar wird: dich durch eine langwierige und umständliche Aufklärung zu verwirren.
Indessen irrst du, mein Lieber, wenn du, durch diese Erfolge kühn gemacht, dir nun auch seine körperliche Erscheinung vorzustellen suchst, und aus der Summe seiner zarten Eigenschaften auf einen zierlichen, blaffen Menschen mit schmalen, bartlosen, gleichsam geräuschlos lächelnden Lippen und bescheiden zurückgezogenen Formen schließest. Du irrst, weil du noch nicht ahnst, was die Natur mit ihm vorhatte. Im Gegenteil! Die Uhr schlagt eben fünf, und er tritt ein: strahlend, ein Mann wie der Graf Egmont, mit dem schönsten Blondbart und einer großen, stilvollen Locke über der Stirn, einer machtvollen Nase, die der Geist der Schönheit noch im rechten Augenblick gehemmt und geformt hat, mit breiten Schultern und hochgewölbter Brust. Er sieht um sich her, seine große Nase scheint etwas Feindliches zu wittern, sie rümpft sich schmerzlich, und über ihr, in einer finsteren, gebieterischen Falte, erscheint ein drohender Zug, der sich über dem schön gekräuselten Knebelbart wiederholt. Er schüttelt sein schön wallendes Haar. Er stampft mit dem rechten Fuß. Er tritt zornig zur Klingel. Er klingelt so ungestüm, daß die Widerstandskraft der Klingelschnur dem Tapezier Ehre macht. Er zieht noch einmal. Er steht da und wartet. Was für ein Opfer seiner Erbitterung erwartet er? Es scheint gefährlich zu sein, diesem aufgebrachten Grafen Egmont gegenüber zu treten, – wenn man nicht mindestens der Herzog Alba ist. Wie kommt diese Licht- und Blumen-, diese Madonnenseele zu dieser Gestalt? Hat der weiseste aller Leser sich doch über ihr Inneres getäuscht? – Man muß warten, bis jemand eintritt. Frau Therese Ritter tritt ein.
Eine stattliche Dame mit einer stattlichen schneeweißen Haube, mit schon etwas graulichen Locken, doch einem merkwürdig blühenden, angenehmen, phlegmatischen Gesicht.
»Herr Professor haben geklingelt,« sagt sie mit einer ebenso angenehm phlegmatischen Stimme und blickt ihn sanft, doch ohne alle Unruhe an.
»Sie haben's also gemerkt!« erwidert er. »Ja, meine Liebe, ja, ich habe geklingelt! Ich habe geklingelt, weil Sie in Ihrem ganzen Leben nie thun, was ich will! Es sollte hier geräuchert werden. Warum ist nicht geräuchert? Sie wissen, daß ich diesen verfluchten Kohlengeruch verabscheue, daß er mich umbringt! Warum vernachlässigen Sie mich? Warum thun Sie nie, was ich will?«
»Ich vernachlässige Ihnen nicht,« erwidert die sanfte Dame (deren Verhältnis zu den Regeln der Grammatik kein ganz lauteres ist), »und ich thue immer, was Sie wollen; und ich werde Sie räuchern.«
»Ich werde Ihnen räuchern, wollten Sie sagen!« berichtigt er sie. »Ihnen! Dativ. Wem zum Nutzen, oder wem zum Schaden – der Dativ!«
»Also ich werde Ihnen räuchern, Herr Professor,« antwortet sie unerschüttert.
»Jetzt werden Sie räuchern, jetzt, wenn es zu spät ist! Wissen Sie nicht, daß ich dieses Lokal jetzt verlassen muß? Als Sie eben sagten: ›ich werde Ihnen räuchern‹, wußten Sie da, daß ich dieses Lokal jetzt verlassen muß, oder wußten Sie es nicht?«
»Ich weiß alles, Herr Professor,« erwiderte sie mit der angenehmsten Ruhe; »und ich werde räuchern, weil Sie doch wiederkommen.«
»Wie unendlich weise Sie sind, Frau Professorin! Frau Geheime Allwisserin! Woraus schließt Ihre Allweisheit, daß ich nach der Vorlesung nicht in irgend eine Gesellschaft, unter Menschen gehe, sondern zu Ihnen, in Ihre Kohlen-Stankosphäre zurückkomme?«
»Weil Sie in Ihre Krawatte nicht den großen, künstlichen Gesellschaftsknoten geschlungen haben, sondern den kleinen, fürs Haus; und weil Sie die graue Sammtweste angezogen haben – und in der kommen Sie immer wieder nach Hause.«
»Eine merkwürdige Weste! Eine Weste, in der man immer wieder nach Hause kommt! Dagegen die zwanzig anderen Westen – die sind anders. In diesen zwanzig andern bin ich nie wieder nach Hause gekommen!«
Die sanfte Frau Ritter errötete ein wenig; doch dann lächelte sie. »Ich hab's wohl dumm gesagt, aber Sie wissen doch, was ich meine, und ich hab' doch recht.«
»Diesen Tag müssen wir also rot anstreichen: ein Tag, an dem Sie recht hatten! Er ist denkwürdig in Ihrem Leben. Der zwanzigste März; vergessen Sie ihn nicht! Sie werden also räuchern, geistreichste aller Frauen, und ich werde zehn. Aber Sie erlauben mir wohl, daß ich diesen Gestank, mit dem Sie mein Zimmer beglückt haben, nicht als Andenken mitnehme. Ich hab meinen Zuhörern versprochen, sie mit den schönen Künsten, aber nicht, sie mit den gemeinen Dünsten bekannt zu machen!«
Der Professor, Graf Egmont, hatte vom nächsten Tisch ein Fläschchen mit Kölnischem Wasser genommen – auf jedem Tisch stand ein solches Fläschchen – und bespritzte damit seine graue Sammetweste, sein Hemd und die große Jupiterlocke über seiner Stirn.
»Der Herr Professor haben also nichts mehr zu befehlen?« fragte Frau Ritter, ohne eine Miene zu verziehen; als hätte sie nur erlebt, was sie alle Tage erlebte. Auf diese Frage trat er dicht vor sie hin, die Hände auf dem Rücken, streckte sein Gesicht so nahe gegen das ihre vor, daß er sie fast hätte küssen können, und sagte, jede Silbe einzeln betonend: »Nein! Sie können zehn!«
Sie ging. Auf ihren weichen Schuhen ging sie stumm und geräuschlos hinaus. Die Thür schloß sich leise. Das Unwetter war aus.
Der Professor blieb stehen und sah ihr nach. Zwischen seine Augenbrauen legten sich neue Falten; es schien ihm nicht ganz zu gefallen, daß das Unwetter schon aus war. Er trat an eine der Etageren, die das Zimmer verbauen halfen, nahm seinen Hut und hätte ihn beinahe aufgesetzt; doch zwei Schritte weiter setzte er ihn wieder aufs Klavier. Er sah nach der Klingelschnur, wie wenn er den unentschieden gebliebenen Kampf mit Frau Ritter erneuern wollte. Sein zweiter Blick fiel jedoch auf die Uhr; er nahm den Hut wieder auf. Dann trat er an die Thür, um sein Auge auf einen Zettel zu werfen, den er unter den großen Kalender genagelt hatte, mit folgender Inschrift:
»Fridoline! Ne quam immemor sis te philosophum esse.«
Zu deutsch:
»Fridolin! Vergiß nie, daß du ein Philosoph bist.«
»Te philosophum esse!« wiederholte er vor sich hin. Die Thür ging zurück; er glaubte Frau Ritters Gang wieder zu hören und zwang seinem Gesicht den Ausdruck philosophischer Ruhe auf. Indessen sein Ohr hatte sich getäuscht. Es erschienen zwar wieder ein paar geräuschlose Schuhe, aber es bewegte sich auf ihnen eine männliche Gestalt. Ein langer, graublasser Mensch in einem dunkelgrauen Schlafrock, mit graublondem Haar; die Schultern ebenso schmal und abfallend, wie die des Professors ins Wagerechte strebten; das lange Haar hinter die Ohren gestrichen, die mattgrauen, träumerischen Augen aus knochigen Höhlungen hervordämmernd. Dieser lange Mensch sagte kein Wort, sondern nickte dem andern nur zu; kam dann mit ein paar schwerfällig schleifenden Schritten heran und reichte ihm seine große Hand.
Der Professor nahm sie, ebenso stumm, und bückte sich dann, um ein ledernes Täschchen aufzuheben, das der Schlafrock bei diesen schaufelnden Bewegungen von der nächsten Etagere gerissen hatte.
»Habe ich wieder etwas —?« fragte der Lange und machte ein ängstliches Gesicht.
»Ja. Dieses Täschchen. Zum sechstenmal, teurer Bruder.«
»Wehe! – Zerbrochen?«
»Nein. Ledertaschen zerbrechen nicht.«
»Dieses unglückselige Zimmer! – Mußte das Täschchen da liegen?«
»Ja, es mußte.«
Der Lange betrachtete das Täschchen. Er lächelte. »Ich muß unmaßgeblich bemerken,« sagte er, »daß ich nicht begreife, wozu du das Täschchen brauchst.«
»Es gibt eine höhere Art, Dinge zu gebrauchen, mein lieber Philipp, als daß man sie auf die gemeine, tagtägliche Weise abnützt.«
»Ich kann nämlich nicht finden,« fuhr der Lange fort, »daß dieses Täschchen ein Herrentäschchen ist.«
»Nein, sondern ein Damentäschchen.«
»Und wozu brauchst du es also?«
»Ich hab' es um mich. Ich hab' es vor Augen. Dieweil es ein Andenken ist.«
»Ein Andenken!« wiederholte der Lange mit weicher werdender Stimme. Dann verstummte er. Seine Augen sahen träumend, gleichsam durch das Täschchen hindurch, in die Luft, ins Ferne. Sie zogen sich zusammen, wie um ein zu ihnen aussteigendes Gefühl zu unterdrücken. Zuletzt nahm er das Täschchen in die Hand und nickte ihm mit wehmütig langsamen Bewegungen zu, als wär' es ein Andenken, das ihn betreffe. Er wiegte es mit seinem langen Arm hin und her. Der Professor störte ihn nicht.
»Fridolin!« sagte er endlich, als dieser, den Hut auf dem Kopf, schon in die Thür getreten war, um zu gehn.
»Adieu, mein Sohn. Ich muß fort.« »Ja so, du mußt fort. Ich wollte dir noch etwas sagen.«
»Wenn ich wiederkomme!«
»Wenn du wiederkommst, dann sind auch deine jungen Leute, deine Leibschwaben, deine Kunstjünger da; dann kann ich nicht, wie Bruder zum Bruder, mit dir reden. Eine Minute, Fridolin! Hast du noch eine Minute?«
»Zwei hab' ich noch übrig,« erwiderte Fridolin und sah nach der Uhr.
»Ich hab' mir's wieder überlegt, Kunstbruder;« der Lange, indem er das sagte, suchte scherzhaft zu lächeln. »Ich bin nun ganz mit mir einig. Auf den Rest meines Urlaubs werde ich verzichten. Morgen früh werd' ich abreisen. Ich bin dir zur Last.«
»Was bist du?« – Fridolin trat unwillkürlich wieder ins Zimmer hinein, wie um besser zu hören. »Ein Hansnarr bist du!« setzte er dann gefaßter hinzu.
»Da ist zunächst Judica,« fuhr Bruder Philipp mit seiner etwas tonlosen Kanzelstimme ruhig fort, während er das Täschchen wieder auf und nieder wiegte. »Das Kind ist unterhaltend, sagst du; es erheitert dich, sagst du. Ich danke dir. Ja, es ist vielleicht ein unterhaltendes Kind. Aber es ist ein unerzogenes Kind – ein Kind, dem die Mutter fehlt«
Hier wurde er zunächst still; und ohne ihn zu sehen, hätte man schon an der Art seines Verstummens gehört, daß ein ungetrösteter Witwer gesprochen hatte.
»Nun, wir lassen ihr ja eine Erzieherin kommen, wenigstens ein Stück von einer Mutter,« entgegnete Fridolin.
»Da ist dann also zweitens die Erzieherin,« fing Bruder Philipp, den Faden seiner Logik fortspinnend, wieder an. »Wir kennen sie nicht; sie kann auch unterhaltend sein; sie kann das Gegenteil sein. Du bist der liebenswürdigste Verehrer der Weiblichkeit, wenn sie dir – Kopf und Herz etwas warm machen; aber sie sind dir zuwider wie die Spinnen, wenn sie dich langweilen. Soll ich mir vielleicht übermorgen schon sagen: die Erzieherin meiner Judica ist ihm zuwider wie eine Spinne, und ich hab' ihm diese Spinne in seine Schachtel gesetzt?«
»Bei alledem muß ich fort,« erwiderte Fridolin, der wieder auf die Uhr sah.
»Da bin dann also drittens ich,« fuhr der Bruder fort, der bei der Vertiefung in sein Thema keine Unterbrechung mehr hörte. »Ein morsches Stück Fleisch, dem sein bißchen Leben und Glück abhanden gekommen ist; eine traurige Ruine. Ganz und gar der Gegensatz zu dir. Ich rege dich durch den Gegensatz an, sagst du. Ich danke dir. Aber was zahlst du für diese Anregung, Fridolin? Du hast in deiner großen Junggesellenwohnung bequem gelebt wie ein Prinz; jetzt schläfst du in deinem Studierzimmer —«
»Im Schutz Apollos!« rief Fridolin dazwischen, den Zeigefinger auf den Apollo von Belvedere gerichtet, der, in der Ecke auf eine Säule gestellt, über dem Bett emporragte.
»Es war schon vordem immer nur die Frage, ob man in deinen Zimmern sich selbst, oder irgend einer Gipsfigur den Hals brechen werde; jetzt ist es mir rein unbegreiflich, daß wir nicht jeden Morgen und jeden Abend einen Schwerverwundeten hinaustragen. Und für was opferst du dich auf? Weil du mich ›retten‹ wolltest, wie du sagtest; weil du mich aus meinem verödeten kleinen Nest in andere Luft bringen wolltest; weil du mich zerstreuen und erheitern wolltest. Du wirst mich nicht retten, Fridolin. Ich bin noch jung, sagst du. Aber du wirst mich nicht zerstreuen und erheitern. Du wirst sehen, daß du mich weder zerstreuen, noch erheitern kannst; denn mir ist nicht zu helfen.«
»Ich werde dich noch sowohl zerstreuen, als auch erheitern; aber jetzt muß ich fort!«
»Denn da ist nun noch viertens meine unglückselige Neigung, alles ernsthaft zu nehmen, über alles zu disputieren, mich gegen jeden Widerspruch zu ereifern Du willst gehn? Gut, ich gehe mit.«
»So nimm deinen Hut!«
»Ich nehme meinen Hut —« (Er griff nach dem Klavier, nahm aber statt eines Hutes Fridolins rotes Fez in die Hand, blieb stehn und fuhr fort:) »Meine geradezu unüberwindliche Unart, aus Anhänglichkeit an meine Ueberzeugungen bockbeinig, ausfällig, sogar grob zu werden; eine Unart, von der d u mich leider am wenigsten kurieren kannst, weil deine Lebhaftigkeit, deine Hitze mich nur immer von neuem reizt —«
»Ein Viertel auf Sechs!« rief Fridolin aus und trat ins andere Zimmer, um nun endlich zu gehn.
»Wie leider wieder heute nachmittag,« fuhr Philipp fort, »als ich mich fortreißen ließ, unbrüderlicherweise heftig zu werden; weil du in diesem unseligen Kampf des Staats gegen die Kirche dich des geradezu gewaltthätigen Staats mit einem Ungestüm annahmst —«
»Des gewaltthätigen Staats?« rief Fridolin zurück. »Mein teurer Philippus, gegen dieses Wort könnt' ich dir Dinge sagen – Gegenbeweise – wenn ich nicht fort müßte —«
»Was könntest du mir noch sagen, das ich nicht heute nachmittag schon Punkt für Punkt widerlegt hätte? Womit wolltest du den höchst berechtigten Unwillen entkräften, mit dem ein Mann von Rechtsgefühl und Gewissen, ein Mann von heiligen und sittlichen Ueberzeugungen sich gegen diese Selbstüberhebung der weltlichen Gewalt empören muß? Gegen diese —«
»Selbstüberhebung? Der weltlichen Gewalt?« – Fridolin kam einen Schritt zurück. »Selbstüberhebung? Wir? Der Staat? Unser toleranter, menschlicher, gemäßigter, für alle sorgender Staat? – Aber ihr geistlichen Menschen, ihr kennt ja weder ihn, noch euch selbst; ihr wollt blind sein und seid es; euch ist nicht zu helfen!«
»Uns ist nicht zu helfen? Warum nicht? Aus welchem Grunde wäre uns nicht zu helfen? Weil wir die oberflächliche Altklugheit, die Naseweisheit, die Wichtigthuerei deines edlen Staats« (Fridolin war drei Schritte fortgegangen, blieb nun wieder stehn) »nicht imponierend finden, weil wir ein höheres Ideal haben, darum also ist uns nicht zu helfen? Weil wir das Kommandieren so eines naseweifen Staats in die Kirche hinein unerträglich finden —«
»In welche Kirche? Was geht diese Kirche dich an? Wenn du die Bäffchen eines protestantischen Pastors trägst, mußt du dich dann des Papstes und seiner Unfehlbarkeit annehmen? – Alle Teufel, ich muß fort!« Er war an der äußeren Thür.
Indessen Philipp kam ihm mit drei großen, langgezogenen Schritten ins andere Zimmer nach.
»Ich nehme mich der Unfehlbarkeit an? Wie kannst du sagen, daß ich mich der Unfehlbarkeit annehme? Ich verwerfe den Papst und seine Unfehlbarkeit; ich kenne ihn nicht, ich brauche ihn nicht, ich will ihn nicht; wie kannst du dann so leichtsinnig, so frivol sein, zu sagen, ich nehme mich seiner an?« (Fridolin kam zurück, schüttelte zornig seine Jupiterlocke gegen des Bruders hochgerötetes Gesicht und wollte reden; jedoch Philipp fuhr fort:) »Nein, ich nehme mich weder des Papstes noch seiner Unfehlbarkeit an; aber der Religion! Was will euer Staat? Er will die Menschen erziehen, er allein, ohne Religion! Kindisch! Unmöglich! Ihr mögt die Welt philosophisch zusammenflicken und chemisch zersetzen, ihr mögt euch euer Geld durch Aktienschacher erschwindeln und an der Börse verspielen – aber ihr seid und bleibt nur eine höhere Affenart, ohne Religion!«
»Ich danke dir!« entgegnete Fridolin, der nun endlich zu Worte kam, mit gereizter Stimme. »Also wenn ich in den wahren Spiegel deiner Seele blicke, so sehe ich mich da nur als einen höheren Affen! Weil ich den Unsinn bekämpfe, den die Feinde deiner eigenen Kirche zum Weltgesetz machen wollen, bin ich, dein Bruder, dir nur ein höherer Affe!«
»Du mir nur ein höherer Affe? hab' ich dich gemeint? Wie kannst du mir meine Worte so im Munde verdrehen —«
»Ich verdrehe dir deine Worte? Hast du uns nicht alle miteinander höhere Affen genannt —«
»Ohne Religion!«
»Ohne welche Religion? Ohne eure entartete, handwerksmäßige, eingebildete, in ihrem eigenen Morast ertrunkene Religion! Behaltet sie für euch, eure Religion! Was thut ihr damit? Ihr vertreibt die Religion mit eurer Religion!«
»Wir vertreiben die Religion mit unserer Religion? Gott im Himmel, und solchen Unsinn höre ich mit an!«
»Solchen Unsinn und das sagst du mir?«
»Nun, wem denn anders, als dir? Hat denn ein anderer ihn gesprochen, als du? – Wir vertreiben die Religion mit unserer Religion! Ich nehme mich des Papstes und seiner Unfehlbarkeit an! Uns ist nicht zu helfen! Wir wollen blind sein und sind es! – Und das alles, das alles höre ich geduldig mit an!«
»Du hörst es geduldig mit an? Auf jedes meiner Worte mit Beleidigungen antworten, das nennst du geduldig mit anhören? Nun so bitte ich Gott, mich nie erleben zu lassen, daß du etwas ungeduldig mit anhörst! – Ich sage dir nur noch eins:« (er wandte sich zum siebentenmal zur Thür, und drehte sich an der Thür zum siebentenmal herum) »Menschen wie mich vertreibt ihr durch eure Religion aus der Religion! Ich habe meinen Gott, ich brauche meinen Gott, ich weiß, daß ich nur ein unbedeutender, kleiner Kunstprofessor bin gegen meinen Gott; aber euer Gott, dem ihr euren schwarzen Kleidrock angezogen, dem ihr eure Priestermütze aufgesetzt und euer unduldsames Herz eingesetzt habt, der ist mir für meinen Gott« (er suchte das Wort) – »für meinen Gott zu dumm! Und ihr taugt zum Verfluchen und zum Whistspielen, aber nicht zum Erziehen der Menschheit!«
Diese Rede griff dem Pastor Philipp zu hart ans Herz. Er verwickelte seine großen Hände vor Aufregung ineinander. Er atmete schwer. Er keuchte endlich hervor: »Und ich will glauben, Fridolin – ich will glauben, zu deiner Ehre, daß du dies alles in einem Anfall von Irrsinn gesprochen hast!«
In diesem Augenblick schlug die Uhr auf der Kommode, einer alten Rokokokommode, halb Sechs.
»Heiliger Gott! Halb Sechs! Die Vorlesung!« – Fridolin stand wie betäubt. Er stand da und horchte, als müsse die Uhr noch einmal und anders schlagen. Dann riß er die Thür zum Vorplatz auf und stürmte hinaus.
Philipp starrte ihm nach. Auf einmal war er tief erschrocken; noch ohne zu wissen, warum. Er hörte die Treppenthür auffliegen und wieder zufallen. Dann ward es still. Dann glaubte er noch ein paar laute Worte, einen Fluch oder etwas Aehnliches zu vernehmen; auch das verhallte. Plötzliche tiefe Stille nach dem lauten Streit. Er sah im Zimmer umher, sonderbar verwirrt. Sein Blick fiel in einen alten Spiegel mit Figurenschnitzwerk an der Wand, der ihm seine eigene Gestalt zeigte. Wie seltsam befremdet blickte er auf dieses seltsam befremdet auf ihn blickende, gerötete, dann nach und nach erblassende Gesicht. Die glühenden Augen, die bleichen, bartlosen Lippen, die lange Gestalt im Schlafrock verstörten ihn sehr. Endlich fuhr er zusammen, als plötzlich eine schnarrende Stimme hinter ihm sprach:
»Fridoline! Ne quam immemor sis te philosophum esse.«
»Wer spricht?« fragte er unwillkürlich.
»Wer spricht?« wiederholte die Stimme. Darauf folgte ein lautes, sonderbares Lachen.
Philipp erkannte nun erst den philosophischen Ratgeber, der ihn aus seinem Käfig in der Ecke angerufen: den rotschwänzigen Papagei, den einzigen Freund Fridolins im ganzen Vogelgeschlecht, den »außerordentlichen Professor«, wie Fridolins Kunstjünger ihn nannten. Er saß auf seiner vergoldeten Stange und wandte dem Pastor den Kopf von der Seite zu; sein kluges, rundes Auge schien zu sagen, daß er sich nach Gebühr über ihn lustig mache.
Philipp, statt zu lachen seiner melancholischen Seele war in diesem Augenblick auch der Gedanke unmöglich, daß man lachen könnte – warf auf den unheimlichen Vogel einen verwirrten Blick; trat dann, beinahe hastig, durch die Thür und kehrte in Fridolins Arbeitszimmer zurück. Da stand er. Er hob das lederne Täschchen auf, das er abermals von der Etagere herabgerissen hatte. Indem er es in der Hand hielt, fiel ihm wieder ein, warum er vorhin hergekommen war. Er war gekommen, seinem brüderlichen Herzen Luft zu machen, einmal alles zu sagen, was er über Fridolins Seelengüte, Opferfreudigkeit, unermüdliche Teilnahme und Fürsorge, über seine eigene Dankbarkeit und stille Rührung auf der Seele hatte; und zugleich dem Bruder die Beleidigungen abzubitten, die ihm heute nachmittag im Eifer des Streits entschlüpft waren. Dies war meine Absicht! dachte er und seufzte. »Ich hab' sie nicht erreicht!« setzte er laut hinzu.
Der Papagei nebenan hatte dieses Selbstbekenntnis, so gedämpft es gesprochen war, offenbar gehört; denn in seiner sonderbar ironisch klingenden Sprechweise, wie zum Spott, wiederholte er: »Ich hab' sie nicht erreicht!«
Philipp ging aufgebracht zur Thür und machte sie zu.
Mit elegisch langsamen Bewegungen wand er sich dann zwischen Flügel und Stehpult, Bücherschrank und Bildermappengestell, Lehnstühlen und Gueridons hindurch, bis er den geschnitzten Renaissancesessel vor dem großen Schreibtisch erreicht hatte; setzte sich, nahm einen Bogen Briefpapier (kleines Format, mit Fridolins Monogramm), seufzte, nahm einen aus Elfenbein geschnitzten Federstiel zur Hand und sing an zu schreiben:
»Mein lieber Bruder! Ich habe nun also leider aufs neue bewiesen, daß ich Dir zur Last, daß ich in Deinem Hause überflüssig bin. Diesen Beweis, glaube ich, habe ich geliefert. Wenn die Existenz eines verfinsterten, trübsinnigen, durch das Unglück leider nicht veredelten Menschen, der nicht einmal die Gabe hat, in der Form liebenswürdig zu sein, und der durch seine besprochene unglückselige Neigung, sich gegen jeden Widerspruch zu ereifern, allemal zu unbrüderlicher Heftigkeit sich fortreißen läßt, – wenn die Existenz eines solchen Menschen überflüssig ist, so brauchen wir nun wohl jenen Satz nicht mehr zu beweisen. Morgen früh also verlasse ich mit Judica – der die Vorsehung vermutlich aus höheren Erziehungsabsichten so einen Vater geschenkt hat! – Dein gastliches Haus, und kehre mit dem Rest meines Urlaubs in mein ›Nest‹ zurück. Gott lohne Dir – besser, als ich es konnte – all Deine Güte und Liebe; wenn er Dir auch eines Tages durch die Fügung der Weltgeschicke beweisen wird, daß ich recht hatte, und daß die Selbstüberhebung des ideallosen, gewaltthätigen Staats am Felsen der Religion zerscheitern wird.
Dein unglücklicher BruderPhilipp.«
Er hatte geschrieben und seufzte; dann faltete er den Bogen, siegelte, schrieb die Aufschrift: »An Fridolin«, und wand sich auf dem Wege, auf dem er gekommen war, wieder hinaus.