Loe raamatut: «Pierre Bourdieu», lehekülg 2

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Das kalkulierende Denken fehlt bei den Bauern nicht völlig, es wird jedoch zur Wahrung der allgemeinen Vorstellung vom Zusammenleben in den Interaktionen verneint (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 47). Ein Beispiel: Das Ende der gemeinsamen Erntearbeiten und die dabei wirksame [21]Solidarität werden stets mit einem Festmahl gefeiert. Dessen Kosten übersteigen manchmal die gewonnenen Erträge in einem Maße, dass nur ein Mann aus jeder beteiligten Familie eingeladen werden kann – dass also nur unter Rückgriff auf ein Kalkül der kollektive Ritus gewahrt werden kann (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 47). So wird auch die Anekdote über den Frevel eines (zugereisten) Arbeiters verständlich, der, statt dem Mahl beizuwohnen, die Auszahlung der eingesparten Unkosten verlangte. Diese Geschichte über den Auswärtigen, der bei den Kabylen wohl nie wieder eine Arbeit bekam, versinnbildlicht die symbolische Bedeutung des gemeinsamen Mahls, der Besiegelung eines Bündnisses (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 48) unter Verleugnung jeglicher ökonomischen Dimension.

Aus objektivistischer Forschungsperspektive wurde laut Bourdieu diese Grundlage der Gesellschaft (das Prinzip von Treu und Glauben und die mit ihm verbundene Abweisung jeglichen ökonomischen Kalküls) übersehen. Strukturalistische Modelle in der Ethnologie können, so Bourdieu, nur zeigen, wie auf eine Gabe (Geschenk) eine Gegengabe folgt, das heißt, sie unterstellen dem Handeln eine ökonomische Intention, eine Logik des Tauschs – was die Akteure selbst von sich weisen. Um die Handelnden zu verstehen, sei es unerlässlich, das Zeitintervall zu berücksichtigen, das die Gegengabe von der Gabe trennt. Ist dieses, wie in der Praxis üblich, hinreichend (aber auch nicht zu) groß, so muss niemand in dem Tauschvorgang ein ökonomisches Kalkül, eine Interessengeleitetheit sehen, das heißt, die Funktion des Tausches kann also kollektiv und bewusst verkannt werden (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 50; vgl. Hillebrandt 2007, 289; Hillebrandt 2009a).11 Hier wird übrigens auch die Forderung Bourdieus (die sich vor allem gegen Lévi-Strauss als den Protagonisten des Strukturalismus richtet) verständlich, nicht zu versuchen, entzeitlichte Regeln des sozialen Austauschs aufzustellen, sondern historisch und regional spezifische Strategien und deren Bindung an die objektiven Strukturen zu erfassen (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 217 ff.).

Offene Kalkulation und systematische Buchführung nahmen in Algerien erst mit der Ausbreitung des Geldverkehrs zu und machten schließlich auch nicht vor den Besitzgemeinschaften Halt. Deren Mitglieder begannen, ihre Anteile an Konsum und Produktion nachzurechnen – womit der Untergang der Besitzgemeinschaften eingeläutet war (Zwei Gesichter der [22]Arbeit 1977/2000, 44). Da Geld im Unterschied zu Gütern auf eine mögliche Befriedigung in der Zukunft verweist, wurde es in der vorkapitalistischen Gesellschaft nur misstrauisch und zögernd aufgenommen; schließlich besitzt man mit »dem Geldäquivalent … die Dinge nicht mehr, sondern nur die Zeichen ihrer Zeichen« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 36). Der rationale Umgang mit Geld, der eine abstrakte Bestimmung und Berechnung von Bedürfnissen und Ausgaben voraussetzt, war den traditionellen Bauern fremd. Ihre Vorratshaltung folgte einer ganz anderen Logik; so zeigte der Stand des Weizens in den Tongefäßen eindeutig an, wann der Konsum gedrosselt werden musste, nämlich sobald das Niveau unter das mittlere Loch im Fass gefallen war (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 37). Der Geldverkehr verlangte eine regelrechte Konversion dieser Einstellung:

»… an die Stelle der klaren Evidenz auf der Grundlage der Intuition tritt die ›blinde Evidenz‹ auf der Basis des Umgangs mit Symbolen.« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 38)

Ohne eine ganz neue Auffassung von Zeit, das heißt die Hinwendung zur Zukunft, waren die bisherigen Dispositionen der Menschen nicht kompatibel mit den aufgezwungenen Strukturen.

»Die nach einer anderen ökonomischen Logik sozialisierten wirtschaftlichen Akteure müssen nun – sozusagen auf eigene Kosten – die rationale Verwendung des Geldes als universellen Vermittler aller ökonomischen Beziehungen erlernen. So ist etwa die Versuchung groß, das gerade erst empfangene Geld umgehend in wirkliche Güter umzusetzen …« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 38)

Das hatte beispielsweise zur Folge, dass viele Landarbeiter in den 1950er Jahren ihren gesamten Monatslohn in nur wenigen Tagen ausgaben, oder dass Bauern ihren Boden übereilt und wenig gewinnträchtig veräußerten, den Erlös schnell verbrauchten und dann in die Stadt flüchteten (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 38 f.).

Auch die Subproletarier und Arbeitslosen in den Städten, obschon fern der sicherheitsstiftenden Tradition, verfügten nicht über die fundamentale Voraussetzung für kalkulierendes Denken, nämlich den Glauben an die Macht über die Gestaltung der eigenen Gegenwart und Zukunft. Ohne diese grundlegende Bedingung wurden solche Menschen auf unrealistische Träume zurückgeworfen: »Die magische Hoffnung ist die Zukunftsperspektive jener, die keine Zukunft haben.« (Zwei Gesichter der Arbeit 1977/2000, 111) Bourdieu zeigt, dass das rationale Denken keine universelle Fähigkeit ist, wie häufig in den Wirtschaftswissenschaften unterstellt wird, sondern [23]dass es an bestimmte Existenzbedingungen gebunden ist, die überhaupt Zukunftsplanung und Berechnung gestatten. Entsprechend stellt er die Behauptung auf, dass sich revolutionäres Denken und Handeln erst ab einer bestimmten Einkommensschwelle (und der damit verbundenen Sicherheit im Leben) entwickeln können. Das impliziert eine Kritik an der Marx’schen Theorie, die verkenne, dass sich unter unsicheren Existenzbedingungen ein revolutionärer Wille nicht entwickeln kann.

Die Möglichkeiten, aber auch die Grenzen des strukturalistischen Denkmodells wurden Bourdieu hier im Laufe seiner ersten soziologischen bzw. ethnologischen Arbeiten deutlich. Rückblickend stellt er fest, dass seine »letzte Arbeit als unbefangener Strukturalist« (Sozialer Sinn 1980/1999, 23) der 1963 verfasste Aufsatz »La maison kabyle ou le monde renversé« war. In »Die zwei Gesichter der Arbeit« dagegen, wo er die Interdependenz von Zeit-und Wirtschaftsstrukturen aufzeigt, nimmt er bereits nicht nur Strukturen, sondern auch die Praxis der Akteure in den Blick und verbindet Handlungsund Strukturtheorie. Es spricht vieles dafür, dass Bourdieu sein später zentrales Konzept des Habitus bereits mit seinen algerischen Forschungen vorbereitet hat, in denen er die Inkompatibilität von ökonomischen Strukturen und Einstellungen der Menschen thematisiert.12 Den Begriff ›Habitus‹ selbst verwendet er jedoch noch nicht; in »Travail et travailleurs« ist von Ethos, von Einstellungen (attitudes) und von ökonomischer Grundhaltung (conduite économique) die Rede.

Auch Bourdieus Untersuchungen der Verwandtschaftsbeziehungen und des Heiratsmarktes in Algerien erfassen das strategische Handeln der Akteure. Die einschlägige Studie »Die Verwandtschaft als Vorstellung und Wille«13 (1972/1976) beruht auf Forschungen aus den Jahren zwischen 1960 und 1970; rund dreißig Genealogien aus der Kabylei und anderen Regionen Algeriens waren dafür erhoben worden. Diese Genealogien basieren auf Befragungen über die Heiraten und die Verwandtschaftsbeziehungen einer Familiengruppe über mehrere Generationsstufen hinweg, was zusätzlich kompliziert wird durch die Möglichkeit, mehr als eine Ehefrau zu haben, sowie durch Wiederverheiratungen nach Verwitwung (vgl. Entwurf einer Theorie 1972/1976, 409, Anm. 16).

[24]Bourdieu versucht in dieser Studie, die von der Ethnologie angenommenen (und durch Befragungen nach den Heiratsmustern bestätigten) Regeln, die zur Ehegattenwahl führen, in ihrem Status als Regeln zu hinterfragen, indem er nicht vom Ergebnis der Gattenwahl ausgeht, sondern die dorthin führenden Strategien betrachtet. Er entdeckt dabei, dass ganz unterschiedliche Interessen und Pflichten dazu führen können, dass Männer ihre patrilinealen Kreuzkusinen heiraten (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 96 ff.). Anders als die bisherige Ethnologie will er nicht so vorgehen, »als wäre das mit Regeln versehene Produkt nach Regeln produziert worden« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 78). Das Regelsystem (der Gattenwahl oder einer anderen sozialen Handlungsproblematik) sei nämlich, gerade wenn es von einheimischen Informanten dargestellt werde, vor allem ein Versuch, die wirklichen Vorgänge in ein Modell der angemessenen, mit den kulturell ausformulierten Vorstellungen von Gruppenehre und Ansehen kompatiblen Praxis einzupassen. Modell und wirkliche Vorgänge stimmten dabei eher selten überein.

Andererseits entstehe durch den Versuch, die tatsächlichen Vorgänge auf ein kulturell akzeptables Modell hin auszurichten, durchaus eine soziale Leistung, nämlich die – teilweise kontrafaktische – Stabilisierung der kulturellen Selbstdeutungen der Gruppe. Typischerweise ließen sich die Ethnologen

»durch die sorgfältig unterhaltene Zweideutigkeit täuschen …, durch die jede Gruppe ihr spiritualistisches Ehrgefühl behauptet und auf die sie ihre Einheit ideologisch begründet, indem sie sich selber und den anderen die tatsächlich ihre Praxis beherrschenden Faktoren zu verschleiern sucht, oder besser gesagt, indem sie zu verschleiern sucht, daß ihre Praxis von Determinismen und besonders von materiellen und symbolischen Interessen bestimmt wird.« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 89f.)

Diese Einsicht ist für den Kulturbegriff relevant: Die Regelsysteme einer Sozialgruppe für angemessenes Handeln, die kulturell verankert sind und tradiert werden, bilden keine letzte Instanz. Eher im Gegenteil: Diese überlieferten und allseits bekannten Vorschriften werden von den Mitgliedern der Sozialgruppe benutzt, um Handeln »passend« und öffentlich darstellbar zu machen, um die wirkliche soziale Praxis mit dem Selbstverständnis der Gruppe in Einklang zu bringen. Teilweise wenigstens, so Bourdieu, handele es sich bei der Verwendung von Termini des kulturellen Regelsystems um einen Selbsttäuschungs- und gegenüber anderen um einen Verschleierungsversuch. Die in der Praxis häufig an materiellen und symbolischen Interessen orientierten Handlungen werden im Nachhinein auf das kulturelle Regelwerk hin geordnet, um die Mitwirkung von Interessen zu verdecken. Allgemein nennt Bourdieu solche Vorgehensweisen

[25]»Offizialisierungsstrategien, deren Ziel es ist, ›egoistische‹, private, individuelle Beweggründe und Interessen … in uneigennützige, kollektive, öffentlich vertretbare, kurzum legitime Beweggründe und Interessen zu verwandeln.« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 90)

Diese Perspektivenverschiebung weg vom kulturellen Regelsystem verlangt, dass bei der Analyse der Heiratsstrategien die Geschichte und der aktuelle Stand der Transaktionen und Relationen zwischen den beiden Heiratsgruppen berücksichtigt werden. Beachtet werden müssen also die unterschiedlichen praktischen Gebrauchsformen, die »usuellen« bzw. »Gebrauchsbeziehungen« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 82), die zu ein und demselben Muster des Heiratsverhaltens führen können. Die vom Ethnologen

»konstruierten logischen Beziehungen verhalten sich zu den ›praktischen‹, d h. zu den ständig praktizierten, unterhaltenen und gepflegten Verwandtschaftsbeziehungen wie der geometrische Raum einer Landkarte als Darstellung aller für alle denkbaren Individuen möglichen Wege zum unterhaltenen, begangenen, ausgetretenen und damit für einen bestimmten Handelnden wirklich begehbaren Wegenetz.« (Sozialer Sinn 1980/1999, 66)

Damit formuliert Bourdieu eine generelle Kritik am Strukturalismus, der den

»logischen Verwandtschaftsbeziehungeneine fast vollständige Unabhängigkeit von wirtschaftlichen Faktoren und, korrelativ dazu, eine fast vollkommene innere Kohärenz zuschreibt.« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 82)

Als nützlich erwies sich für Bourdieus Analyse der Heiratsbeziehungen in Algerien der gedankenexperimentelle Vergleich mit den Bauern in Béarn, seiner Herkunftsgegend in Südfrankreich. Zurück in Frankreich drehte er die Vergleichsfolie um und analysierte nun den Heiratsmarkt in den Pyrenäen (wieder in Begleitung seines algerischen Freundes und Kollegen Abdelmalek Sayad, der diesmal die Rolle des »Fremden« übernahm). In den Jahren 1959 und 1960 führte Bourdieu in Lesquire, einem Dorf in Béarn, eine Untersuchung über das bäuerliche Leben, den Heiratsmarkt und die Ehelosigkeit durch (Célibat 1962; Les relations 1962; Junggesellenball 1962/2008).

Die Ergebnisse dieser Forschungen in den Pyrenäen zeigen, dass die bäuerlichen Familien unter modernen Verhältnissen von zwei widersprüchlichen Zielen bestimmt werden: Einerseits geht es um die (traditionelle) Wahrung des Familienbesitzes durch Vererbung an nur ein Kind, vorzugsweise den ältesten Sohn, und andererseits um den (modernen) Respekt gegenüber dem gleichen Rechtsanspruch aller Kinder (Les relations 1962, 307). Männer vom Land haben aufgrund der Vererbungstraditionen geringere Heiratschancen als Männer aus der Stadt (Les relations 1962, 309); insbesondere der [26]jüngste Sohn bleibt, nach traditionellem Brauch, im Interesse des Schutzes des Familienbesitzes unverheiratet und steht als »freier Knecht« seinem älteren Bruder, dem Erben des Besitzes, zur Verfügung (Sozialer Sinn 1980/1999, 336). Damit wird ein Interessenkonflikt durch das Verwandtschaftsverhältnis verdeckt. Es geht nicht vorrangig um die Wahrung der Erbfolge oder des Rechts des Erstgeborenen, sondern um die Sicherung des Erbes, weshalb grundsätzlich auch ein anderer Erbe oder sogar eine Erbin das Land übernehmen dürfte. Anhand der Studien in Béarn ebenso wie der in Algerien gelingt es Bourdieu, die Verkennung des ökonomischen Kalküls durch die Akteure der kulturellen Praktiken selbst darzulegen.

Ob in Algerien oder in Béarn – ein rein ökonomischer Kapitalbegriff schien unzureichend, um die Praxis der Akteure, die ja das ökonomische Kalkül ihrer Praktiken verleugnen, zu verstehen. Deshalb entwickelte Bourdieu, um der Logik der ›Ökonomie der Ehre‹ gerecht zu werden, den Begriff des symbolischen Kapitals. Diese Kapitalart fungiert als eine Art Kredit.

»In einer Wirtschaftsform, die dadurch definiert ist, daß sie sich weigert, die ›objektive‹ Wahrheit der ›ökonomischen‹ Praktiken anzuerkennenkann das ›ökonomische‹ Kapital selbst nur wirken, wenn es auch um den Preis einer Rückverwandlung, die sein wahres Wirkungsprinzip unkenntlich zu machen geeignet ist, Anerkennung findet: das symbolische Kapital ist jenes verneinte, als legitim anerkannte, also als solches verkannte Kapital …« (Sozialer Sinn 1980/1999, 215)

Ein Beispiel aus Algerien: Wenn nach der Ernte ein zweites Ochsengespann gekauft wird, obwohl nicht ausreichend Futter vorhanden ist, um es bis zum nächsten Herbst, wenn man es bräuchte, durchzufüttern, so ist dies keine »ökonomische Verirrung«. Vielmehr steigert dieses »Symbol einer reichen Ernte« das symbolische Kapital genau in der Zeit, in der die Heiratsverhandlungen beginnen.

»Dieser strategische Bluff ist insofern vollkommen rational, als die Heirat eine Gelegenheit zur (im weiteren Sinne) ökonomischen Zirkulation bietet, von der sich eine unvollständige Vorstellung macht, wer nur die materiellen Güter in Rechnung stellt…« (Entwurf einer Theorie 1972/1976, 352)

Ob bei den Algerien-Studien oder den Forschungen in seiner Heimatregion – immer geht es um alte Werte und Dispositionen, die in einer neuen Welt keinen Sinn mehr haben.14 Die Aufgabe des Ethnologen bzw. Soziologen [27]sieht Bourdieu (Travail et travailleurs 1963, 259) darin, den Sinn der Handlungen, den das koloniale System den Algeriern bzw. der Niedergang der bäuerlichen Gesellschaft den Bauern Frankreichs genommen hat, zu rekonstruieren und ihr Handeln verständlich zu machen – nicht zuletzt für die Betroffenen selbst.

2.2 Bildung: Die Illusion der Chancengleichheit

Bourdieu begann seine empirischen Arbeiten zur Bildungssoziologie 1961. Damals führte er zusammen mit J.-C. Passeron eine schriftliche Befragung von Soziologie-Studierenden an mehreren französischen Universitäten durch (Les étudiants 1964). Die zentrale Studie von Bourdieu und Passeron zum Bildungswesen, »Die Illusion der Chancengleichheit« (deren erster Teil »Bildungsprivileg und Bildungschancen« in Frankreich 1964 veröffentlicht wurde), erschien 1971 (ergänzt um einen zweiten Teil »Die Aufrechterhaltung der Ordnung«) erstmals auf Deutsch.15 Damit fiel die Publikation der Übersetzung in eine Zeit, die in Westdeutschland von den bildungspolitischen Forderungen der 68er und von den mit der Bildungsexpansion verbundenen Hoffnungen und Versprechungen geprägt war. Der Glaube an die emanzipatorische Kraft eines Bildungswesens, das allen Lernenden gleiche Chancen einräumt und nur nach Begabung ausliest, war (und ist) eine verlockende Vorstellung. Bourdieu und Passeron wiesen die Vorstellung, das Bildungssystem stünde in einem neutralen Verhältnis zum Klassensystem, klar zurück (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 16).

In ihrer Studie von 1961/1962 erforschen Bourdieu und Passeron die Auslesemechanismen im Bildungswesen anhand von Merkmalen wie der Sprache, der Fächerverteilung, der Einstellung zur Bildung; sie berücksichtigen auch scheinbar banale Phänomene wie z. B., ob sich der Student im Hörsaal in die vorderen oder die hinteren Reihen setzt. Statt sich, wie es die Logik des Bildungswesens nahe legt, auf das Examen als zentrale Ausleseinstanz zu beschränken, richten sie ihr Forschungsinteresse auf den gesamten Ausleseprozess.

Entsprechend werden zuerst Wahrscheinlichkeiten für den Besuch einer Hochschule in Abhängigkeit vom Beruf der Eltern (des Vaters; Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 249) bestimmt, anhand der Zahlen des Bureau Universitaire de Statistiques von 1961/62. Ermittelt wird wie viel Prozent [28]aus einer Berufsgruppe das Studium aufnehmen. (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 249). Berechnungsgrundlage ist die Zahl der neu immatrikulierten und nicht die Gesamtzahl der studierenden Landarbeiterkinder. Dies begründen die Autoren mit der längeren Verweildauer von Studierenden aus unterprivilegierten Klassen an der Hochschule, was diesen Studierenden in einer Gesamtstatistik ein größeres Gewicht verleihen und somit ihre geringeren objektiven Chancen verschleiern würde (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 258).

Die in Abbildung 1 dargestellten Ergebnisse zeigen das Produkt einer klassenspezifischen Auslese, nach der die

»Aussichten auf Hochschulbesuch … für den Sohn eines Führungskaders acht zigmal größer [sind] als für den eines Landarbeiters und vierzigmal größer als für den eines Arbeiters …« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 20)

Zusammenfassend halten Bourdieu und Passeron fest:

»Für die Kinder der unterprivilegierten Klassen besteht heute nur eine symbolische Chance zum Hochschulbesuch (weniger als 5 Prozent); die Chancen für bestimmte mittlere Schichten (Angestellte, Handwerker, Kaufleute), deren Anteil in den letzten Jahren gestiegen ist, betragen 10 bis 15 Prozent; für die mittleren Kader haben sich die Chancen demgegenüber verdoppelt (etwa 30 Prozent), für die Führungskader und freien Berufe liegen sie wiederum doppelt so hoch (bis zu 60 Prozent).« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 20)

Nicht nur der klassenspezifische Zugang zur Hochschule ist ein Indikator für die Ungleichheit der Bildungschancen. Im Hinblick darauf, dass die verschiedenen Fachrichtungen und Bildungsinstitutionen unterschiedliches Prestige genießen, wird der Frage nachgegangen, wie die

»Chancen für einen neuimmatrikulierten Studenten (eine Studentin) einer gegebenen sozialen Gruppe [sind], das eine oder andere Studienfach zu wählen; es geht dabei um bedingte Wahrscheinlichkeit, die den Eintritt in die Hochschule bereits voraussetzt. Sie ist ausgedrückt in der Beziehung:

neu für ein gegebenes Studienfach immatrikulierte Studenten aus einer gegebenen Berufsgruppe

neuimmatrikulierte Studenten aus derselben Berufsgruppe«.

(Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 249)

Es zeigt sich (s. Abb. 1), dass Kinder aus unterprivilegierten Klassen, wenn sie studieren, Restriktionen in Bezug auf die Wahl des Studienfaches unterliegen und auf jene Bildungsinstitutionen abgedrängt werden, die ein geringeres [29][30]Prestige haben. So studieren nur 3,6 Prozent der neu immatrikulierten Landarbeitersöhne Medizin gegenüber 14,7 Prozent der neu immatrikulierten Söhne von Freiberuflern und Führungskadern.


Abb. 1: Bildungschancen nach sozialer Herkunft. Quelle: Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, Tab. 1, 21

Der gleiche Verdrängungsprozess ist bei Studentinnen, vor allem aus der unteren Klasse, erkennbar. Berücksichtigt werden muss dabei, dass dieser Prozess wiederum umgekehrt Einfluss auf das Prestige der Bildungsinstitution und den ökonomischen und sozialen Wert der dort zu erzielenden Abschlüsse hat. Man müsse, so die Argumentation von Bourdieu und Passeron,

»in Rechnung stellen, daß ein Beruf (wie der der Lehrer an Volksschulen und höheren Schulen in Frankreich) an ›Wert‹ verliert, je mehr sein Frauenanteil steigt.« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 197)

Aus den Untersuchungen des Centre de Sociologie Européenne zur Entwicklung der Bildungschancen geht schließlich hervor, dass zwischen 1961/62 und 1965/66 zwar ein leichter Anstieg der objektiven Chancen von Kindern aus den unteren Klassen feststellbar ist, dass dieser jedoch von der Abdrängung in bestimmte Fakultäten und Studiengänge begleitet wird. So erhöhten sich in diesem Zeitraum – trotz Bildungsreformen – die Zugangschancen für Kinder aus den unteren Klassen zu einem Medizinstudium nicht, während sie für Kinder der oberen Klassen um 5,6 Prozent stiegen (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 287).

Die objektiven Chancen für den Hochschulbesuch allgemein und für den Besuch einer prestigeträchtigen Bildungseinrichtung sind eng verbunden mit den subjektiven Chancen in dem Sinne, dass z. B. für das Kind einer Landarbeiterfamilie das Studium (insbesondere eines prestigereichen Faches) keine selbstverständliche Möglichkeit darstellt. Wächst das Kind hingegen in einer Akademiker-Familie auf, sind ihm dieser Bildungs- und Lebensweg und die damit verbundene Einstellung zur Bildung vertraut, wird die Wahrscheinlichkeit des Hochschulbesuchs durch die Weitergabe vielfältiger Informationen vergrößert.

Die Entscheidung für oder gegen das Studium ist somit nicht einfach eine persönliche, sondern resultiert aus

»der Gesamtheit der objektiven Relationen zwischen sozialer Klasse und Bildungssystem …, da für das Individuum eine Bildungszukunft nur in dem Maße wahrscheinlich oder unwahrscheinlich ist, wie sie der objektiven und kollektiven Zukunft seiner Klasse entspricht.« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 178)

Die damit einhergehende Selbsteliminierung der unteren Klassen aus dem Bildungswesen reproduziert wiederum die geringen objektiven Erfolgschancen [31]der eigenen Klasse, die (unbewusst) als Orientierungspunkte für die subjektive Erwartung und schließlich die Entscheidung dienen: es handelt sich um eine self-fulfilling prophecy (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 179).

So wie die soziale Herkunft die objektiven und subjektiven Chancen, eine (und welche) Hochschule zu besuchen, bestimmt, so hat sie entscheidenden Einfluss auf das studentische Leben. Um dieses empirisch zu erfassen, griffen Bourdieu und Passeron auf unterschiedliche Indikatoren zurück, die einzelne Teilbereiche fokussieren. Als Indikator für das Gefühl von Sicherheit/Unsicherheit – Unsicherheit erwächst aus bzw. zeigt sich auch in einer längeren Studienzeit – nehmen sie die Dauer der Studienzeit (längere Studienzeiten kommen vor allem bei Unterprivilegierten vor). Für den Grad der Integration ins studentische Milieu dienen die Platzwahl im Hörsaal und die Größe des Bekanntenkreises der Studierenden. Letzterer nimmt, wie eine an der Universität Lille durchgeführte Befragung zeigt, mit steigender sozialer Herkunft zu (s. Tab. 2.12, Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 260). Das stützt die Annahme, dass die in privilegierten Familien erworbenen Fähigkeiten zur Kontaktaufnahme auch in der studentischen Umgebung integrierend wirken – eine wichtige Voraussetzung für den Zugang zu Informationen und Anregungen im studentischen Umfeld (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 51). Die Entscheidung, sich im Hörsaal auf einen Platz in vorderster Reihe zu setzen, kann als Indikator für sicheres Benehmen und Ungezwungenheit gelten; in der Tat sitzen dort diejenigen, die auch die meisten sozialen Kontakte haben (s. Tab. 2.13, Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 261).

Solche klassenspezifischen Unterschiede, die im Zusammenhang mit Chancenungleichheit selten reflektiert werden, zeigen, dass sich die Studierenden aus den oberen Klassen auf ein familiäres Erbe stützen, das sie im Studium privilegiert. Und dieses ist eben nicht bloß ein ökonomisches Erbe. So entdeckt die Analyse stillschweigende kulturelle Voraussetzungen des Bildungssystems, die von den Studierenden aus den unteren Klassen immer eine Akkulturationsleistung fordern, und weist somit Chancengleichheit als nur formal gegeben auf (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 38 ff.).

Solche verdeckten Voraussetzungen und (Eliminierungs-)Mechanismen sind auch für den Forscher nicht direkt ersichtlich. Aus heuristischen Gründen bedienen sich Bourdieu und Passeron bei ihrer Analyse der pädagogischen Kommunikation an den Hochschulen daher einer idealtypischen Konstruktion:

»Konstruiert man als abstrakte Fiktion und ohne Rücksicht auf Verwirklichungsmöglichkeiten zu methodischen Zwecken ein System, in dem die technischen [32]Bedingungen der intellektuellen Ausbildung explizit und vollkommen realisiert sind, ergibt sich ein Idealtypus der ›rationalen‹ Ausbildung. Er zeigt im Vergleich, daß die möglichen Ziele eines Bildungssystems den expliziten und impliziten Bildungswünschen und Interessen der verschiedenen gesellschaftlichen Gruppen in sehr ungleichem Maße entsprechen.« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 81)

Nach rationalen Kritierien müsste die pädagogische Kommunikation so gestaltet sein, dass die Empfänger (die Studierenden) verstehen, was der Sender (der Professor) mitteilt, dass sie also die Nachrichten entschlüsseln können. Um entsprechend dem Ziel einer rationalen Pädagogik ein minimales Gefälle zwischen Emissions- und Rezeptionsniveau bei möglichst hohem bzw. zu steigerndem Emissionsniveau zu erreichen, dürfte der Code der Wissensvermittlung nicht stillschweigend vorausgesetzt, sondern müsste selbst gelehrt werden (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 93 ff.).

Wie sieht nun die tatsächliche pädagogische Kommunikation von Seiten des Professors aus? Vor dem Hintergrund des Idealtypus wird eine professorale Sprache erkennbar, die von Anspielungen und Doppelsinnigkeiten durchdrungen ist und die Klarheit der Darstellung zugunsten einer Virtuosität des »Meisters« (dank der durch die Institution zugesprochenen Autorität) vernachlässigt (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 98 ff.). So wird beispielsweise der Begriff ›Epistemologie‹ von Professoren mit selbstverständlicher Leichtigkeit verwendet, obwohl »mit großer Wahrscheinlichkeit 45 Prozent der Studenten für diesen Begriff entweder gar nichts oder nur abwegige Bedeutungen einzusetzen wagen …« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 104, Fußn. 11).

Die Vermittlung von Techniken intellektueller Arbeit durch Übungen, Wiederholungen und Tipps (zur Anfertigung von Karteikästen usw.) wird von den Professoren als »schulmäßig« abgewertet. Legitimation verschafft sich diese Haltung durch eine Ideologie, die die intellektuelle Arbeit zu einem freien schöpferischen Akt verklärt und sich auf die Idee der natürlichen Begabung stützt (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 85 f.). Insbesondere Professoren, die der mittleren Klasse entstammen, neigen zu dieser charismatischen Ideologie, weil sie nur zum Teil an den Privilegien der Bourgeoisie partizipieren. Weiter stellen Bourdieu und Passeron fest, dass wegen der steigenden Studentenzahlen nach 1965 mehr Lehrkräfte als zuvor – aus einer schwachen Altersklasse – rekrutiert werden mussten. Insbesondere diesen unterausgelesenen Neulingen attestieren Bourdieu und Passeron eine Betonung der eigenen Virtuosität bei Vernachlässigung der Fähigkeiten und Kenntnisse der Studierenden (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 156).

[33]Auch die Studierenden sind in dieser charismatischen Ideologie befangen, wenn sie ihre Leistungen auf ihre Begabungen zurückführen und eine Vermittlung von Techniken der intellektuellen Arbeit ablehnen (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 79). Es tun dies auch jene, die nicht über die geforderte Leichtigkeit im Umgang mit der akademischen Sprache verfügen, denn in der Anonymität des Hörsaals »muß sich jeder an diesem Sein-Sollen messen, ohne zu verraten, daß er es nicht verwirklicht« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 107). Sie flüchten sich in eine verzweifelte Nachahmung der professoralen Sprache, in Zitate und vage Aussagen, die bloß eine »Karikatur der Virtuosität« darstellen (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 99). Sie schützen sich beispielsweise hinter einem vorgespiegelten Verständnis des Begriffs Epistemologie, indem sie ihn in ihre Aufsätze einstreuen (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 104). Damit verdecken – und nutzen – sie das strukturelle Missverständnis der pädagogischen Kommunikation.

Studierende und Professoren werden so zu Komplizen im Missverständnis. Beide übersehen, dass die Vermittlung intellektueller Techniken so der Herkunftsfamilie überlassen bleibt. Die klassenspezifischen Ungleichheiten in der Ausstattung mit kulturellem Kapital werden durch die Ideologie der Begabung und der Virtuosität verschleiert. Bourdieu und Passeron führen als Beispiel eine Mutter an, die ihren Sohn als »schlecht in Französisch« bezeichnet. Dadurch individualisiert sie das Problem, verschleiert sie die Abhängigkeit vom kulturellen Kapital der Familie und leitet, die Autorität des Lehrers akzeptierend, verfrühte Schlüsse aus einer Note ab (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 86 f.).