Loe raamatut: «Pierre Bourdieu», lehekülg 3

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Klassenspezifische Unterschiede in der Einstellung zur Sprache ermitteln Bourdieu und Passeron beispielsweise durch einen Vokabeltest, in dem u. a. nach der Definition eines nicht existierenden Begriffes (»Gerophagie«) gefragt wird. Ergebnis ist, dass privilegierte Sorbonne-Studenten häufiger Antworten geben (»Wenn gero von geras der Greis kommt, bezeichnet Gerophagie eine Form der Menschenfresserei, die sich mit Vorliebe auf die älteren Elemente einer Population X richtet.«) als unterprivilegierte Provinzstudenten (»Ich weiß keine Definition«; Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 114, Fußn. 21). Bourdieu und Passeron interpretieren dieses Ergebnis als Zeichen einer größeren Leichtigkeit, ja Arroganz und Frechheit der Privilegierten im Umgang mit der Sprache. Die in den Familien der oberen Klassen vermittelte ungezwungene Selbstsicherheit und Kompetenz im Umgang mit der Sprache (sie ist im Gegensatz zur Vulgärsprache abstrakter, formaler, euphemisch gedämpfter und drückt eine vornehme Distanziertheit zum Gegenüber aus; Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 111) weisen eine starke Nähe zu den stillschweigend vorausgesetzten Anforderungen des Bildungssystems auf. So

[34]»bildet die ungleiche Verteilung des bildungstechnisch rentablen sprachlichen Kapitals auf die verschiedenen sozialen Klassen eine der verborgensten Vermittlungen für die (statistisch greifbare) Abhängigkeit zwischen sozialer Herkunft und Bildungserfolg, auch dann, wenn dieser Faktor je nach der Konstellation, in der er steht, und infolgedessen je nach den verschiedenen Schultypen und Stufen des Studienganges, ein unterschiedliches Gewicht hat.« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 110)

Am Beispiel der (Einstellung zur) Sprache wird deutlich, warum die Relationen zwischen Bildungssystem und Klassensystem und nicht allein das Kommunikationsverhältnis Grundlage der Analyse sein müssen: Nur so kann die Annahme, der gebildete Habitus sei das Produkt des Bildungswesen, als Ideologie aufgewiesen, nur so kann gezeigt werden, dass das Bildungssystem

»im Extremfall nur einen Klassenhabitus, der außerhalb des Bildungswesens entstanden ist und die Grundlage alles schulischen Lernens bildet, benutzt und sanktioniert.« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 222)

Zur Sprache, aber auch zu Geschmack und Kennerschaft im Bereich der Kunst legt Bourdieu die sachliche und zeitliche Nachrangigkeit der Schule im Verhältnis zum Erwerb kulturellen Kapitals in der Herkunftsfamilie dar. Der selbstverständliche Umgang und die allmählich wachsende Vertrautheit mit Kunstwerken im Herkunftsmilieu ähnele dem Meister-Schüler-Verhältnis des Lernens: Es entsteht dabei eine Kennerschaft, die ihre eigenen prinzipiellen Grundlagen nicht explizit machen kann und auch nicht muss, weil sie durch lange Jahre der Vertrautheit zur Selbstverständlichkeit gewachsen ist. Der Erwerb von entsprechender Kompetenz in der Schule jedoch geschieht, wenn die Herkunftsfamilie ein quasi-natürliches Hinweinwachsen nicht ermöglicht hat, nachträglich, in der Absicht, den Zeitverlust (im Verhältnis zur Familienerziehung) aufzuholen, sowie mittels einer gewissen »Rationalisierung«: Die Schule muss Kenntnisse im Bereich der Kunst auf Regeln und Rezepte, Taxonomien und Prinzipien stützen, muss die langsam aus unmittelbarer Erfahrung und unmittelbarem Umgang stammende Vertrautheit durch eine auch theoretisch fundierte Ästhetiklehre ersetzen (Feine Unterschiede 1979/1999, 121 ff.). Insofern ist der Erwerb des einschlägigen kulturellen Kapitals für jene Kinder, die eine Vertrautheit nicht aus der Herkunftsfamilie mitbringen, in doppelter Weise kompensatorisch: Erstens wegen des Versuchs, »die verlorene Zeit noch aufzuholen« (Feine Unterschiede 1979/1999, 123), und zweitens wegen des »Erwerbsstils«, nämlich nicht durch langsam wachsende Vertrautheit, sondern mittels pädagogisch und theoretisch durchdachter Regeln und Rezepte.

[35]Entgegen vorherrschenden Vorstellungen ist somit nicht das Examen die zentrale Ausleseinstanz, die Auslese findet viel früher statt (vgl. Interview Wie die Kultur 1966/2001, 21).

Im Vergleich zum Idealtypus einer rationalen Ausbildung wird ersichtlich, wessen »expliziten und impliziten Bildungswünschen und Interessen« (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 81) das Bildungssystem dient. Die charismatische Ideologie (Virtuosität der Dozenten, wissenschaftliche Arbeit als freies Schöpfertum) und die Annahme von der Gleichheit der Studierenden in einem vom Klassensystem unabhängigen Bildungssystem verdecken die ungleichen Bildungschancen und legen die Verantwortung in jeden Einzelnen bzw. in die Natur der Menschen, in ihre Begabung. So wird deutlich, dass die Auslesemechanismen die privilegierten Studenten gewissermaßen ein zweites Mal bevorteilen, indem ihre sozialen Privilegien, die das Bildungssystem ignoriert, in einen Bildungsvorteil, indem soziale Zugangschancen in Bildungsqualifikationen umgewandelt werden (Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 190).

Das Ergebnis, das Bourdieu immer wieder zu belegen sucht: Die Behauptung der Chancengleichheit im Bildungssystem bemäntelt nur, dass der Schulerfolg entscheidend von dem aus dem Elternhaus mitgebrachten kulturellen Kapital abhängt. Das Bildungssystem erfüllt vielmehr eine konservative Funktion, indem es, statt Chancen zu eröffnen, das kulturelle Privileg bewahrt und legitimiert und dadurch zur Perpetuierung der Sozialordnung beiträgt. Die Schule hat eine herrschaftssichernde Funktion: Sie bringt den Kindern der beherrschten Klassen den Respekt vor der herrschenden Kultur bei, ohne ihnen den Zugang dazu zu ermöglichen (Feine Unterschiede 1979/1999, 619; auch: Symbolische Gewalt 1970/1973, 57)

Jenseits dieser heimlichen bzw. paradoxen Funktionen des Bildungssystems übersieht Bourdieu jedoch nicht

»den immer wichtigeren Beitrag des Bildungssystems zur sozialen Reproduktion, was dieses zu einem immer heißer umkämpften Gegenstand in den sozialen Auseinandersetzungen geraten läßt.« (Homo academicus 1984/1998, 257)

Denn das Bildungssystem ist dabei,

»zum offiziellen Instrument der Verteilung des Rechts auf Besetzung einer ständig wachsenden Zahl an Positionen und zu einem Hauptmittel der Erhaltung beziehungsweise Veränderung der Struktur der Klassenverhältnisse durch Wahrung beziehungsweise Änderung der Quantität und (sozialen) Qualität der Positionsinhaber innerhalb dieser Struktur zu werden …« (Homo academicus 1984/1998, 257, Fußn. 3)

[36]Das Bildungssystem ist für demokratische Gesellschaften das am besten geeignete Instrument, um die bestehenden Sozialstrukturen zu reproduzieren, weil es ohne die Brutalität von Hierarchiebezügen auszukommen scheint:

»… unter all den Lösungen, die im Laufe der Geschichte für das Problem der Übermittlung der Macht und der Privilegien gefunden worden sind, gibt es zweifellos keine einzige, die besser verschleiert ist und daher solchen Gesellschaften, die dazu neigen, die offenkundigsten Formen der traditionellen Übermittlung der Macht und der Privilegien zu verweigern, gerechter wird als diejenige, die das Unterrichtssystem garantiert, indem es dazu beiträgt, die Struktur der Klassenverhältnisse zu reproduzieren, und indem es hinter dem Mantel der Neutralität verbirgt, daß es diese Funktion erfüllt.« (Kulturelle Reproduktion 1972/1973, 93, auch 108; ähnlich: Illusion der Chancengleichheit 1964/1971, 190)

Dieses Ergebnis, welches der Idee von der befreienden Kraft des Bildungswesens radikal widerspricht, führte übrigens dazu, dass Bourdieus Arbeiten in den 1970er Jahren als anti-revolutionär und konservativ eingestuft wurden. Bourdieu meint dazu in einem Interview: »Wenn Sie sagen, ›die Dinge sind so‹, dann denkt man, dass Sie sagen, ›sie sollen so sein‹ …« (Interview Politik zum Intellektuellen 1999/2001, 174)

Die pädagogischen Konsequenzen aus diesen Befunden formuliert Bourdieu verhalten und arbeitet sie nicht zu einem eigenen Bildungskonzept aus. Jedoch steht fest:

»Die Soziologie der kulturellen Ungleichheiten ist die einzig mögliche Grundlage einer Pädagogik, die sich nicht auf psychologische Abstraktionen stützen will.« (Les étudiants 1964, 123; ins Deutsche übersetzt von den Autoren)

Von hier aus arbeitet Bourdieu verschiedentlich an Ansatzpunkten für eine »rationale Pädagogik«, z. B. auch als Vorsitzender (neben François Gros) einer vom Minister für das nationale Erziehungswesen 1988 einberufenen »Kommission zur Neubestimmung der Unterrichtsinhalte« (vgl. Unterrichtsinhalte 1989/2001, 153 ff.). Aus diesen Vorschlägen ergibt sich, dass für Bourdieu aus der Analyse des Bildungssystems keineswegs Defaitismus folgen muss (etwa im Sinne einer deprimierten Abwertung der Anforderungen, die Universität und Wissenschaft an alle Studierenden stellen, nachdem deren heimliche Funktion »entlarvt« ist). Als wichtigstes Hilfsmittel nennt er: Die akademischen Dozenten müssten sich dazu verstehen, insbesondere den Studierenden aus Familien mit geringem kulturellen Kapital zunächst die Techniken des Studierens und des wissenschaftlichen Arbeitens zu lehren. Auch den Lehrern an den Schulen macht Bourdieu entsprechende Vorschläge.

[37]Den beachtlichen Publikumserfolg der bildungssoziologischen Studien von Bourdieu und Passeron in den 1960er und 1970er Jahren sieht Pollak (1978, 61 f.) darin begründet, dass sich viele Studierende und Intellektuelle jener Jahre darin wiedererkennen konnten: Gerade diejenigen, die mit dem Studium die Hoffnung auf sozialen Aufstieg verbunden hatten, sahen sich auf dem Arbeitsmarkt um ihre Chancen gebracht. In Westdeutschland dürfte die breite Durchsetzung des Grundgedankens auch darauf zurückgehen, dass er es der Linken ermöglichte, eine selbstständig-kritische Haltung zu den sozialdemokratisch und bürgerlich-liberal getragenen Bildungsreformen einzunehmen und auf deren Paradoxien hinzuweisen. Das Argument, dass Bildungsreform keine Gesellschaftsreform erreichen könne, gestattete es den Linken, auf der Notwendigkeit einer revolutionären Gesellschaftsveränderung zu bestehen. Andere könnten seine Analysen als Rechtfertigung für ihre hilflos-defaitistische Ablehnung jeglicher Anforderungen des Bildungssystems missverstanden haben.

2.3 Klassenstruktur und Lebensstile: Die feinen Unterschiede

Kann die Frage nach der Bevorzugung von kräftigem Schweinefleisch und aufwändigen Topfgerichten wie dem pot-au-feu (basierend auf preisgünstigem Suppenfleisch) gegenüber Fisch und kalorienarmer Nahrung (Feine Unterschiede 1979/1999, 301 ff.), die Frage nach der Ausübung von Hobbys wie Tennis, Angeln, Wasserski, oder die nach der Auffassung, dass sich ein Kohlkopf als Motiv für ein schönes Foto eigne (Feine Unterschiede 1979/1999, 74); können solche Fragen nach Geschmack und alltagsästhetischen Einstellungen im Interessenfeld der Soziologie liegen? Bourdieu wendet sich in der 1982 erstmals auf Deutsch erschienenen und mit großem Interesse aufgenommenen Studie »Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft« (orig. 1979) solchen scheinbar banalen Fragen zu, um an ihnen die Logik kultureller Praktiken sowie deren Gebundenheit an die Struktur der (Klassen-)Gesellschaft zu erläutern.

Das vorherrschende Alltagsverständnis spricht den (hoch-)kulturellen Gütern und Praktiken eine soziale Dimension ab. Danach ist der Geschmack eine persönliche Eigenschaft. Dass man die »Kunst der Fuge« der »Schönen blauen Donau« vorzieht, wird als eine persönliche Neigung verstanden, die auf die Kultiviertheit eines Musikkenners und -genießers verweist. Auch in der Soziologie wirkt die Idee vom »natürlichen Geschmack« so selbstverständlich, dass sich dieser Phänomenbereich der soziologischen Betrachtung lange Zeit weitgehend entzogen hat; insbesondere der Umgang mit den [38]hohen Künsten, mit der Musik und der Malerei, ist selten Gegenstand einer soziologischen Analyse geworden.16

Diese Naturalisierung des Geschmacks stellt Bourdieu in Frage, indem er die Verteilung der verschiedenen Lebensstile erfasst, typische Kombinationen von Lebensstilen entdeckt und fragt, warum gerade sie zusammen auftreten bzw. klassenspezifisch verteilt sind. Wie erklärt sich zum Beispiel der enge Zusammenhang zwischen der Vorliebe für Tennis, fürs Boulevardtheater und für Whisky bei den Führungskräften in der Privatwirtschaft, während Landwirte Fußball und Rugby als Sportarten präferieren sowie bevorzugt Landwein, Brot und Kartoffeln konsumieren? Wie erklärt sich, dass Praktiken aus so verschiedenen Bereichen wie Sport und Getränkewahl miteinander korrelieren und dass sie mit der Klassenstruktur zusammenhängen?

Ziel von Bourdieus Analyse ist es,

»in der Struktur der sozialen Klassen das Fundament der Klassifikationssysteme auszumachen, welche die Wahrnehmung der sozialen Welt strukturieren und die Gegenstände des ästhetischen ›Wohlgefallens‹ bezeichnen.« (Feine Unterschiede 1979/1999, 14)

Der Geschmack wird somit zu einem zentralen Merkmal von Klasse – »Klasse« im doppelten Sinne von »sozialer Klasse« und von »Klasse haben« (Feine Unterschiede 1979/1999, 18). Aus der Verteilung der Wahrnehmungsmuster und Lebensstile ergibt sich die Frage nach der sozialen Anerkennung der diversen kulturellen Praktiken, also z. B. nach dem unterschiedlichen Legitimitätsanspruch der »Kunst der Fuge« oder der »Schönen blauen Donau«, von kräftigem Schweinefleisch oder von Fisch. Soziologisch interessant ist, wie sich in der sozialen Wertschätzung der Gegenstände bzw. der kulturellen Praktiken die soziale Hierarchie der Konsumenten spiegelt, wie die herrschende Klasse ihre Praktiken als die legitimen und »hohen« definiert und durchsetzt.

Bourdieu weiß, dass er mit seinem Vorhaben, neben Bereichen wie Kleidung, Getränke oder Sport auch die Kunst in Hinblick auf die sozialen Bedingungen zu hinterfragen und sie aus ihrer scheinbar separaten Sphäre in die alltägliche Konsumwelt zu überführen, für die Vertreter der Idee des legitimen Geschmacks einen »barbarischen« Akt an einem sakralen Gegenstand [39]begeht (Feine Unterschiede 1979/1999, 26 f.). Denn mit der Aufdeckung ihrer sozialen Dimension bestimmt sich der Wert der hohen Künste nicht mehr durch ihr Wesen, sondern durch die soziale Hierarchie ihrer Vertreter, wird also die »gesellschaftlich anerkannte Hierarchie der Künste« in ihrer Selbstverständlichkeit in Zweifel gezogen.

Bourdieu verwendet in der Studie, wie er selbst sagt, einen weit gefassten, der Ethnologie entlehnten Begriff von Kultur (Feine Unterschiede 1979/1999, 171). Dadurch sei es möglich, Geschmack in Hinblick auf Speisen, auf die Besichtigung einer Kunstausstellung, auf Kleidungsstücke und auf das Hören von klassischer Musik gemeinsam zu erforschen und in ein und derselben Dimension zu analysieren.

Wie der Geschmack zur Reproduktion der Klassenstruktur beiträgt, indem er Menschen ähnlicher Klassen zusammenführt und sie zur Ablehnung anderer Lebensstile und damit zur Ablehnung von Menschen aus anderen, insbesondere unteren Klassen bringt, gar diesen gegenüber Ekel auslöst, untersucht Bourdieu an verschiedensten Aspekten. Selbst Liebe und Freundschaft werden durch den Geschmack bestimmt; wenn zwei Menschen am jeweils anderen einen ähnlichen Habitus erkennen, so ist die Chance groß, dass sie sich zusammentun. Dies erklärt für Bourdieu auch die Tatsache, dass es auch heute noch voneinander abgegrenzte Heiratskreise gibt (Feine Unterschiede 1979/1999, 373 ff.).

Grundlage der Untersuchung sind, nach vorausgehenden Intensivinterviews und ethnografischen Beobachtungen, 692 in Paris, Lille und in einer französischen Kleinstadt durchgeführte Interviews aus dem Jahre 1963, die 1967/68 durch 525 weitere Interviews ergänzt wurden. Zusätzlich nutzt Bourdieu vorliegendes Datenmaterial aus anderen Forschungsinstituten (Feine Unterschiede 1979/1999, 811 ff.). Diese Pluralität von Methoden und Datenquellen wirft zwar die Schwierigkeit auf, dass die verwendeten Begriffe je nach Operationalisierung nicht immer einheitlich verwendet werden (z. B. »soziale Position«), hat aber den Vorteil, dass ein differenziertes Bild vom Zusammenhang zwischen sozialer Position und Lebensstil entstehen kann.17

[40]Der 1967/68 verwendete Fragebogen (Feine Unterschiede 1979/1999, 800 ff.)18 umfasst neben sozialstatistischen Angaben zum Bildungsabschluss, zur Herkunft des Vaters, zum Einkommen etc. Fragen

• zu verschiedenen Wissensgebieten, so nach der Kenntnis von Filmregisseuren oder Musikwerken: »Welche Musikstücke aus der folgenden Liste kennen Sie? Können Sie jeweils den Namen der Komponisten nennen?« (vorgegeben wurden z. B. »Rhapsody in blue«, »Die schöne blaue Donau« und »Die Kunst der Fuge«);

• zu diversen kulturellen Praktiken wie der Häufigkeit verschiedener Freizeitaktivitäten (Basteln, Fernsehen, ob und welches Musikinstrument man spielt etc.), zur Bewirtung von Gästen (»Wenn Sie Gäste haben, welche Speisen servieren Sie dann am liebsten?«: – »einfach aber hübsch angerichtet«, »feine und erlesene«, »reichhaltige und gute« etc.), zu Museumsbesuchen oder Radiosendungen, die bevorzugt gehört werden, zur eigenen Alltags- und Festtagskleidung;

• zu ästhetischen Einstellungen, z. B. zu Lieblingsmalern und Filmen, zu schönen und interessanten Fotomotiven, Aussagen über die Malerei (Zustimmung/Ablehnung von Aussagen wie »Die moderne Malerei ist einfach so dahingemalt, das könnte jedes Kind genausogut« oder »Name und Stil eines Malers sind mir gleichgültig«).

Die drei Bereiche sind im Fragekatalog miteinander verflochten. So wird zum Thema Mobiliar nicht nur der tatsächliche Stil, sondern auch der gewünschte erfragt. Vorgegeben wurde eine Liste von Eigenschaftswörtern (»sauber«, »komfortabel«, »stilvoll«, »nüchtern«, »warm«, »pflegeleicht« etc.), aus der jeweils die wichtigsten und unwichtigsten genannt werden sollten.

[41]Bemerkenswert ist, wie Bourdieu (entsprechend seiner Abneigung gegen Bindestrich-Soziologien) ein breites Spektrum von Geschmacksbereichen – von Fotomotiven über Musikpräferenzen bis zu Nahrungsvorlieben – in ein und demselben Fragebogen erfasst, um aufzeigen zu können, dass diese Bereiche der gleichen Logik folgen (Feine Unterschiede 1979/1999, Kapitel 4.1). Der Vielfalt der Indikatoren für Lebensstile wurde so bei der Konstruktion des Fragebogens der Vorzug gegeben gegenüber einer genaueren Erhebung einzelner Bereiche. Wenn auf diese Weise pro Bereich (etwa zum Museumsbesuch) nur wenige Fragen gestellt wurden, wird die Auswahl der als relevant erachteten – teilweise im Pretest ermittelten – Merkmale eines jeden Indikators umso wichtiger. Dabei beruhen die als signifikant erachteten Merkmale auf einer Reihe von Prämissen (Feine Unterschiede 1979/1999, 790), so beispielsweise auf der Annahme, dass bei Museumsbesuchen nicht nur die Angabe der Häufigkeit, sondern vor allem auch die Frage, für welche Museen man sich entscheidet, sowie der soziale Rahmen dieser Aktivität (mit der Schulklasse oder allein) für die Differenzierung der Klassen(fraktionen) von Bedeutung sind.19

Fragen, die die quantitative Erhebung – den Fragebogen bezeichnet Bourdieu als unvollkommenes, aber doch aussagekräftiges Messinstrument (Feine Unterschiede 1979/1999, 790 f.) – offen ließ bzw. neu aufwarf, wurden auf anderem Wege weiterverfolgt. Teile der aus diesem wenig systematischen Vorgehen resultierenden Befunde sind im Buch in Form von Bildern oder Originalaussagen zu finden. Über ihren illustrativen Charakter hinaus können diese Originalaussagen etwas zeigen, was die standardisierte Erhebung verdeckt: Mittels des Fragebogens kann zwar eingefangen werden, ob die Befragten »Das wohltemperierte Klavier« und dessen Komponisten kennen; doch bleibt die Frage, ob ein Gespräch darüber gelassen und selbstsicher geführt werden könnte, offen. Der ethnografische Zugang ermöglicht es, Eindrücke von den (klassenspezifischen) Wahrnehmungs- und Handlungsschemata, z. B. der Art und Weise, über ein Kunstwerk zu sprechen, und von [42]verschiedenen »Arten« des Sehens zu gewinnen. Zudem könnten bei einigen Probanden, die der hohen Kultur fern stehen, die Wissensfragen in der standardisierten Erhebung Entmutigung und Frustration auslösen – diese Gefahr wird durch den ethnografischen Zugang vermieden.

Um anhand der quantitativen Daten den Zusammenhang zwischen den Lebensstilen und den sozialen Positionen zu erfassen bzw. die Klassen(fraktionen) anhand der Ausprägungen der unterschiedlichen Lebensstile zu beschreiben, bedarf es eines multivariaten Analyseverfahrens, das mit den unterschiedlichen Messniveaus (z. T. nur nominal) operieren kann. Bourdieu verwendet hier ein Auswertungsverfahren, das in Deutschland bis dahin wenig bekannt war: die Korrespondenzanalyse (vgl. Blasius 1987; Blasius 2001; Fricke 1990; Blasius/Schmitz 2013).

Exkurs:

Die Korrespondenzanalyse ist ein multivariates statistisches Auswertungsverfahren, welches seit den 1960er Jahren in Frankreich vor allem von Jean-Paul Benzécri ausgearbeitet wurde. Sie kann eine Mehrzahl von Variablen (deshalb: multivariat) auf Gemeinsamkeit bzw. Verschiedenheit, d. h. auf »Korrespondenzen« hin analysieren. Geeignet ist die Korrespondenzanalyse besonders zur Analyse von Kontingenztabellen (Kreuztabellen), aber auch von Indikatortafeln (die durch 1 oder 0 angeben, ob eine Variable einen Wert aufweist oder nicht).

Der Vorteil der Korrespondenzanalyse gegenüber verwandten multivariaten Analyseverfahren (Faktorenanalyse, Clusteranalyse) besteht erstens darin, dass die Daten, mit denen sie arbeitet, auf niedrigem Niveau gemessen sein können (auf nominalem Meßniveau, wie z. B. die Variable Geschlecht).20 Die wichtigste Voraussetzung ist, dass keine negativen Werte vorkommen. Zweitens bietet die Korrespondenzanalyse neben numerischen Ergebnissen21 eine Visualisierung ihrer Ergebnisse in einem normalerweise zweidimensionalen Raum (gebildet durch ein Achsenkreuz; vgl. Abb. 3)

Nehmen wir als beispielhaften Ausgangspunkt für die einfache oder binäre Korrespondenzanalyse eine Tabelle (vgl. Abb. 2) von Ausprägungshäufigkeiten, die in den Spalten Berufsgruppen unterscheidet, in den Zeilen das Lebensstilmerkmal Möbelkauf (im Kaufhaus, auf dem Flohmarkt usw.) angibt.

[43]

Abb. 2: Kontingenztabelle

So sind die Ausprägungshäufigkeiten des Lebensstilmerkmals

»bestimmt durch ihr empirisches Vorkommen in den korrespondierenden Variablen – entsprechend Bourdieus feinen Unterschieden‹ sind dies die ›sozialen Positionen‹, also die ›Berufspositionen‹. D. h., die Dimension (das Zeilenprofil) ›Möbelkauf im Kaufhaus‹ hat Elemente in den Ausprägungen der Variable ›Berufsposition‹, also z. B. in ›Kunstproduzent‹ oder ›Hochschullehrer‹.«

Und umgekehrt:

»Die Dimensionen des ›Raums sozialer Positionen‹ entsprechen den unterschiedlichen Berufspositionen, die ihre Ausprägungshäufigkeiten u. a. in den Merkmalen der Lebensstile haben. So hat die Dimension (das Spaltenprofil) ›Hochschullehrer‹ u. a. ein Element beim ›Möbelkauf im Kaufhaus‹.« (Blasius 2000, 89)

Um nun die Kovarianz zu untersuchen, wird diese Tabelle von Ausprägungshäufigkeiten zunächst rechnerisch transformiert (im Hinblick auf Zeilen-und Spaltensummen), ohne dass sich an den Proportionen etwas ändert. Die transformierte Tabelle bildet nun den Ausgangspunkt der Korrespondenzanalyse.

Die Korrespondenzanalyse sucht nach einer möglichst sparsamen Beschreibung beider Verteilungsprofile, also sowohl der Berufsgruppenkorrespondenzen des Merkmals Möbelkauf im Kaufhaus wie der Möbelkaufkorrespondenzen der Berufsgruppen, berücksichtigt somit Zeilen wie Spalten der Tabelle. Zeilen und Spalten der Kontingenztabelle werden als Vektoren (Vektoren der Zeilen- und Spaltenprozente) in einem mehrdimensionalen Raum [44]aufgefasst und nach Möglichkeit so in einen gemeinsamen Unterraum projiziert, dass eine anschauliche Darstellung möglich wird. Dies geschieht dadurch, dass die Häufigkeiten in der Kontingenztabelle auf zugrunde liegende Faktoren hin geordnet werden.

»Die Faktoren werden als latente Variablen interpretiert, deren Korrelation mit den manifesten Variablen bzw. mit den Variablenausprägungen [hier: Berufsgruppen und Möbelkauf] als Faktorenladungen bezeichnet werden.« (Blasius 2000, 85)

Die beiden Faktoren, die die meiste Varianz erklären, bilden die Achsen des Koordinatensystems eines zweidimensionalen Raums, in den die Variablenausprägungen projiziert werden. Die durch die erste Achse (hier: die Kapitalstruktur) erklärte Varianz ist größer als die der zweiten.

Ergebnis ist also ein zweidimensionaler Raum mit Koordinatenkreuz (Achsenkreuz), in dem sowohl die Berufsgruppen wie das mit ihnen variierende Merkmal (Möbelkauf im Kaufhaus) eine bestimmte Lage erhalten. Nähe und Distanz von Variablen in diesem Raum zeigen deren Wahlverwandtschaft bzw. inhaltliche Ferne auf.

Die Variablenausprägungen im Raum des kleinbürgerlichen Geschmacks (siehe Abb. 3), die nahe am Koordinatenursprung liegen (z. B. «3 bis 6 Komponisten kennen«), entsprechen den durchschnittlichen Werten innerhalb des Raums und werden kaum von den latenten Variablen erklärt, wohingegen die Variablenausprägungen, die am Rand einer Achse liegen (z. B. »mehr als 11 Komponisten kennen«), hoch auf der Achse laden, also mit dieser latenten Variable stark korrelieren.

Weiter beschreibt die relative Nähe von zwei Ausprägungen der Lebensstilvariablen in Abb. 3 (z. B. von »mehr als 11 Komponisten kennen« und »Vorliebe für Flohmärkte zum Möbelkauf« bei Menschen, die mehr kulturelles als ökonomisches Kapital haben) eine Assoziation zwischen den Ausprägungen.22 Einzelergebnisse (also etwa die Lage eines Merkmals) werden also nicht für sich, sondern im Hinblick auf ihre Beziehungen zueinander, auf ihre Konstellation hin interpretiert.

Die Abbildung in einem zweidimensionalen Raum ist nicht vertretbar, wenn dadurch die Gesamtvarianz in zu kleinem Anteil abgebildet würde. Anders gesagt: Die Visualisierung in einem zweidimensionalen Raum geht gewöhnlich mit einem mehr oder weniger großen Informationsverlust einher. [45]In den meisten Fällen ist der Informationsverlust jedoch vertretbar (Fricke 1990, 32; ähnlich Schnell 1994, 189).

Gegebenenfalls wird das erste Ergebnis einer Korrespondenzanalyse (in Gestalt eines Achsenkreuzes) so rotiert, dass die Korrespondenzen zu bestimmten grundlegenden Merkmalen (etwa Alter, Geschlecht, Bildungsniveau) eindeutiger sichtbar werden. Die Rotation der Achsen ändert nicht die Ergebnisse, sondern nur ihre Darstellungsform.

Im Unterschied zu dieser einfachen kann die multiple Korrespondenzanalyse Tabellen von mehr als zwei Variablen analysieren. Hierzu ist zu Beginn eine Transformation der Ausgangsdaten in eine Indikatortafel nötig, die das Auftreten/Nichtauftreten der einzelnen Ausprägungen von mehr als zwei Variablen durch 1 und 0 angibt (vgl. Fricke 1990, 105 ff.; Jambu 1992, 213 ff.; Schnell 1994, 198).

In »Die feinen Unterschiede« verwendet Bourdieu die einfache Korrespondenzanalyse, in »Homo academicus« hingegen die multiple (dazu: Blasius 2000).23 Einfache und multiple Korrespondenzanalyse sind nicht unterschiedliche Methoden, sondern unterschiedliche Anwendungsformen ein und derselben Methode (Jambu 1992, 149).

Die grafische Ergebnisstruktur von Korrespondenzanalysen könnte zu subjektiven Interpretationen verleiten (u. a. weil Zeilen- und Spaltenprofile nicht direkt miteinander vergleichbar sind)24 und sollte deshalb mit Vorsicht ausgewertet werden.

Um zunächst den Raum der sozialen Positionen zu erfassen, wertet Bourdieu die Daten von mehreren INSÉE-Erhebungen aus. Anhand der synchronen und diachronen Verteilung von Kapitalumfang und Kapitalstruktur (d. h. der Relation von ökonomischem und kulturellem Kapital) lassen sich drei Klassen und ihre Fraktionen beschreiben:

• die »herrschende Klasse«, aufgeteilt in die Fraktionen der »herrschenden Herrschenden« (mit hohem ökonomischen und geringerem kulturellen Kapital, z. B. Leiter von Handels- und Industrieunternehmen) und der »beherrschten [46][47][48]Herrschenden« (mit hohem kulturellen und geringerem ökonomischen Kapital, z. B. Hochschullehrer und Kunstschaffende); eine Zwischenstellung nehmen die Freiberufler wie Architekten und Ingenieure ein;

• das Kleinbürgertum, wobei unterschieden wird zwischen dem aufsteigenden, dem exekutiven und dem neuen Kleinbürgertum (dazu unten mehr);

• die Klasse der Beherrschten, die über wenig ökonomisches und wenig kulturelles Kapital verfügt (wobei zufolge der empirischen Analyse keine Differenzierung in Fraktionen erforderlich ist).


Abb. 3: Varianten des kleinbürgerlichen Geschmacks. Quelle: Feine Unterschiede 1979/1999, Diagramm 15, 533 (überarbeitet)

Klasse sei dabei, so betont Bourdieu, nicht gleichzusetzen mit Beruf, sondern umfasse auch solche Merkmale wie klassenspezifische Habitusformen, geografische, geschlechtliche Verteilung etc. (Feine Unterschiede 1979/1999, 176). Auf dem Lande aufgewachsen zu sein oder ein bestimmtes Alter überschritten zu haben, kann demnach zu einem realen Ausleseprinzip werden und schlägt sich in der »Klassenposition« nieder – Wirkungen, die in den meisten Untersuchungen vernachlässigt würden. Klassen(fraktionen) werden demnach nicht a priori definiert, sondern sind Ergebnis der Datenanalyse, stellen homologe Positionen verschiedener Merkmalsausprägungen im sozialen Raum dar. In Darstellung und Analyse nutzt Bourdieu allerdings meist nur das ökonomische und das kulturelle Kapital und deren Konstellation. Nur bei Teilargumenten werden andere Dimensionen von Klasse (Alter, Geschlecht, ethnische Zugehörigkeit) hinzugenommen.

Wie unterscheiden sich nun die Geschmäcker? Über die verschiedenen Themenbereiche hinweg sind klare Muster der Assoziation von kulturellen Praktiken und ästhetischen Einstellungen erkennbar, die drei Klassen des Geschmacks bilden: den legitimen, den mittleren bzw. prätentiösen und den populären Geschmack.