Loe raamatut: «Pierre Bourdieu», lehekülg 4

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»Legitimer« Geschmack ist nicht als normative Setzung von Bourdieu misszuverstehen. Vielmehr fußt diese Bezeichnung auf einer sozial geteilten Beurteilung, die sich bei den Kleinbürgern beispielsweise im angestrengten Nacheifern des Geschmacks der herrschenden Klasse dokumentiert oder darin, dass auch jene Kleinbürger, die keine Gelegenheit zu einem Theaterbesuch haben (weil sie beispielsweise fern von Paris wohnen oder älter sind), der Aussage, dass das »Theater geistig erbaut«, häufig zustimmen.

Der legitime Geschmack bzw. die ästhetische Einstellung zeichnen sich durch die Betonung der Form gegenüber dem Inhalt von kulturellen Gütern bzw. Praktiken jeglicher Art aus. Demnach wird Kunst nicht nach ihrer sozialen oder persönlichen Funktion (Erbauung, Belehrung o. Ä.) beurteilt und die Speise nicht vorrangig danach, ob sie sättigt. Vielmehr gelten die Stilisierung des Essens und der Stil eines Kunstwerkes als primär gegenüber ihren möglichen Funktionen. Damit einher geht eine (ästhetische) Distanzierung, [49]die jegliche Involviertheit des Kunstwerks ins Leben und damit auch jegliches affektive oder ethische Interesse am Dargestellten vermeidet (Feine Unterschiede 1979/1999, 85 f.).

Die Bedeutung eines Kunstwerks erscheint rätselhaft, unverständlich und erweckt den Eindruck, »nicht für einen gemacht zu sein«, solange man nicht über die Codes (z. B. zur Entschlüsselung der Stilrichtung, der Epochenzuordnung durch den Vergleich mit anderen Kunstwerken) verfügt, die der Primat der Form voraussetzt. Bourdieu illustriert diesen Zusammenhang anhand der Frage, ob ein Motiv als geeignet für ein Foto erachtet wird. Der Ästhet, bei dem die Darstellung Vorrang vor dem Dargestellten hat, kann sich einen Kohlkopf oder ein Stahlgerüst als ästhetisch bemerkenswertes Motiv vorstellen, wohingegen die populäre Ästhetik nur Motive, die »schöne« oder »wichtige« Erfahrungen und Ereignisse zeigen (etwa eine Erstkommunion oder einen Sonnenuntergang), als interessante Gegenstände ansieht. Menschen mit einem »reinen« Geschmack lehnen hingegen solche »oberflächlichen« Werke, die der Entschlüsselung nicht bedürfen und sich zum Genuss aufdrängen (Feine Unterschiede 1979/1999, 761), ab und fühlen sich von ihrer Leichtigkeit abgestoßen (Feine Unterschiede 1979/1999, 757 f.). Insbesondere im Bereich des musikalischen Geschmacks wird dieser Zusammenhang offenkundig, weil die Musik die »am meisten vergeistigte aller Geisteskünste« (Feine Unterschiede 1979/1999, 41 f.) ist. Sie kommt ohne Botschaft, ohne soziale oder persönliche Funktion aus; ihr Genuss erfordert eine distanzierte Haltung zur Welt, wie sie nur im Bürgertum vorkommt (Feine Unterschiede 1979/1999, 102).

Bourdieus Untersuchung belegt empirisch, dass Geschmack nicht zufällig, sondern klassenspezifisch verteilt ist, und dass die legitimen Künste der herrschenden Klasse vorbehalten sind, während der mittlere Geschmack dem Kleinbürgertum und der populäre Geschmack der beherrschten Klasse zugehört. Kurz: Der Geschmack (die ästhetische Einstellung) indiziert die Klassenzugehörigkeit.

»Der Geschmack: als Natur gewordene, d. h. inkorporierte Kultur, Körper gewordene Klasse, trägt er bei zur Erstellung des ›Klassenkörpers‹.« (Feine Unterschiede 1979/1999, 307)

Der Konsum legitimer Kulturgüter, wie beispielsweise der »Kunst der Fuge«, verschafft entsprechend der Hierarchie der Kulturgüter einen Distinktionsgewinn, der eine akzeptierte »Hierarchie der Konsumenten« (re-)produziert. »Die Geschmacksäußerungen und Neigungen (d. h. die zum Ausdruck gebrachten Vorlieben) sind die praktische Bestätigung einer unabwendbaren Differenz« (Feine Unterschiede 1979/1999, 105), indem diese zur Basis der Selbst- und Fremdeinordnung im sozialen Raum werden und soziale Unterschiede [50]manifestieren. Die Menschen und die Gruppen grenzen sich vor allem von der jeweils sozial benachbarten Klasse ab (Feine Unterschiede 1979/1999, 111), wobei die unteren Klassen nur als eine negative Kontrastfolie wahrgenommen werden. Der distinktive Ausdruck führt Vertreter einer Klassenfraktion zusammen. Durch die Betonung der Distinktion unterscheidet sich Bourdieu übrigens von vielen anderen Autoren, die nach Zusammenhängen von sozialer Position und Lebensstil suchen.

Bourdieu weist einen engen Zusammenhang der kulturellen Wahrnehmungs- und Handlungsschemata (und damit auch der Kompetenz zur Dechiffrierung eines Kunstwerkes) mit primär dem Ausbildungsgrad und sekundär der sozialen Herkunft nach. Selbst bei »schulfernen« Kenntnissen und Praktiken (wie in den Bereichen Jazz, Filmregisseure und Mode) besteht ein enger Zusammenhang zwischen Bildungskapital und kulturellen Kompetenzen (Feine Unterschiede 1979/1999, 39 ff.). Denn neben speziellen Codes zur Interpretation kultureller Güter (Autoren, Epochen etc.) vermittelt die Schule eine allgemeine Haltung und Kompetenz, legitime Werke als solche überhaupt zu erkennen und anzuerkennen, ohne sich durch einen fehlenden Bezug zum eigenen Leben und durch eine geringe Ausdrucksfunktion irritieren zu lassen (Feine Unterschiede 1979/1999, 53, und Kap. 4.4). Die höheren Bildungswege flößen

»eine bestimmte Vertrautheit mit der Welt der Kunst ein (die konstitutiv ist für das Gefühl, zur gebildeten Klasse zu gehören), so daß man sich in ihr zu Hause und unter sich fühlt, als sei man der prädestinierte Adressat von Werken, die sich nicht dem ersten besten aus liefern« (Symbolische Formen 1970/1994, 185f.).

Des Weiteren fördert die Schule den »Anlage-Sinn«, d. h. ein Gefühl »für das richtige Anlegen kultureller Investitionen« (Feine Unterschiede 1979/1999, 151). So weiß eine Germanistin, wie sie einem Lektor gegenüber passend aufzutreten hat; sie wendet sich scheinbar instinktiv den Werken zu, die dem gehobenen Zeitgeschmack entsprechen und die sie als Kennerin auszeichnen. Dieser Effekt muss ihr nicht bewusst sein. Und eine erkennbar gezielte Distinktionsabsicht könnte sie geradezu disqualifizieren oder der Lächerlichkeit preisgeben, weil eine solche Absicht verrät, dass der »ungezwungene, interesselose Geschmack« nur vorgespiegelt wird. Als ein Aspekt der kulturellen (schulischen) Kompetenz stärkt dieser Sinn die Selbstsicherheit der Träger, die aus ihrer Position in der Hierarchie der Konsumenten heraus wiederum definieren, was legitime Kulturgüter sind, und somit ihr Anlage-Gespür selbst bekräftigen.

Zusätzlich fungiert ein erworbener Bildungstitel als Vorab-Beweis für kulturelle Kompetenz, die dem Träger nicht nur in Hinblick auf den erlernten [51]Bereich zugeschrieben wird – Statusattribute, die dem Autodidakten, der seine Kompetenz immer wieder mühsam neu beweisen muss, fehlen (Feine Unterschiede 1979/1999, 47 ff.).25

Bourdieus Untersuchung zeigt weiter, dass bei gleichem Bildungsabschluss der Einfluss der sozialen Herkunft erkennbar wird, insbesondere in Bereichen, in denen kein Schulwissen, sondern eine »ursprüngliche Vertrautheit« mit kulturellen Gütern und Praktiken gefordert ist. Das Aufwachsen in einem »geschmackvoll« eingerichteten Zuhause (Parkett statt Linoleum), der seit der Kindheit selbstverständliche Umgang mit legitimer Kunst, das Erlernen von (legitimen) Musikinstrumenten, all dies schafft einen »natürlichen« Vorsprung, der durch in der Schule erworbenes Wissen, das rationell vermittelt wird und als wenig spontan gilt, gerade im Bereich der »freien, avantgardistischen Bildung« kaum aufgeholt werden kann (Feine Unterschiede 1979/1999, 57). Der Erwerbsmodus von kultureller Kompetenz – durch frühe »automatische« Sozialisation oder durch schulmäßiges Erlernen – begründet den Unterschied zwischen dem »Mann von Welt«, der einen »reinen Geschmack« hat, und dem »pedantischen Gelehrten«. Auch das zeigt sich im Bereich der Musik besonders deutlich, deren Genuss statt erlerntem (Schul-)Wissen ein tiefes Gefühl verlangt, erworben durch das selbstverständliche Musizieren im Familienkreis mit legitimen Instrumenten (dem Stand des symbolischen Klassenkampfes entsprechend ist das eher die Geige als die Blockflöte).

Der ästhetische Sinn, der aufgrund der Ideologie vom natürlichen Geschmack nicht als Produkt bestimmter sozio-ökonomischer Bedingungen erkannt wird, stellt demnach einen »distinktiven Ausdruck einer privilegierten Stellung innerhalb des Sozialraumes dar« (Feine Unterschiede 1979/1999, 104).

»Von höchstem Distinktionsvermögen ist das, was am besten auf die Qualität der Aneignung, also auf die des Besitzers schließen läßt, weil seine Aneignung Zeit und persönliche Fähigkeit voraussetzt, da es – wie Vertrautheit mit Bildender Kunst oder Musik – nur durch anhaltende Investition von Zeit und nicht rasch oder auf fremde Rechnung erworben werden kann, und daher al sicherstes Zeugnis für die innere Qualität der Person erscheint« (Feine Unterschiede 1979/1999, 440).

Die verborgene Voraussetzung dafür, eine interessenlose Einstellung einnehmen, d. h. die Form über die Funktion setzen zu können, ist also die Freisetzung [52]aus ökonomischen Zwängen, aus den Nöten und Dringlichkeiten der Praxis, wie sie die Lebensführung der Oberschicht kennzeichnet (Feine Unterschiede 1979/1999, 103).

Bourdieu betrachtet im dritten Teil der Studie die drei Klassen getrennt voneinander, innerhalb derer die Struktur des Kapitals zwischen Fraktionen divergiert (Feine Unterschiede 1979/1999, 411). Entscheidend ist des Weiteren die soziale Herkunft bzw. die soziale Laufbahn, die den Umfang des ererbten Kapitals, den Aneignungsmodus von kultureller Kompetenz und damit den Möglichkeitsraum eines Akteurs sowie seine Auf- oder Abstiegserfahrungen erkennen lassen (Feine Unterschiede 1979/1999, 187 f.). Die Hinzunahme des Konzepts der Laufbahn dynamisiert das Modell, ohne auf eine Längsschnittuntersuchung angewiesen zu sein, um so die Unterschiede innerhalb einer Klasse, also vor allem Aufstiegs- und Abstiegsbewegungen zu kennzeichnen.

Für die herrschende Klasse sieht die Grafik der Korrespondenzanalyse wie folgt aus (Abb. 4):26

Innerhalb der herrschenden Klasse lassen sich zwei Varianten des legitimen Geschmacks unterscheiden, die Bourdieu durch den Unterschied zwischen dem »asketischen Aristokratismus« der Lehrer (deren Ausgaben im Kulturbereich relativ hoch sind; Feine Unterschiede 1979/1999, 299) und dem Luxus der Freiberufler (deren hohe Ausgaben vor allem in die Selbstdarstellung fließen) charakterisiert.

So steht der antibürgerlich-pessimistischen Weltsicht der aufgestiegenen Intellektuellen, die ihr akkumuliertes Bildungskapital nicht ausreichend in ökonomisches transformieren konnten, ein auf Tradition gegründetes optimistisches Gesellschaftsmodell derer gegenüber, die durch die Akkumulation ökonomischen Kapitals Kompetenz und Ansehen zugesprochen bekommen (Feine Unterschiede 1979/1999, 449 ff.).27 An diesem Gegensatz zeigt sich, [53]dass der Kampf um die Legitimität eines Lebensstils auch immer eine Frage der Konvertibilität des Kapitals, kurz: der Herrschaftsdurchsetzung ist (Feine Unterschiede 1979/1999, 498). Insofern ist zu beachten, dass sich aufgrund der Auseinandersetzungen zwischen den Klassenfraktionen um die Definitionsmacht die Bedeutung der Kapitalarten als Machtinstrument je nach Feld und Zeit ändert.

Als letztes in dem Diagramm ablesbares Beispiel innerhalb einer Klasse soll ein Vergleich der Hochschullehrer mit den Industriellen gezogen werden, der die Bedeutung der unterschiedlichen Kapitalstrukturen und Aneignungsmodi von kultureller Kompetenz zeigt: Während Erstere mehr Komponisten kennen, häufiger Museen und Theater besuchen und dabei das avantgardistische Theater bevorzugen, gehen Letztere, die mehr ökonomisches als kulturelles Kapital haben, in passender Garderobe eher in das kostspielige Boulevardtheater, in dem sie ihre Selbstgewissheit bestätigt finden (Feine Unterschiede 1979/1999, 458 f.). Den dabei demonstrierten bürgerlichen Protz lehnen die Intellektuellen ab, sie wenden sich stärker riskanteren Distinktionsstrategien zu, z. B. der Ästhetisierung unbedeutender Objekte (Feine Unterschiede 1979/1999, 441).

Bourdieu richtet sein Hauptaugenmerk auf das Kleinbürgertum, von dem er ein weniger sympathisches Bild zeichnet als etwa von den unteren Klassen (fast so, als folge er selbst der Ideologie des legitimen Geschmacks). Er beschreibt ausführlich das erfolglose Bestreben der Kleinbürger, der oberen Klasse nachzueifern, indem sie sich an den legitimen Objekten der herrschenden Klasse orientieren, sie damit in ihrem Legitimitätsanspruch bestätigen und sich diese eifrig anzueignen versuchen: »Der Kleinbürger ist ein Proletarier, der sich klein macht, um Bürger zu werden.« (Feine Unterschiede 1979/1999, 530)

Ihre Bildungsbeflissenheit stößt die Kleinbürger immer wieder an Grenzen. Kaum ist ein Kulturgut in ihren Händen, sinkt sein Wert und Distinktionsgewinn, da sich die herrschende Klasse von derart popularisierten Gegenständen und Praktiken rasch abwendet. So sind Ravels »Bolero«, der in der Werbung eingesetzt wird, und van Goghs »Sonnenblumen«, deren Reproduktionen in jedem Kaufhaus erhältlich sind, entwertet und dem Bereich der legitimen Kunst enthoben.28 Da die mittlere Klasse mehr von »Schein als Sein« geprägt ist, spricht Bourdieu ihr im Grunde jede eigene Kultur ab:

[54][55]

Abb. 4: Varianten des herrschenden Geschmacks. Quelle: Feine Unterschiede 1979/1999, Diagramm 11, 409

[56]»Mittlere Kultur, das ist nichts als die kleinbürgerliche Beziehung zur Kultur: falsche Objektwahl, Mißdeutung, fehlinvestierter Glaube, Allodoxiaes ist ganz einfach die Tatsache, daß die legitime Kultur nicht für ihn geschaffen ist, wenn nicht sogar gegen ihn, und er also auch nicht für sie geschaffen ist, und daß sie aufhört zu sein, was sie ist, wenn er sie sich aneignet…« (Feine Unterschiede 1979/1999, 513)

Das Kleinbürgertum stellt die am wenigsten homogene, die in größter Bewegung befindliche Klasse dar. Drei Fraktionen sind erkennbar, die unterschiedliche soziale Laufbahnen haben. Die soziale Laufbahn beschreibt dabei den gesellschaftlichen Auf- bzw. Abstieg und die daran gebundene Vorstellung von der Zukunft, die, neben dem Kapitalumfang und dessen Struktur, die mögliche Reproduktion des Kapitalbestandes beeinflussen:

1. Das absteigende Kleinbürgertum bilden vor allem ältere Kleinhändler und Handwerker, für die weder die Möglichkeit zur Wahrung der Position noch zum Wechsel in eine andere Klassenfraktion besteht (Feine Unterschiede 1979/1999, 711 f.). Dementsprechend wenden sie sich der Vergangenheit zu und schrauben ihre Ansprüche zurück. Ihre bescheidene Grundhaltung drückt sich in ihrer Präferenz für eine gepflegte Wohnung aus, für einen gewissenhaften Freund, für die traditionelle Küche und für kanonisierte Maler (z. B. da Vinci). Genießerische Lebensfreude und moderne Moral, die nicht auf Strenge, Arbeit, Ordnung gründet, lehnen sie ab (Feine Unterschiede 1979/1999, 548 f.).

2. Das exekutive, d. h. im Angestelltenbereich ausführenden Tätigkeiten nachgehende Kleinbürgertum investiert viel Zeit und Hoffnung in sein Bildungsstreben, ohne dass seine autodidaktischen kulturellen Leistungen (im Vergleich zu den Bildungsaristokraten) volle Anerkennung erhalten. Während sich die Älteren in dieser Lage eher bedroht fühlen und Sicherheit in einer konservativen, tugendhaften Haltung suchen, haben die jüngeren Aufsteiger, die eine längere Schulbildung genossen haben, ein optimistisches Weltbild und einen Fortschrittsglauben, der die damit verbundenen »asketische[n] Einstellungen mit einer devoten Haltung gegenüber der Kultur und dem Ehrgeiz« (Feine Unterschiede 1979/1999, 550) verbindet.

3. Das neue, genussorientierte Kleinbürgertum ist vor allem in den vom absteigenden Kleinbürger eher abgelehnten neuen Berufen zu finden, die zwar keine Bildungstitel voraussetzen und Berufserfolg auch bei einer unterbrochenen Laufbahn ermöglichen, aber wenig Sicherheiten bieten. Dazu zählen Berufe in der medizinisch-sozialen Betreuung, Eheberater oder Kinderpfleger, Kulturproduzenten, Animateure, Journalisten, die Verkaufs- und Vertreterberufe. Diejenigen, die zum Kleinbürgertum hierhin [57]abgestiegen sind, weisen den größten Umfang an kulturellem Kapital (Präferenz z. B. für die »Kunst der Fuge«) auf und gleichzeitig ein etwas gezwungenes Streben nach Abgrenzung vom etablierten Kleinbürgertum und damit nach Rehabilitation (Feine Unterschiede 1979/1999, 568).

Die Beschreibung der Klasse der Beherrschten nimmt nur einen kleinen Raum im Buch ein, weil der Fragebogen ihre Dispositionen nicht valide erfassen konnte und so auf andere Studien und die ethnografischen Daten zurückgegriffen werden musste.29 Diese Klasse gilt im kulturellen Spiel vor allem als Kontrastfolie, als »Natur« (Feine Unterschiede 1979/1999, 72 f.). Ihre Lebensführung ist geprägt durch zeitliche und materielle Zwänge (Feine Unterschiede 1979/1999, 585). Der eingeschränkte Raum von Möglichkeiten begründet einen bescheidenen Geschmack mit Fokussierung auf das Notwendige. In den Augen der Angehörigen oberer Klassen zeugen die Präferenz der Unterklassen für fettreiches Essen, ihre Freude an massenhaften Freizeitaktivitäten und die geringe Aufmerksamkeit gegenüber dem eigenen Äußeren davon, dass sie nicht zu leben wissen. Dieser Stigmatisierung stellt die untere Klasse, aus der Not eine Tugend machend, eine »Moral des guten Lebens« entgegen, die sich z. B. in ungezwungenem gemeinschaftlichen Essen und Trinken ohne formvollendete Servierregeln und Speiseabfolgen ausdrückt, und die sich auf ein Orientierungsmuster stützt, das der Gegenwart zugewandt ist und einen alltäglichen Hedonismus preist (Feine Unterschiede 1979/1999, 290 ff.). Symbolische Gewinne durch besondere Kleidung oder exotische Mahlzeiten werden – entsprechend den objektiven Möglichkeiten – nicht erhofft. Weder strebt man selbst nach distinktionsträchtigen Kulturgütern und -praktiken, noch akzeptiert man bei anderen Angehörigen der eigenen Klasse ein Streben danach; man erwartet Konformität innerhalb der eigenen Klasse. Hingegen wird die Extravaganz der Bourgeoisie als ein natürlicher Unterschied angesehen und als solcher akzeptiert, schließlich ist die Frau des Arztes »›geschaffen dafür, elegante Kleider zu tragen‹« (Feine Unterschiede 1979/1999, 597).

[58]Jedoch nicht nur beschränkte ökonomische Ressourcen oder fehlende Zeit begründen die Praktiken der unteren Klassen. Die Entscheidung für das Notwendige basiert vor allem auf der Vorstellung von dem, »was zu einem paßt«. Sie gründen im Klassenhabitus, demzufolge z. B. die Wahl für ein Kleidungsstück oder für einen Haushaltsgegenstand vor allem funktionalen Überlegungen folgt und kaum formal-ästhetischen Kriterien. Eindrücklich zeigt sich dies am Beispiel eines aufgestiegenen Facharbeiters, der trotz höherer ökonomischer Ressourcen dem eigenen Klassenhabitus verbunden bleibt, indem er oft Jahrmärkte und Sportveranstaltungen besucht und weniger Geld für repräsentative und Selbstdarstellungszwecke ausgibt als ein Angestellter mit ungefähr gleichem Umfang an ökonomischen Kapital. Während Ersterer etwa (Kunst-) Lederjacken präferiert, die für die Mofa-Fahrt zur Arbeit praktisch sind, wählt Letzterer einen bürgerlichen Mantel (Feine Unterschiede 1979/1999, 609).

Typisch für die Angehörigen der unteren Klasse ist, dass sie das bevorzugen, »wozu sie ohnehin verdammt sind« (Feine Unterschiede 1979/1999, 290), oder – wie im Falle des aufgestiegenen Facharbeiters – zumindest waren.

»Der Geschmack bewirkt, daß man hat, was man mag, weil man mag, was man hat, nämlich die Eigenschaften und Merkmale, die einem de facto zugeteilt und durch Klassifikation de jure zugewiesen werden« (Feine Unterschiede 1979/1999, 285f.).

Die materiellen Möglichkeiten und das Denken unterliegen denselben Beschränkungen (Feine Unterschiede 1979/1999, 378), vermittelt durch den Habitus. So spielen Angehörige der unteren Klasse selten Golf; nicht nur aus Kostengründen, sondern auch deshalb, weil dieser Sport ihrem Verhältnis zum eigenen Körper widerspricht, weil er bestimmte Geselligkeitsformen verlangt und ein frühzeitiges Wissen darum, wie man sich auf dem Golfplatz bewegt – also kulturelle Kompetenzen, die der oberen Klasse vorbehalten sind (Feine Unterschiede 1979/1999, 345; vgl. Moderner Sport 1985, 581).

Die Beispiele und Sachverhalte, an denen der enge Zusammenhang zwischen dem Raum der Lebensstile und dem der sozialen Positionen aufgezeigt wird, ergeben ein facettenreiches Bild. Doch geht dies teilweise auf Kosten der Übersichtlichkeit des Textes und der Nachvollziehbarkeit der einzelnen Forschungsschritte. Auch die eigentümliche Forschungslogik, nämlich die durchgehende gegenseitige Durchdringung von Theorie und Empirie, mindert die Transparenz und schränkt damit ein wichtiges Gütekriterium einer jeden empirischen Studie ein (vgl. Winkler 1989, 14).

Zu prüfen bleibt, ob die Klassenzugehörigkeit in den unterschiedlichen Bereichen die entscheidende unabhängige Variable ist (vgl. Winkler 1989, [59]15; Lüdtke 1989, 95). Kann die Kleidungswahl als eine allein klassenspezifische Geschmacksfrage verstanden werden, oder muss man etwa einen jugendlichen Habitus mit berücksichtigen? An einigen Stellen weist Bourdieu auf die Variable Geschlecht hin – Männer-Kleidung sei »hinsichtlich ihrer statistischen Erfassung markanter … als Frauen-Kleidung« (Feine Unterschiede 1979/1999, 323). Das bringt Bourdieu jedoch nicht dazu, die Unterschiede zwischen Frauen und Männern genauer zu erforschen, sein Blick bleibt auf die klassenspezifischen Unterschiede gerichtet (so auch Lüdtke 1989, 153).

Zur Verteidigung seines Buches bringt Bourdieu vor, viele Missverständnisse auf Seiten seiner Kritiker rührten daher,

»daß Die feinen Unterschiede als eines jener theoretischen Bücher gelesen wird, die mit dem Anspruch auftreten, alles über alles und zudem noch in der richtigen Ordnung zu sagen – während es sich dabei doch um nichts anderes als einen zusammenfassenden Bericht über eine Reihe von Forschungen mit genauer Zielsetzunghandelt.« (Antworten 1989, 410)

Überzeugend ist, wie Bourdieu den Zusammenhang von Struktur und Praxis mit dem Habituskonzept erklärt. Der (Klassen-)Habitus nimmt eine Vermittlerfunktion ein und

»bewirkt, daß die Gesamtheit der Praxisformen eines Akteurs (oder einer Gruppe von aus ähnlichen Soziallagen hervorgegangenen Akteuren) als Produkt der Anwendung identischer (oder wechselseitig austauschbarer) Schemata zugleich systematischen Charakter tragen und systematisch unterschieden sind von den konstitutiven Praxisformen eines anderen Lebensstils« (Feine Unterschiede 1979/1999, 278).

Obwohl die »Kunst der Fuge« und der Einkauf auf dem Flohmarkt auf den ersten Blick wenig gemeinsam haben, verbindet sie das Wahrnehmungsschema von Hochschullehrern zu einem Lebensstil, der in großer Distanz zum Lebensstil der Handelsunternehmer (und deren Vorliebe für die »Schöne blaue Donau« und für erlesene Speisen sowie deren geringem Verständnis für Malerei) steht. Die Präferenzen für eine bestimmte Musik, für Arten von Freunden und von Wohnungseinrichtungen sind nicht unabhängig voneinander, sondern sind durch den Habitus zu typischen Lebensstilmustern verbunden. Indem Bourdieu die

»generative Formel des Habitus …, die die für eine jeweilige Klasse (relativ homogener) Lebensbedingungen charakteristischen Zwänge und Freiheitsräume in einen spezifischen Lebensstil umsetzt« (Feine Unterschiede 1979/1999, 332),

[60]für jede Klassenfraktion ermittelt, kann er den Raum der Lebensstile detailliert rekonstruieren und die Muster der symbolischen Herrschaft aufzeigen.

Damit zeigt die Studie, dass Geschmack nicht, wie gewöhnlich unterstellt, rein persönlich ist, sondern von der Position im sozialen Raum und von der sozialen Laufbahn abhängt. Das macht die Lektüre der Studie schwierig, weil sie den Leser immer wieder an die Grenzen seiner eigenen »freien« Geschmackswahl führt. Vor allem vor der Analyse der kleinbürgerlichen Wahrnehmungs- und Verhaltensweisen, die sich ehrgeizig an den legitimen Kulturgütern orientieren, ohne einen wirklichen Zugang zu ihnen zu finden, und die sich stets von der Vulgarität der unteren Klassen abzugrenzen suchen, kann sich der eventuell selbst kleinbürgerliche Leser nicht verschließen. Bourdieu warnt: »De te fabula narratur«30 (Feine Unterschiede 1979/1999, 32). Jedoch: Das Buch nimmt eine heuristische Zuspitzung vor (Relationierung von Kunstwerken und kulturellen Praktiken bzw. Gütern zu sozialen Großgruppen), die nicht das letzte Wort über den Wert von Kunstwerken und über die Kultiviertheit des Umgangs mit ihnen sprechen will. Die Folgerung, die hohe Kunst sei nur um der Distinktion willen da (die auch dadurch nahe gelegt wird, dass Bourdieu keine Methodik der Werkanalyse vorlegt, so Wagner 2003, 225 f.), man brauche sich deshalb nicht um sie zu kümmern, wäre falsch und würde mindestens die geschichtliche Autonomisierung der Felder von Kunst und Literatur übersehen (Jurt 2003). Und der kleinbürgerliche Leser muss sich durch Bourdieus Analyse nicht bloßgestellt fühlen. Er kann sich auch entlastet sehen von der eifrigen Nachahmung des legitimen Geschmacks, er kann sich stattdessen neugieriglernend der hohen Kultur zuwenden, ohne dabei auf Distinktionsgewinne zu schielen.

An diesem Punkt stellt sich freilich die Frage: Gelten ähnliche Muster, wie sie Bourdieu für Frankreich herausgearbeitet hat, auch in Deutschland? Bourdieu vermerkt in seiner Einleitung, dass die Zusammenhänge zwischen ökonomisch-sozialen Bedingungen und Lebensstilen zwar für Frankreich mit der diesem Land eigenen Tradition erhoben worden sind, dass sie aber auch in anderen geschichteten Gesellschaften, wenn auch mit je eigenen Spezifika, wirksam sind. So ist etwa der legitime Geschmack in Deutschland weniger an die aristokratische Tradition gebunden als in Frankreich, da hier »die Intellektuellen nicht nur in Opposition zur Aristokratie, sondern auch zum Besitzbürgertum standen …« (Burkart 1984, 14).

[61]2.4 Wohnen: Der Einzige und sein Eigenheim

Der in Frankreich zu beobachtende Trend zum Eigenheim motiviert Bourdieu und seine Mitarbeiter Mitte der 1980er Jahre zu einschlägigen Forschungen über dieses Phänomen. Gestiegen war vor allem der Anteil derer, die »ihr« Heim nicht mit Hilfe einer Erbschaft o. Ä., sondern durch Kredite erwarben. Für die Kleinbürger, die scheinbaren Nutznießer dieser »Verbürgerlichung« im Wohnungssektor, erfüllten sich die Wünsche und Sehnsüchte nach dem privaten Glück jedoch nicht; vielmehr waren sie nun an ihren neu erworbenen Besitz und an den dafür aufgenommenen Kredit gebunden. Zudem glich der neu erworbene Besitz kaum der Idylle auf Werbebildern, er stand vielmehr für das Elend und für die Desillusionierung der Kleinbürger (Zeichen der Zeit 1990/2002, 40 f.): Sie erlebten Enttäuschungen mit Häusern, die nicht den Wunschvorstellungen entsprachen, die zu klein, zu groß, zu teuer waren und die oft an einem wenig präferierten Ort lagen, also in einer wenig gemeinschaftlichen, einer sozial inhomogenen Nachbarschaft, woraus sich oft Ärgernisse ergaben.

Wie kommt die »Wahl« für ein Eigenheim zustande? Der Erwerb eines Eigenheims wird in der Wissenschaft meist aus einem ökonomischen Blickwinkel betrachtet. Gestützt auf das Modell des homo oeconomicus wird der Käufer als ein Akteur vorgestellt, der zwischen den zur Verfügung stehenden Optionen rational abwägt und kalkulierend seine Entscheidung trifft. Bourdieu kritisiert mit seinen Studien basale Annahmen der Ökonomie, z. B. die, dass die Wirtschaft eine separate Sphäre sei, die universellen und natürlichen Gesetzen folge, und dass der Markt das effizienteste und gerechteste Mittel einer Demokratie sei – Annahmen, die den Rückzug des Staates auch aus dem Wohnungsmarkt fordern und legitimieren.31 Bourdieu versucht hier, wie auch in seinen anderen Studien, einen mehrdimensionalen Zugang zu erreichen, weil »die gesamte gesellschaftliche Welt in jeder ›ökonomischen‹ Handlung zugegen ist« (Einleitung Eigenheim 2000/2002, 21 f.).

Um die Mehrdimensionalität und Mehrfunktionalität einer Praktik wie den Kauf eines Eigenheimes zu erfassen, müssen unterschiedliche Fragestellungen und Herangehensweisen kombiniert werden; das dokumentiert der [62]Sammelband »Der Einzige und sein Eigenheim«.32 Die von Margareta Steinrücke herausgegebene erweiterte deutsche Neuausgabe (2002) stellt Aufsätze zum Thema Eigenheim zusammen, die 1990 in der Zeitschrift Actes de la recherche en sciences sociales veröffentlicht worden sind, eingeführt durch eine Einleitung von Bourdieu zu seiner Theorie der (ökonomischen) Praxis und ergänzt durch einen Aufsatz zu seinen Überlegungen zum ökonomischen Feld von 1997.

Die zuerst 1990 publizierten Artikel befassen sich zum einen mit dem Käufer, d. h. mit der Entstehung und der Verteilungsstruktur der ökonomischen Dispositionen, mit den geschmacklichen Orientierungen bezüglich der Wohnmöglichkeiten, zum anderen mit den kommerziellen Eigenheimproduzenten, d. h. mit dem Feld des Eigenheimmarktes, dessen Geschichte, der Werbestrategien der einzelnen Produzenten. Beeinflusst werden die Dispositionen der Käufer und das (Kräfteverhältnis im) Feld der Eigenheimproduzenten auch von administrativen Maßnahmen. Deshalb zeichnen Bourdieu und seine Mitarbeiter die neoliberale Wohnungspolitik seit Mitte der 1970er Jahren nach, die bei der Entwicklung des Angebots wie auch der Nachfrage mitwirkte. Vor diesem Hintergrund stellt sich weiter die Frage, wie zwischen Käufer und Produzenten vermittelt wird.

Das methodische Vorgehen ist dementsprechend vielfältig; je nach Erkenntnisinteresse werden Tiefeninterviews mit Eigentümern geführt, werden Daten aus standardisierten Befragungen zum Wohnen oder zur Beschäftigungsstruktur in Unternehmen verwendet, werden Leitungskräfte interviewt, Informationen aus der Presse gesammelt, Werbematerialien interpretiert, Verkaufsgespräche beobachtet, sprechen die Forscher mit Verkäufern.

Beim Kauf eines Eigenheims muss zunächst beachtet werden, dass es sich dabei nicht nur um eine ökonomische Anlage, nicht nur um ein finanzielles Kalkül handelt. Nicht zu unterschätzen ist zum einen der Symbolwert eines eigenen Hauses, das Auskunft über die Besitzer gibt, über ihren Geschmack und ihre Stellung im sozialen Raum. Zum anderen darf die Bedeutung eines eigenen Hauses als einer dauerhaften und übertragbaren »Anlage«, die an die Kinder weitergegeben werden soll, nicht übersehen werden. Das eigene Haus meint immer auch eine Hausgemeinschaft, eine Familie, die sich darin ein Versprechen auf eine beständige gemeinsame Zukunft gibt.