Still und starr ruht die Spree

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Still und starr ruht die Spree

Berliner Weihnachtskrimis

edition karo Berlin 2011

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet unter www.dnb.ddb.de abrufbar. Still und starr ruht die Spree Berliner Weihnachtskrimis karo weihnachtskrimis, band 1

1. Digitale Auflage 2012 Zeilenwert GmbH

2. überarbeitete Auflage

© 2011 edition karo

im Verlag Josefine Rosalski, Berlin

1. Auflage 2005

© edition karo

im Verlag Josefine Rosalski, Berlin

www.edition-karo.de Alle Rechte vorbehalten Umschlaggestaltung: tiff.any GmbH, Berlin Fotos: © 2009 svengine, © 2009 Zoran Kolundzija, © 2008 marc wragg ISBN 9783937881911

»Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer

ich nicht bedarf.«

Sokrates (um 470 – 399 v. Chr.)

Griechischer Philosoph

Inhalt

Cover

Titel

Impressum

Vorwort

An Weihnachten gehört der Mann in die Familie Christian Bartel

Heiligabend beim Abfischer Michael von Swiontek

Der Gast Tanja Dückers

Die Stimme des brodelnden Blutes Brigitte Hähnel

Stille Nacht in der Trommel Albrecht Piper

Lores Luder Petra Nouns

Santas Palace Birgit Jochens

Still ruht der See Barbara Gantenbein

Weihnachtsleichen Jiri Polak

Rotkohl aus dem Glas Britt Reißmann

Hummer Thermidor Nora Lachmann

Ein für alle Mal Petra Miersch

Blonder Emir Barbara Ahrens

Eisdielenmann Tom Ines

Der Zahnarzt Viktoria Korb

Die Autorinnen und Autoren

weitere Werke

Vorwort

Für spannende Lektüre unterm Weihnachtsbaum sorgen in diesem Band 15 phantasievolle Weihnachtskrimis von überaus begabten Autorinnen und Autoren.

Vielfältige Gelüste, darunter nicht selten mörderische, lassen sich wunderbar verbergen in Häusern voll weihnachtlichem Prunk und in Stadtvierteln mit mehr als zweifelhaftem Ruf.

Die verheißungsvoll in Rotgold geschmückte Feinschmeckeretage des KaDeWe zeigt sich als unheilvoller Treffpunkt, das Klärwerk Spandau ist wahrlich keine feierliche gute Stube, und in der Akademie der Wissenschaften nimmt die Liebe zwischen bunten Reagenzgläsern einen schlimmen Verlauf.

In den Häuserschluchten der Stadt mit ihren braven Familien herrscht in der Tat alles andere als festliche Verzückung.

Viel Vergnügen bei Grusel und Grauen.

Herzlichst

Josefine Rosalski

Herausgeberin

Christian Bartel

An Weihnachten gehört der Mann in die Familie

Ich weiß nicht, ob er

seiner Frau auch Tieraugen macht.

Hanuman geht an Weihnachten in den Puff.

Hanuman heißt natürlich nicht so, sondern Kroll, wie die Oper. Aber er soll Hanuman heißen, weil, wenn ich ihn Kroll nenne, merkt doch jeder, dass ich von dem Kroll rede, der mein Nachbar ist. Soll aber vielleicht doch jeder wissen, wer Hanuman ist. Der feine Herr Nachbar. Hanuman ist eigentlich ein Affengott, das passt gut zu Kroll, obwohl ein Frettchengott besser gewesen wäre, aber den gibt es nicht. Nicht einmal in Indien.

Hanuman geht also an Weihnachten in den Puff. Aber erst nach der Bescherung.

Vorher sitzt er mit seiner Frau am Tisch und sie essen eine Gans mit Rotkraut und Knödeln.

Die Gans hat Hanumans Bruder am Tag zuvor gebracht, da war sie schon tot, die Frau hat sie gerupft und den nackten Vogel außen auf das Fensterbrett gelegt, unter einen Drahtkäfig allerdings, weil sonst die anderen Vögel kommen und picken.

Da liegt sie dann auf dem Rücken und streckt die Beine hoch. Das Licht der Laterne überzieht sie mit einem blauen Tiefkühlschein, und wenn die Laterne im Wind quietscht, laufen die Schatten des Drahtgitters mit, malen verschiedene Figuren auf die Gans, Rechtecke und Trapeze. Das gefällt mir.

Im letzten Jahr habe ich den Käfig trotzdem heruntergeworfen, mit einem langen Stock, weil ich sehen wollte, ob die Vögel wirklich kommen. Die Gans war immerhin auch mal ein Vogel, und Kannibalismus interessiert mich. Die anderen Vögel haben die Gans übel zugerichtet, ihnen war die Ähnlichkeit ihrer Anatomie piepegal, ganz aufgeregt haben sie der Gans die Brust zerhackt, am Ende waren nur noch Beine und Flügel übrig, zusammengehalten von labbriger Haut. An dem Weihnachten gab es Braten bei Hanuman, aber er ist trotzdem danach in den Puff gegangen. Daran liegt es also nicht.

Dieses Jahr hat Hanuman seiner Frau einen Füllfederhalter geschenkt, in Gold, den hat sie lange angeschaut, vielleicht, weil ihr Name eingraviert war, dann hat sie Hanuman umarmt, ist dabei aber ganz ernst geblieben, als ob die Situation das erforderte ein stilles, ernstes Glücksgesicht.

Hanuman selber hat von seiner Frau gemusterte Seidentücher bekommen, zum Einstecken in den Mantelkragen. Er hat gelacht, seiner Frau mit den Tüchern wie zum Abschied gewinkt und sie dann umarmt. Sie hat gelächelt, und dann haben sie sich sogar geküsst. Die Frau ist groß und dunkelhaarig, einen halben Kopf größer als Hanuman, der wirklich aussieht wie ein schmaler, sehniger Affe mit seinem langen Oberkörper und den tief liegenden Augen. Wenn ich ihn grüße, blickt er auf, sagt auch etwas und lächelt, aber es ist nur sein Mund, der mit mir spricht. Die Augen blicken mich an und bleiben stumm und leer, wie die der Tiere im Zoo, weil die in die falsche Welt blicken. Pech gehabt.

Hanuman küsst seine Frau mit der Zunge und geht gleich in den Puff.

Ich weiß nicht, ob er seiner Frau auch Tieraugen macht. Augen kann ich nicht erkennen, von hier aus, und die Frau habe ich noch nie außerhalb der Wohnung gesehen. Ich stelle mir vor, dass sie beide außerhalb der Wohnung ihre Tieraugen machen und sie dann zu Hause ausknipsen, weil sie auch miteinander schlafen und sich dabei nicht weltfern und leer anstarren können. Das geht doch nicht, schließlich machen sie dabei das Licht nicht aus.

Sie schlafen miteinander und haben schlechte Vorhänge, dünne gelbe Stoffbahnen mit kleinen, dunkleren Knötchen darin, die lassen sich in der Mitte nicht zuziehen, so dass ein Spalt bleibt, eine Fleischmitte und daneben zwei Schattenspiele.

Heute geht die Frau allein ins Bett. Vorher tanzen sie aber noch, die Frau legt eine Schallplatte auf und Hanuman schiebt sie durch das Zimmer, dann schiebt sie ihn zurück. Die Köpfe haben sie zusammengesteckt, Hanuman reckt sich, um seinen Unterkiefer der Frau auf die Schulter zu legen, sie drückt ihm dafür das Kinn in den Nacken. Es geht hin und her, ein großes Tier, das nicht weiß, wohin mit sich.

Hanuman küsst seine Frau noch auf die Wange und zieht den Mantel an, winkt noch einmal mit einem der neuen Tücher und steckt es sich in den Kragen, dann setzt er den Hut auf und geht zur Wohnungstür.

Ich bin aber schneller als er, stelle mich auf den Hof und rauche.

Zitsche steht auch da, böse funkelt er die Sterne an. Die Sterne bleiben aber standhaft, wo sie sind.

»Froh’s Fest!«, ranzt Zitsche.

»Jawoll, Herr Zitsche!« Schließlich ist er der Hauswart.

Hanuman kommt auf uns zu und wünscht ein frohes Fest, Augen wie erloschene Kohlenstücke. Zitsche grunzt, ich nicke.

»Kroll geht in’n Puff.«, sage ich, als er vorbei ist, weil Zitsche nicht weiß, dass ich ihn Hanuman nenne.

»An Weihnachten gehört der Mann in die Familie.«

»’woll, Herr Zitsche!«

Zitsche geht zurück in seine Familie, wo er hingehört. Er schwankt und regt sich über Hanuman auf. »Starkes Stück«, mault er, »die Frau allein zu Hause am Heilichabend.«

 

Zitsche hustet und spuckt aus. Er ist glücklich, weil ich ihm das mit Hanuman erzählt habe.

Manchmal lässt er mir die Miete dann etwas nach.

»… was schämen.« höre ich noch, dann ist Zitsche weg, bollert ein bisschen an der Wohnungstür herum und bekommt sie dann doch auf.

Ich gehe hoch in meine Wohnung und ziehe den Schlafanzug an. Will einschlafen, kann aber nicht, weil ich immer an Hanuman denken muss und an seine Frau. Die große dunkelhaarige Frau vom Affengott. Schöne Frau.

Das Licht geht an bei Hanumans Frau. Sie steht auf, geht durchs Schlafzimmer, durchs Wohnzimmer, hin zur Wohnungstür. Ich kann nichts sehen zuerst, dann doch. Es kommt jemand herein. Zitsche steht im Wohnzimmer. Er hat Schnaps in der Hand, eine ganze Flasche, und versucht ein nettes Gesicht zu machen. Hanumans Frau glaubt ihm das Gesicht aber nicht, sie schaut suchend aus dem Fenster. Er redet auf sie ein, sie sagt aber: Nein. Will keinen Schnaps.

Zitsche redet trotzdem weiter, die Frau schlägt die Hände vors Gesicht.

Hauswart kommt näher, Frau weicht zurück: Wieder Tanz durchs Zimmer, einmal herum, dann schneller in die andere Richtung. Zitsche glaubt sich das Nettsein jetzt selber nicht mehr und haut der Frau eine.

Hanumans Frau geht zu Boden, Zitsche hinterher. Die Brüstung des Fensters ist zu hoch, ich kann sie nicht mehr sehen. Muss was tun. Ich rufe bei Hanuman an, aber es hebt keiner ab. Natürlich nicht. Ich sehe nur die Glatze von Zitsche, schweißbedeckt hinter dem Fensterbrett.

Mond geht auf, Mond geht unter.

Die Frau kann sich losmachen, rappelt sich auf. Dem Zitsche die Flasche über den Kopf, der war betrunken und nicht schnell genug. Die Flasche geht kaputt, blutroter Vollmond. Scherben. Der Hauswart taumelt, stützt sich am Fensterkreuz ab und glotzt in meine Richtung. Er sieht mich, versteht aber nichts mehr. Dann fällt er um.

Licht geht an bei den Nachbarn, weil Hanumans Frau jetzt schreit, dass die Scheiben klirren.

Nachbarn rufen die Polizei, Männer tragen Zitsche weg. Tuch drüber.

Hanuman kommt endlich zurück.

Ich ziehe den Bademantel an und gehe auch rüber. Die Frau weint und zittert.

Alle Nachbarn sind da. Ich sage: »Frohes Fest!«, aber keiner gibt Antwort.

Hanuman sagt dem Polizisten, er wäre spazieren gewesen und zum Friedhof.

»An Weihnachten gehört der Mann in die Familie«, sagt der Polizist.

Michael von Swiontek

Heiligabend beim Abfischer

»Keine Ahnung, wo der

nu herkommt. Sieht nich jut

aus für den, der drinne war.«

Auf dem Wege hierher war mir schon klar, dass unser Besuch nicht die beste Idee gewesen war. Den Spandauer Damm nach Westen, links oben die Lichter vom U-Bahnhof Ruhleben. Einladend wie ein gemütliches Hotel. Eine düstere Unterführung rechts: Klärwerkstraße. Jetzt eine Schlittenfahrt durch jungfräulichen Schnee im Bayrischen Wald, kam mir in den Sinn. Doch das hier?!

Freiheit. Wie kann man eine Straße an der Kläranlage Freiheit nennen. Vielleicht war Befreiung gemeint. Ich hatte mir immer vorgestellt, die Luft nahe einem solchen Betrieb röche ähnlich einer schlecht gelüfteten Toilette. Doch hier roch es nicht nach Bedürfnissen und Befreiungen, großen, kleinen, gemeinsamen; hier hing ein alles durchtränkender, verweslicher Dunst in der Luft. Auf dem roten Backstein-Kubus des Kontrollgebäudes leuchteten einige Kerzen an einer zerrupften Fichte.

Unser Adventsbesuch durchtränkt von der Frohen Botschaft zu Heiligabend am späten Nachmittag im Klärwerk beim Kontrolleur und Abfischer Boglund. Abfischer? Was ist ein Abfischer?

Jedes Jahr vor Weihnachten erschien in der Zeitung der rührselige Artikel mit der Aufforderung, irgendwelche Leute an Heiligabend am Arbeitsplatz zu beschenken, die gerade dann Dienst haben. Ich finds ja blöd, diesen Appell zur temporären Menschenfreundlichkeit, aber Günter fällt so spätestens am dritten Advent in eine humanitäre Infektion, es ist wie eine Art Wintergrippe, man kann darauf warten. Und dann geraten wir auf solche Pfade wie jetzt: Klärwerkstraße!

Mir schwante schon das Kommende, als ich in der Morgenpost die Aufforderung zur tätigen Menschenliebe las.

Hier waren wir nun. Klärwerk Ruhleben. Machen Sie doch mal einen Kurzbesuch bei den treuen Diensthabenden, die Heiligabend an ihrem Arbeitsplatz feiern müssen!

Der Kontrolleur und Abfischer Daniel Boglund. Er saß im Kontrollraum mit Blick auf das weite Areal rechteckiger und runder Betonbecken, die man mehr ahnte als erblicken konnte. Es leuchteten nur wenige Industrielampen.

Jawohl, er hatte mit einem Besuch heute gerechnet, er wusste von dem Artikel in der Morgenpost. Ja klar, selbstverständlich freute er sich, dass er heute Besuch bekam. Günter schaute zu mir rüber, wir waren beide überzeugt, dass Boglund keinen Wert auf unsere Gesellschaft legte.Egal! Voller missionarischer Weihnachtsfreuden-Verbreitung packten wir aus: Leckereien für einen bunten Teller, geschmückter Tannenzweig, rote Kerze, angezündet, in die Hände geklatscht: »Fröhliche Weihnachten!«

Leicht machte er es uns nicht, aber er nickte wenigstens ein grämliches Dankeschön, und wir kamen uns völlig fehl am Platze vor. Welch ein trübseliger Abend! Boglund, mürrisch, in sich zurückgezogen, dem Rentenalter nahe, saß nur so da. Schwarze Schiffermütze, darunter ein finsterer, etwas abwesender Blick. Mich zog es heim zu Lichterglanz und Weihnachtsoratorium. Aber Günter typisch gab nicht so schnell auf. Was wohl ‚Abfischer‘ bedeute, fragte er. Der Beschenkte, plötzlich munterer geworden, sagte: »Kann ich Ihnen zeigen. Kommse mal mit!«

Wir folgten ihm ins Freie. Nicht weit von uns schwebten adventsrote Lichterkränze im kalten Dunsthauch des Winterabends: die Flugwarnlichter an den Schloten des Ernst-Reuter-Kraftwerks. Neben dem Gebäude hier gluckste in einem riesigen Rundbecken ein schwarzer See. Eine Strömung ließ das Gewässer ab und zu aufschwellen. Man sah es in der Dämmerung nur, weil sich ein Lampenlicht in den kräuselnden Wellen spiegelte. Der Gestank war hier durchdringend. Ein Laufgang mit Geländer war undeutlich zu erkennen, er führte wie ein Durchmesser über die Mitte des Rundbeckens.

»Da oben«, deutete Boglund, »da stehe ich. Die großen Pumpen die sehn Se nicht die pumpen det Abwasser direkt hier aus dem Absetzbecken in die Faultürme. Det gibt Bewegung, da kommt allet Mögliche hoch, wat leicht is. Da oben steh ich mit nem Netzkescher und fische den Dreck ab.«

Nun sah ich, dass der Laufgang über das Absetzbecken hinaus zu einem genau so großen Rundbecken dahinter führte. »Und da drüben?«, zeigte ich.

»Da brauch ich nich fischen«, sagte Boglund, »det is der Vorfluter. Da is allet sauber. Hier is Abwasser, Haushalt, Spülicht, Klosetts, öffentlichet Bedürfnis undsoweita, das ballern die Pumpen in die Faultürme, und danach, im Vorfluter, is allet sauber.« »Drüben«, sagte er und zeigte unbestimmt irgendwohin in die Dunkelheit. »Drüben is der Westteil vom Klärwerk. Allet nagelneu und proper. Die klären mit Belebungsbecken. Neumodischer Kram, völlig nutzlos. Ich hab hier im alten Teil noch drei Faultürme. Det is der wahre Johnny! Da wird det Faulgas aufjefangen und gleich rüber in’t Heizkraftwerk Reuter. Die machen Strom draus. Det bringt doch wat! Wenn Se aufem Klo sitzen und Licht brenn’ haben, isses vielleicht vom Faulturm zwo. Und wasse abliefern, wenn Se da aufem Klo sitzen, wird wieder zu Strom. Is’n Kreislauf, sare ich. Det Leben is’n Kreislauf. Je mehr jegessen wird, desto mehr Strom kriegen wa.Museal.« Er lachte böse auf. »Museal is det hier, habense jesacht, völlig veraltet. Aber hier könnse mit dem Faulgas noch wat anfangen. Drüben nich, da isset wech.«

Abfischer Boglund. Irgendwie wirkte er groß in seiner Düsternis, und umschwebt von dem süßlich-leimigen Fäkalgeruch, der alles durchdrang. »Ja, det muss sein!«, sagte er. Jetzt wurde er sogar gesprächig. »Dienst zu Weihnachten oder sonst wann. Solln die Leute nich mehr pullern und naja? Jänsebraten und allet, und denn nich aufs Klo? Nein, det muss schon sein. Wie’n Soldat auf Posten, jederzeit bereit, auch zu die Feiertage, wissense.«

»Und Sie hier ganz allein?«, fragte Günter.

»Bin ich jewohnt. Läuft ja allet automatisch bei mir hier im alten Teil. Der Pegelmesser gibt Kontakt und die Pumpen brummen los. Kommt höchstens mal’n Inspektor oder eine vom Labor. Sonst nischt. Keine Besucher oder so. Is ja auch normalerweise verboten. Nee, doch.« Er stippte mit einem Finger den Mützenschirm höher. »Silvester, letztet Jahr. Kommt doch so’n Schock junge Kerle mit ’nem Mächen. Richtig krawallig, schon wat in der Birne, mit Hallo und Tralla. Sind wohl übern Zaun jeklettert. Na, die unten rumkrakeelt und rauf uff den Laufgang. Is ja nich schlimm, is überall Jeländer rum. Die janze Korona im Scheinwerferlicht bis ans Ende, da wo der Vorfluter is. Ich wundere mich, det se so stille sind, da seh ich, se pinkeln alle von oben in den Vorfluter. Und det Mächen daneben, und dann pinkelt se auch. In den Vorfluter! Det is nich in Ordnung, det is sauberet Wasser. Det tut man nich! Denn habense mich jesehn. Jegröle und so. Na, ich bin zurück hier ins Büro, und denn warn se auch weg. Schweinebande! In den Vorfluter pinkelt man nich! Naja, Silvester eben.« Er fuhr sich mit der Hand über die Stirn. »Aber det Mächen. Nach einer Woche war se abends wieder da. Oben auf der Kontrollbrücke. Det weiße Jesicht. Sie guckte runter, ob ich se auch sehe. Ich den Scheinwerfer hier unten an, und denn zog se die Hose runter und pinkelte wieder in den Vorfluter. Und det so fast jede Woche.«

»Was denn, das Mädchen kam regelmäßig hierher, um ihr Geschäft zu erledigen?«, fragte ich.

»Sie kam wegen meiner«, sagte Boglund hochtrabend und feierlich. Es klang wie einstudiert. »Ich stand unten und peilte rauf, und sie auf der Kontrollbrücke, und wenn ich hier den Scheinwerfer anstellte, ging se zum Vorfluter und pinkelte rein.«

Günter guckte mich an, ich guckte Günter an.

»Wenn Sommer war und richtig heiß, denn hatte se’n Kleid an. Denn raffte se bloß det Röckchen zum Pinkeln, denn hatte se kein Höschen an.«

»Sie haben sie nie angesprochen?«, fragte ich.

»Nee, was hätte ich sagen solln? Ich wusste ja, was sie wollte. Dann stand ich unten und guckte rauf, und sie stand oben und pinkelte. Det mit dem Vorfluter war nich gut. Det hätte se nich machen solln. Meinetwegen ins Absetzbecken, aba nich in’n Vorfluter.«

»Und dann kam der Herbst«, sagte Günter nach einem tiefen Atemzug, »und sie pinkelte weiter. Und der Winter kam, und sie trug wieder Hosen. Wann hat sie denn das letzte Mal den Vorfluter getauft?«

»Na, vor knapp zwei Wochen unjefähr. Sie kommt etwa alle ein oder zwei Wochen. Ich lass immer det Seitentor auf. Ich gucke hoch, und wenn se auf der Kontrollbrücke steht, stell ich den Scheinwerfer an und sie …«

»Ja, in den Vorfluter«, sagte ich ungeduldig. Die Kerze leuchtete weihnachtlich, aber mich zog es mit Riesenkräften nach Hause, weg von dem glucksenden Absetzbecken und der feuchten Dunstumklammerung der Fäkalien. Günter ging es ähnlich, merkte ich. »Dann wird sie ja bald wieder auftauchen«, sagte er und erhob sich. »Vielleicht heute Abend zur Heiligen Nacht. Wäre doch irgendwie passend. Ach ja, Abfischer! Was fischen Sie denn alles aus dem Absetzbecken, Herr Boglund?«

»Massenweise Kram. Allet, wat aufschwimmt«, sagte der. »Wollnse mal sehen? Mein Privatmuseum? Allet jesammelt!«

Ich wollte nicht. Mir war nach Heiligabend zumute und nicht nach den Inhalten der Großstadtaborte, aber Günter war gleich Feuer und Flamme. Was blieb mir, als mich anzuschließen?

Ein bunkerähnlicher Raum ohne Fenster. »Mein eigenet Museum«, sagte Boglund stolz. »Wenn ich ma nich mehr bin, kriegts det Museum für Kunst und Jewerbe. Habich schon im Testament.«

Grelles Neonlicht. Lochplatten an den Wänden, Krims und Krams daran. Natürlich Präservative, kleine blasse Gummisäckchen. »Kommen zu Tausenden anjeschwommen«, meinte der Abfischer, »is ’n richtijer Jummibahnhof hier.«

Ein Weckglas mit einer trüben Brühe. Ein kreideweißer Fötus, durchscheinend. »Det is Kilian. Wat besonderet. Sonst jehn se alle durch die Pumpen. Und denn is nur noch Brei, wat in Faulturm kommt. Den hab ich vorher erwischt. Is in Formalin.«

Weiter hinten Kleidungsstücke. Ein Strampelanzug in Bleu.

 

»Wer schmeißt denn Babysachen ins Klo?«, wunderte ich mich.

»Ins Klo?«, Boglund lachte. »Und det hier?« Er deutete auf ein abscheuliches Streifenkleid in Braun. »Auch durchs Klo? Nein, jute Dame, det kommt vom Kanal! Im Trockenfall, wenn et nich regnet, mischen wia Kanalwasser zu die Fäkalien, zum Verdünnen. Aus der Spree und dem Ruhlebener Altarm. Die Kleedasche kommt vom Kanal.«

»Und wer schmeißt Kleider in den Kanal?«

Boglund schaute mich groß an, als begriffe er nicht. »Die werden doch nich in’n Kanal jeschmissen, die hat jemand anjehabt. Gucken Se mal!« Er nahm das Kleid mit Bügel von der Wand und zeigte die Rückseite. Ein schmaler zerfaserter Schlitz, sein kleiner Finger steckte von innen durch. »Hier, von hinten erlecht! Mit ’nem Messer. Da steckte ’ne Frau drin.«

»Mein Gott, erstochen?!«

»Erstochen und in den Kanal jeschmissen.«

»Um Himmels willen!«, sagte ich. »Und die Frau?«

»Nischt mehr. Die Pumpen, was die ansaugen, det is allet Brei. Da is sone Wucht hinter, da pellt sich die Kleedasche ab, die schwimmt nach oben.«

Daneben hing seltsamerweise ein grauer Taucheranzug wie ein ausgeweideter Riesenfrosch. Die eine Seite gewaltsam aufgeschlitzt, die Beinpartie in Streifen gefetzt.

Meinem fragenden Blick begegnete Boglund mit einem Achselzucken. »Keine Ahnung, wo der nu herkommt. Sieht nich jut aus für den, der drinne war. Aber hier, sehnse

ma!« Daneben hing ein weißes, leicht bräunlich durchfärbtes Rüschenkleid, von roten Litzen durchzogen. Über dem Bügel ein Kranz aus Buchsbaumzweigen. »Det war se! Zu Sankta Lucia kam se wieder. 13. Dezember. Fein hat se sich je-schmückt!«

Mir stockte der Atem. »Das Mädchen? Die immer hierher kam und …?«

»Ja, det war se. Am 13. Dezember kam se wieder. Die Zeit war ja auch wieder ran. ’N hübschet Kleid. Sankta Lucia. Wie ’ne Puppe, sare ich Ihnen. Sie stand oben auf dem Steg, dann knipste ich den Scheinwerfer an, da wusste sie, dass ich zusah. Denn ging se zum Vorfluter und pinkelte. Mir ging det immer durch die Seele, wenn se in den sauberen Vorfluter pinkelte. Aber hübsch war se, wenn se so da oben stand. ’N schönet Mächen.«

»Ja, was weiter?«, drängte Günter. »Was geschah dann?«

»Wech!«, sagte Boglund. »Sie hat sich immer rechts am Jeländer festjehalten. Zurückzu auch. Aber überm Absetzbecken hatte ich auf der anderen Seite det Jeländer abjebaut. Es muss ja mal entrostet und jestrichen werden. Aber det konnte se nich sehn, der Scheinwerfer unten, da sah se nur Licht. Als se zurückkam, isset passiert. Innerlich hats mia ’n bisschen Leid jetan. Aber ich habe mia jesagt, wenn se da rüberkommt ohne Jeländer, denn is det ’n Zeichen, denn soll se eben weitamachen mit dem Vorfluter, wenns auch nich richtig is. Aber es hat nich solln sein. Wech, in det Absetzbecken! Det Kleid kam nach oben, hab ich abjefischt. Ansonsten …«, er winkte ab, »wissense, die Pumpen, die haben ’ne Jewalt! Jeht alles zerkleinert in die Faultürme und von da jeklärt in den Vorfluter. Da is nu ’n bisschen wat drin von ihr, im Vorfluter, wo se immer reinjepinkelt hat. Ich sare ja, det Leben is ’n Kreislauf. Ihr Kleid, ja, det habe ich. Ein schönet Stück. Kriegt allet det Museum für Kunst und Jewerbe. Wenn ich ma nich mehr bin.« Er senkte den Kopf und nahm die Schildmütze ab, wie zu einer stillen Andacht.

Im Auto, wieder auf dem Spandauer Damm, versuchte ich krampfhaft, an Weihnachten zu denken. Bach, Weihnachtsoratorium, Gänsebraten. Halt, nein, der wanderte doch später …

»Was machen wir nun?«, fragte Günter.

Ich sagte nichts.

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