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Loe raamatut: «Die Gräfin von Charny Denkwürdigkeiten eines Arztes 4», lehekülg 77

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CXX
Das Hospital vom Gros-Cailou

Zu jener Zeit waren die Hospitäler und besonders die Militärhospitäler entfernt nicht organisiert, wie sie es heute sind.

Man wird sich also nicht wundern über die Unruhe, die im Hospital vom Gros-Cailou herrschte, und über die ungeheure Unordnung, die sich der Erfüllung der Verordnungen der Wundärzte entgegenstellte.

Das Erste, woran es gemangelt, waren Betten. Man hatte sodann die Matratzen der Einwohner der umliegenden Straßen in Beschlag genommen.

Diese Matratzen wurden auf den Boden und sogar in den Hof gelegt; auf jeder derselben war ein Verwundeter, Hilfe erwartend, und die Wundärzte fehlten wie die Matratzen, und waren noch schwieriger zu finden.

Der Officier, – in welchem unsere Leser sicherlich Unsern alten Freund Pitou erkannt haben, – bewirkte gegen zwei weitere kleine Thaler, daß man ihm die Matratze der Tragbahre überließ, so daß Billot ziemlich sanft im Hofe des Hospitals gebettet wurde.

Pitou, der von der Lage mindestens das Wenige, was sie Gutes hatte, nehmen wollte, hatte den Verwundeten so nahe als möglich bei der Thüre unterbringen lassen, um sich auf seinem Wege des ersten Wundarztes, der aus- oder eingehen würde, bemächtigen zu können.

Er hatte große Lust, in den Sälen umherzulaufen und einen um jeden Preis herbeizuführen: doch er wagte es nicht, den Verwundeten zu verlassen; er befürchtete, unter dem Vorwande, dieser sei todt, – man konnte sich hierüber ohne schlechte Absicht täuschen, – werde Einer die Matratze nehmen und den vorgeblichen Leichnam auf das Pflaster des Hofes werfen.

Pitou war seit einer Stunde da und hatte mit kräftiger Stimme den paar Wundärzten gerufen, die er hatte vorübergehen sehen, ohne daß Einer ihm ans seinen Ruf geantwortet, als er einen schwarz gekleideten Mann erblickte; dieser Mann, dem zwei Krankenwärter leuchteten, besuchte eines nach dem andern alle die Sterbelager.

Je mehr der schwarz gekleidete Mann gegen Pitou vorrückte, desto mehr glaubte ihn dieser zu erkennen; bald hörten alle seine Zweifel ans, und Pitou, der es wagte, sich ein paar Schritte vom Verwundeten zu entfernen, um sich eben so viel dem Arzte zu nähern, rief mit aller Gewalt seiner Lunge:

»He! hierher, Herr Gilbert, hierher!«

Der Arzt, – es war in der That Gilbert, – lief auf seine Stimme herbei.

»Ah! Du bist es, Pitou?« sagte er.

»Mein Gott! ja, Herr Gilbert.«

»Hast Du Billot gesehen?»

»Ei! hier ist er,« antwortete Pitou, indem er auf den Verwundeten deutete, der immer unbeweglich da lag.

»Ist er todt?« fragte der Doctor.

»Ach! lieber Herr Gilbert, ich hoffe, nein; doch ich verberge Ihnen nicht, daß es gar nicht gut bei ihm steht.«

Gilbert näherte sich der Matratze, und die zwei Krankenwärter, die ihm folgten, beleuchteten das Gesicht des Verwundeten.

»Es ist am Kopfe, Herr Gilbert,« sagte Pitou, »es ist am Kopfe! Der arme Herr Billot! Der Kopf ist ihm bis an den Kinnbacken gespalten.«

Gilbert betrachtete die Wunde aufmerksam.

»Die Wunde ist allerdings bedeutend,« murmelte er.

Und sich an einen der zwei Krankenwärter wendend, fügte er bei:

»Ich brauche ein besonderes Zimmer für diesen Mann, der einer meiner Freunde ist.«

Die zwei Krankenwärter beriethen sich.

»Es gibt kein besonderes Zimmer,« sagten sie, »doch die Weißzeugkammer ist da.«

»Vortrefflich!« versetzte Gilbert, »tragen wir ihn nach der Weißzeugkammer.«

Man hob den Verwundeten so sachte als möglich auf, doch wie behutsam man auch zu Werke ging, es entschlüpfte ihm ein Seufzer.

»Ah!« sprach Gilbert, »nie hat ein Ausruf der Freude mir ein Vergnügen gemacht, wie dieser Seufzer des Schmerzes! Er lebt: das ist die Hauptsache.«

Billot wurde nach der Weißzeugkammer gebracht und auf das Bett von einem der Angestellten gelegt; dann nahm Gilbert sogleich den Verband vor.

Die Schlafpulsader war durchschnitten, und hierdurch war ein ungeheurer Blutverlust erfolgt; doch dieser Blutverlust hatte die Ohnmacht herbeigeführt, und die Bewegungen des Herzens vermindernd, hatte die Ohnmacht den Blutfluß gehemmt.

Die Natur halte dies sogleich benützt, um einen Blutklumpen zu bilden, durch den die Pulsader geschlossen wurde.

Mit einer bewunderungswürdigen Geschicklichkeit unterband Gilbert zuerst die Arterie mittelst eines seidenen Fadens; dann wusch er das Fleisch und vereinigte es wieder auf dem Knochen. Die Frische des Wassers und vielleicht auch die durch den Verband verursachten lebhafteren Schmerzen machten, daß Billot die Augen öffnete und ein paar Worte breiig und ohne Folge sprach.

»Es hat eine Gehirnerschütterung stattgefunden,« murmelte Gilbert.

»Sobald er aber nicht todt ist, werden Sie ihn retten, nicht wahr, Herr Gilbert?« fragte Pitou.

Gilbert lächelte traurig und erwiederte:

»Ich werde mich bemühen; doch Du hast abermals gesehen, mein lieber Pitou, daß die Natur ein viel geschickterer Wundarzt ist, als Einer von uns.«

Gilbert vollendete sodann den Verband. Nachdem die Haare so viel als möglich abgeschnitten waren, vereinigte er die zwei Ränder der Wunde, befestigte sie mit Heftpflasterstreifen, und befahl, dafür zu sorgen, daß der Kranke fast sitzend mit dem Rücken und nicht mit dem Kopfe an die Kissen angelehnt werde.

Erst nachdem diese ganze Arbeit gethan war, fragte er Pitou, wie er nach Paris gekommen, und wie er, nachdem er nach Paris gekommen, gerade zu rechter Zeit hier gewesen, um Billot Hilfe zu leisten.

Die Sache war sehr einfach: seit dem Verschwinden von Catherine und dem Abgange ihres Mannes war die Mutter Billot, die wir unsern Lesern nie als einen sehr starken Geist gegeben haben, in eine Art von Blödsinn verfallen, der beständig zugenommen. Sie lebte jedoch auf eine ganz mechanische Art, und jeden Tag spannte sich ab oder brach eine neue Feder der armen menschlichen Maschine; allmälig wurden ihre Worte seltener; dann sprach sie am Ende gar nicht mehr, und legte sich auch nicht mehr zu Bette; und der Doctor Raynal erklärte, es gebe nur Eines auf der Welt, was die Mutter Billot dieser tödtlichen Erstarrung entziehen könnte: der Anblick ihrer Tochter.

Sogleich erbot sich Pitou, nach Paris zu gehen, oder er reiste vielmehr ab, ohne sich zu erbieten.

Bei den langen Beinen des Kapitäns der Nationalgarde von Haramont waren die achtzehn Meilen, welche die Heimath von Demoustier von der Hauptstadt trennen, nur ein Spaziergang.

Pitou war in der That um vier Uhr Morgens abgegangen und zwischen halb acht Uhr und acht Uhr Abends in Paris angelangt.

Pitou schien prädestinirt, für die großen Ereignisse nach Paris zu kommen.

Das erste Mal war er gekommen, um der Einnahme der Bastille beizuwohnen und daran Theil zu nehmen; das zweite Mal, um der Föderation von 1790 beizuwohnen; das dritte Mal kam er am Tage der Metzelei auf dem Marsfelde.

Er fand Paris auch ganz im Aufruhr; das war übrigens der Zustand, in welchem er Paris zu sehen die Gewohnheit hatte.

Schon bei den ersten Gruppen, auf die er stieß, erfuhr er, was auf dem Marsfelde vorgefallen.

Bailly und Lafayette hatten auf das Volk schießen lassen; das Volk verfluchte mit voller Lunge Bailly und Lafayette.

Pitou hatte sie als Götter und angebetet verlassen! Er fand sie wieder von ihren Altären gestürzt und verflucht: er begriff durchaus nichts hiervon.

Er begriff nur, daß auf dem Marsfelde Kampf, Metzelei wegen einer patriotischen Petition stattgefunden, und daß Gilbert und Billot dort sein mußten.

Obgleich Pitou, wie man gewöhnlich sagt, seine achtzehn Meilen im Leibe hatte, verdoppelte er doch den Schritt und kam nach der Rue Saint-Honoré und in die Wohnung von Gilbert.

Der Doctor war nach Hanse zurückgekehrt, Billot hatte man aber nicht gesehen.

Das Marsfeld war übrigens, wie der Diener sagte, der Pitou diese Auskunft gab, mit Todten und Verwundeten bestreut; Billot befand sich vielleicht unter den Einen oder den Andern.

Das Marsfeld mit Todten und Verwundeten bedeckt! Diese Kunde setzte Pitou nicht minder in Erstaunen, als ihn die von Bailly und Lafayette, den zwei Idolen des Volks, welche auf das Volk geschossen, in Erstaunen gesetzt hatte.

Das Marsfeld mit Todten und Verwundeten bedeckt! Pitou konnte sich das nicht vorstellen. Dieses Marsfeld, das er, Einer der Zehntausend, hatte nivelliren helfen, das ihm die Erinnerung voller Illuminationen, freudigen Gesange, munteren Farandolen in den Geist zurückrief! bedeckt mit Todten und Verwundeten! weil man hatte, wie im vorhergehenden Jahre, hier den Jahrestag der Einnahme der Bastille und den der Föderation feiern wollen!

Das war unmöglich!

Wie, in einem Jahre war das, was ein Motiv der Freude und des Triumphes gewesen, eine Ursache des Aufruhrs und der Schlächterei geworden?

Welcher Schwindelgeist war denn während dieses Jahres über das Haupt der Pariser hingezogen?

Wir haben es gesagt; der Hof hatte während dieses Jahres, Dank dem Einflusse von Mirabeau, Dank der Schöpfung des Clubbs der Feuillants, Dank der Unterstützung von Bailly und Lafayette, Dank endlich der Reaction, die sich in Folge der Rückkehr von Varennes bewerkstelligt, seine verlorene Macht wiedererlangt; und diese Macht gab sich durch die Trauer und die Metzelei kund.

Der 17. Juli rächte den 5. und 6. October.

Wir haben gesehen, wie, beschäftigt mit allen diesen Ideen, – von denen übrigens keine den Einfluß hatte, daß sie seinen Gang langsamer machte, – unser Freund Ange Pitou über den Pont Louis XV, und durch die Rue de Grenelle auf dem Marsfelde gerade zu rechter Zeit angekommen war, um es zu verhindern, daß Billot als Todter in den Fluß geworfen wurde.

Andererseits erinnert man sich, wie Gilbert, der beim König war, ein Billet ohne Unterschrist erhielt, wobei er aber die Hand von Cagliostro erkannte, und in welchem sich folgende Worte fanden:

»Laß doch diese Verurtheilten, die man ans Spott noch den König und die Königin nennt, und begib Dich, ohne einen Augenblick zu verlieren, in den Hospital vom Gros-Cailou: Du wirst dort einen Sterbenden finden, der weniger krank ist, als sie; denn diesen Sterbenden kannst Du vielleicht retten, während sie, ohne daß Du sie retten kannst, Dich bei ihrem Sturze mit hinabgehen werden.«

Sogleich, wie wir erzählt, nachdem er durch Madame Campan erfahren, die Königin, welche ihn mit der Einladung, ihre Wiederkehr abzuwarten, verlassen, werde anderswo zurückgehalten und gebe ihm den Abschied, sogleich war Gilbert aus den Tuilerien weggegangen und, beinahe demselben Wege folgend wie Pitou, in das Hospital vom Gros-Cailou gelangt; er hatte schon von Bett zu Bett, von Matratze zu Matratze die Säle, die Gänge, die Vestibules und sogar den Hof besucht, als ihn eine Stimme zum Lager eines Sterbenden rief.

Diese Stimme war, wie wir wissen, die von Pitou; der Sterbende war Billot.

Wir haben gesagt, in welchem Zustande er den würdigen Pächter gesunden, und welche Chancen seine Lage bot; gute und schlimme Chancen, bei denen aber sicherlich die schlimmen die Oberhand, über die guten behalten hätten, hätte er es mit einem minder geschickten Manne, als dem Doctor Gilbert, zu thun gehabt.

CXXI
Catherine

Von den zwei Personen, welche der Doctor Raynal über den verzweifelten Zustand von Frau Billot benachrichtigen zu müssen geglaubt hatte, war die eine, wie man sieht, in einer dem Tode nahen Lage im Bette gehalten; das war der Mann. Die andere Person konnte also allein kommen und der Sterbenden in ihren letzten Augenblicken beistehen! das war die Tochter.

Es handelte sich darum, Catherine von dem Zustande, in dem sich ihre Mutter befand, und sogar von dem ihres Vaters in Kenntniß zu setzen; nur fragte es sich, wo war Catherine?

Es gab nur ein mögliches Mittel, dies zu erfahren, das war, sich an den Grafen von Charny zu wenden.

Pitou war so freundlich, so wohlwollend von der Gräfin aufgenommen worden, am Tage, wo er ihr, im Auftrage von Gilbert, ihren Sohn gebracht, daß er nicht anstand, sich zu erbieten, er wolle die Adresse von Catherine im Hause der Rue Coq-Héron erfragen, so weit vorgerückt auch die Stunde der Nacht war.

Es schlug in der That halb zwölf auf der Uhr der Ecole Militaire, als, nachdem der Verband vollendet war, Gilbert und Pitou das Bett von Billot verlassen konnten.

Gilbert empfahl den Verwundeten den Krankenwärtern: es war nichts mehr zu thun, als die Natur wirken zu lassen.

Ueberdies sollte er im Verlaufe des andern Tages wiederkommen.

Pitou und Gilbert stiegen in den Wagen des Doctors, der vor der Thüre des Hospitals wartete; der Doctor befahl dem Kutscher, nach der Rue Coq-Héron zu fahren.

Alles war geschlossen und erloschen im Quartier.

Nachdem er eine Viertelstunde geklingelt, hörte endlich Pitou, der von der Klingel zum Klopfen übergehen wollte, nicht die Hausthüre, sondern die Thüre von der Loge des Concierge knarren, und eine heisere, verdrießliche Stimme fragte mit einem Ausdrucke der Ungeduld, in dem man sich nicht täuschen konnte:

»Wer ist da?«

»Ich,« antwortete Pitou.

»Wer, Sie?«

»Ah! es ist wahr . . . Ange Pitou, Kapitän der Nationalgarde.«

»Ange Pitou? . . . Ich kenne das nicht.«

»Kapitän der Nationalgarde.«

»Kapitän . . . wiederholte der Concierge, »Kapitän . . . «

»Kapitän!« wiederholte Pitou, indem er einen besonderen Nachdruck auf diesen Titel legte, dessen Einfluß er kannte.

Der Concierge konnte in der That glauben, in diesem Augenblicke, wo die Nationalgarde wenigstens dem ehemaligen Uebergewichte der Armee die Waage hielt, habe er es mit einem Adjutanten von Lafayette zu thun.

Dem zu Folge fragte er mit einem etwas gemilderten Tone, jedoch ohne die Thüre zu öffnen, der er sich nur näherte:

»Nun, Herr Kapitän, was verlangen Sie?«

»Ich verlange den Herrn Grafen von Charny zu sprechen.«

»Er ist nicht hier.«

»Also die Frau Gräfin.«

»Sie ist auch nicht hier.«

»Wo sind sie denn?«

»Sie sind heute Morgen abgereist.«

»Nach welcher Gegend?«

»Nach ihrem Gute Boursonnes.«

»Ah! Teufel!« sagte Pitou wie mit sich selbst sprechend; »ihnen werde ich wohl in Dammartin begegnet sein; sie waren ohne Zweifel in jener Postchaise . . . Wenn ich das gewußt hätte!«

Pitou wußte es aber nicht, so daß er den Grafen und die Gräfin hatte vorbeifahren lassen.

»Mein Freund,« sprach die Stimme des Doctors, der bei dieser Stelle der Unterredung dazwischen trat, »könnten Sie uns wohl in Abwesenheit Ihrer Herrschaft eine Auskunft geben?«

»Ah! verzeihen Sie, mein Herr,« sagte der Concierge, der in Folge seiner aristokratischen Gewohnheiten eine Herrenstimme in der erkannte, welche mit so viel Artigkeit und Milde gefragt hatte.

Und der gute Mann öffnete die Thüre und kam in den Unterhosen und seine baumwollene Mütze in der Hand an den Wagenschlag des Doctors, um, wie man im Bedientenstyle sagt, die Befehle in Empfang zu nehmen.

»Welche Auskunft wünscht der Herr?« fragte der Concierge.

»Mein Freund, kennen Sie ein Mädchen, für das der Herr Graf und die Frau Gräfin einiges Interesse hegen müssen?«

»Mademoiselle Catherine?« versetzte der Concierge.

»Ganz richtig!« erwiederte Gilbert.

»Ja, mein Herr . . . Der Herr Graf und die Frau Gräfin haben sie zweimal besucht und mich oft zu ihr geschickt, um sie fragen zu lassen, ob sie etwas brauche; doch die arme Demoiselle, obschon ich sie nicht für reich halte, – weder sie, noch ihr liebes Kind des guten Gottes, – antwortet immer, sie brauche nichts.«

Bei den Worten: »Kind des guten Gottes,« konnte ich Pitou eines schweren Seufzers nicht erwehren.

»Nun, mein Freund,« sagte Gilbert, »der Vater der armen Catherine ist heute auf dem Marsfelde verwundet worden, und ihre Mutter, Frau Billot, stirbt in Villers-Coterets: wir müssen ihr nothwendig diese traurige Kunde zu wissen thun. Wollen Sie mir ihre Adresse geben?«

»Oh! die Arme, Gott stehe ihr bei! sie ist doch schon so unglücklich! Sie wohnt in Ville-d’Avray, mein Herr, in der großen Straße . . Ich vermöchte Ihnen die Hausnummer nicht genau zu sagen, doch es ist einem Brunnen gegenüber.«

»Das genügt,« versetzte Pitou; »ich werde sie finden.«

»Ich danke, mein Freund,« sprach Gilbert, indem er dem Concierge einen Sechs-Livres-Thaler in die Hand drückte.

»Oh! das war nicht nöthig,« sagte der gute alte Mann; »Gott sei Dank! unter Christen muß man einander helfen.«

Und er machte dem Doctor seinen Bückling und kehrte in seine Loge zurück.

»Nun?« fragte Gilbert.

»Nun,« antwortete Pitou, »ich gehe nach Ville-d’Avray.«

Pitou war immer bereit, zu gehen.

»Weißt Du den Weg?« versetzte der Doctor.

»Nein, doch Sie werden mir ihn bezeichnen.«

»Du bist ein goldenes Herz und ein stählernes Knie!« sagte lachend der Doctor. »Doch ruhe zuvor aus. Du wirst morgen früh abgehen.«

»Wenn es aber Eile hat? . . . «

»Es ist weder auf der einen, noch auf der andern Seite dringlich,« erwiederte der Doctor: »der Zustand von Billot ist ernster Art, kommen aber nicht unvorhergesehene Zwischenfälle dazu, so ist er nicht tödtlich. Was die Mutter Billot betrifft, sie kann noch zehn bis zwölf Tage leben.«

»Ah! Herr Doctor, als man sie vorgestern zu Bette brachte, sprach sie nicht mehr, rührte sie sich nicht mehr nur ihre Augen schienen noch zu leben.«

»Gleichviel, ich weiß, was ich sage, Pitou, und ich stehe dafür, daß sie noch zehn bis zwölf Tage lebt.«

»Ei! Herr Gilbert, Sie wissen das besser als ich.«

»Man läßt lieber dieser armen Catherine noch eine Nacht der Unwissenheit und Ruhe; eine Nacht des Schlafes mehr, das ist für die Unglücklichen von Bedeutung, Pitou.«

Pitou ergab sich diesem letzten Grunde.

»Nun also,« fragte er, »wohin gehen wir?«

»Zu mir, bei Gott! Du wirst Dein altes Zimmer wiederfinden.«

»Ah!« sagte Pitou lächelnd, »es wird mir Vergnügen machen, dasselbe wiederzusehen!«

»Und morgen früh um sechs Uhr werden die Pferde angespannt sein,« fügte Gilbert bei.

»Warum die Pferde angespannt?« fragte Pitou, der das Pferd durchaus nur als einen Luxusgegenstand betrachtete.

»Um Dich nach Ville-d’Avray zu führen.«

»Gut! es sind also fünfzig Meilen von hier nach Ville-d’Avray?«

»Nein, es sind zwei oder drei,« erwiederte Gilbert, dem vor den Augen, wie ein Blitz aus seiner Jugend, die Spaziergänge vorüberzogen, die er mit seinem Lehrer Rousseau in den Wäldern von Louveciennes, Meudon und Ville-d’Avray gemacht hatte.

»Nur drei Meilen, das ist die Sache einer Stunde, Herr Gilbert,« versetzte Pitou; »das verschluckt sich wie ein Ei!«

»Und Catherine,« fragte Gilbert, »glaubst Du, sie verschlucke auch wie ein Ei die drei Meilen von Ville-d’Avray nach Paris und die achtzehn Meilen von Paris »ach Villers-Coterets?«

»Ah! das ist wahr; entschuldigen Sie, Herr Gilbert: ich bin ein Dummkopf . . . Doch sagen Sie, wie geht es Sebastian?«

»Vortrefflich! Du wirst ihn morgen sehen.«

»Immer noch beim Abbé Bérardier?«

»Immer.«

»Ah! desto besser . . . es wird mich sehr freuen, ihn zu sehen.«

»Und er wird sich auch freuen, Pitou; denn er liebt Dich, wie ich, von ganzem Herzen.«

Nach dieser Versicherung hielten der Doctor und Ange Pitou vor der Thür, der Rue Saint-Honoré.

Pitou schlief, wie er marschirte, wie er aß, wie er sich schlug; nur war er, vermöge der auf dem Lande angenommenen Gewohnheit, frühzeitig aufzustehen, schon um fünf Uhr auf.

Um sechs Uhr stand der Wagen bereit.

Um sieben Uhr klopfte er an die Thüre von Catherine.

Es war mit dem Doctor Gilbert verabredet, daß man sich um acht Uhr am Bette von Billot finden sollte.

Catherine öffnete und stieß einen Schrei aus, als sie Pitou erblickte.

»Ah!« rief sie, »meine Mutter ist todt!«

Und sie erbleichte und lehnte sich an die Wand an.

»Nein,« erwiederte Pitou, »nur müssen Sie sich beeilen, wenn Sie sie sehen wollen, ehe sie stirbt, Mademoiselle Catherine.«

Dieser Austausch von Worten, der mit Wenigem so viele Dinge sagte, schnitt alle Präliminarien ab und stellte Catherine gleichsam mit einem Sprunge ihrem Unglücke gegenüber.«

»Und dann ist noch ein anderes Unglück,« fuhr Pitou fort.

»Welches?« fragte Catherine mit dem kurzen, fast gleichgültigen Tone eines Wesens, das, nachdem es das Maß der menschlichen Schmerzen erschöpft hat, nicht mehr fürchtet, daß sich seine Schmerzen vermehren.

»Herr Billot ist gestern auf dem Marsfelde gefährlich verwundet worden.«

»Ah!« machte Catherine.

Das Mädchen war offenbar viel weniger empfindlich für diese Nachricht, als für die erste.

»Da habe ich mir gesagt,« fuhr Pitou fort, »und das war auch die Ansicht des Herrn Doctor Gilbert: Mademoiselle Catherine wird im Vorübergehen einen Besuch bei Herrn Billot machen, den man nach dem Hospital vom Gros-Cailou gebracht hat, und von da wird sie die Diligence nach Villers-Coterets nehmen.«

»Und Sie, Herr Pitou?« fragte Catherine.

»Ich,« erwiederte Pitou, »ich dachte, da Sie dort Frau Billot werden sterben helfen, so sei es an mir, hier zu bleiben und Herrn Billot wo möglich wiederaufleben zu helfen . . . Ich bleibe bei demjenigen, welcher Niemand hat: Sie begreifen, Mademoiselle Catherine?«

Pitou sprach dies mit seiner engelischen Naivität, ohne zu bedenken, daß er so mit ein paar Worten die ganze Geschichte seiner aufopfernden Hingebung machte.

Catherine reichte ihm die Hand.

»Sie sind ein wackeres Herz, Pitou!« sagte sie. »Kommen Sie und küssen Sie meinen armen Isidor.«

Und sie ging voran, denn die kurze Scene, die wir erzählt haben, hatte sich im Gange, bei der Hausthüre, zugetragen.

Sie war schöner als je, die arme Catherine! Ganz in Trauer gekleidet, wie sie war, was Pitou einen zweiten Seufzer entriß.

Catherine schritt dem jungen Manne in ein auf einen Garten gehendes kleines Zimmer voran: in diesem Zimmer, das mit einer Küche und einem Ankleidecabinet die ganze Wohnung von Catherine bildete, standen ein Bett und eine Wiege.

Das Bett der Mutter, die Wiege des Kindes.

Das Kind schlief.

Catherine zog einen Gazevorhang zurück und trat auf die Seite, um die Augen von Pitou in die Wiege tauchen zu lassen.

»Oh! das schöne Engelchen!« rief Pitou, die Hände faltend.

Und als wäre er wirklich vor einem Engel gewesen, kniete er nieder und küßte dem Kinde die Hand.

Pitou wurde rasch für das, was er gethan, belohnt: er fühlte über seinem Gesichte die Haare von Catherine schweben, und zwei Lippen legten sich auf seine Stirne.

Die Mutter gab den dem Sohne gegebenen Kuß zurück.

»Meinen Dank, guter Pitou!« sagte sie. »Seit dem letzten Kusse, den er von seinem Vater empfangen, hat Niemand außer mir den armen Kleinen mehr geküßt.«

»Oh! Mademoiselle Catherine!« murmelte Pitou, geblendet und erschüttert durch den Kuß des Mädchens, wie er es durch den elektrischen Funken gewesen wäre.

Und dieser Kuß bestand doch einfach aus Allem dem, was Frommes und Dankbares im Kusse einer Mutter ist.