Loe raamatut: «Unmögliche Aufträge: Zwei Thriller», lehekülg 3

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IV

Urbach erwartete ihn am anderen Morgen am Fuß der Rolltreppe. Die beiden Männer nickten einander nur kühl zu. Schaake nahm seine beiden Koffer vom Gepäckkreisel und folgte Urbach nach draußen zu einem wartenden Ford Granada. Ein junger Mann stieg aus und öffnete den Kofferraum.

»Das ist Georg«, sagte Urbach. »Er wird Ihnen helfen.«

Schaake drückte dem jungen Mann die Hand. Georg war nicht so jung, wie er auf den ersten Blick wirkte. Anfang Dreißig, schätzte Schaake. Georg trug eine braune Lederjacke und neue Jeans. Die Jacke war vorn geschlossen, und Schaake fragte sich, ob der Mann eine Pistole darunter trug.

Urbach hielt die hintere Wagentür auf. Schaake stieg ein, Urbach rutschte neben ihn. Georg fuhr. Das Flughafengelände blieb hinter ihnen zurück. Die Fahrt ging, wie erwartet, nach Bonn. Schaake versuchte, sich zu entspannen. Er schaffte es nicht. Er sah Urbach an, der mit teilnahmslosem Gesicht nach vorn schaute.

»Was werden wir jetzt tun?«, fragte Schaake. »Uns an irgendeine Ecke stellen und warten, ob er vorüber kommt?«

»Wir werden uns unterhalten und dabei Fotos ansehen.«

»Was für Fotos?«

»Wenn wir jemanden observieren, fotografieren wir nicht nur ihn. Wir nehmen jeden auf, der in seine Nähe kommt.«

»Was sind das für Leute, die Sie observieren? Verdächtige? Oder entlarvte Spione?«

»Beides. Jeder enttarnte Agent war einmal ein Verdächtiger. Bevor wir ihn festnehmen lassen, bleiben wir ihm so lange wie möglich auf den Fersen. Wir versuchen, seine sämtlichen Kontakte abzugrasen. Wir fotografieren also nicht nur alle Personen, mit denen der Betreffende zusammentrifft oder spricht, sondern auch solche, die nur in seine Nähe kommen. Aus Erfahrung wissen wir, dass einer Kontaktaufnahme mit anderen Agenten oder Informanten umständliche Prozeduren vorausgehen, um etwaige Verfolger abzuschütteln. Bevor zum Beispiel ein Resident, und Ihr Freund ist einer, eine Kontaktperson trifft, was übrigens außerordentlich selten vorkommt, tritt man miteinander in Sichtkontakt. Man will sich auf diese Weise vergewissern, ob ein Treffen möglich ist. Manchmal findet ein Sichtkontakt auch nur deshalb statt, um den anderen mitzuteilen, dass eine Nachricht an einem vorher vereinbarten Ort hinterlegt worden ist.«

»Das ist der berühmte Tote Briefkasten.«

»So ist es. Wenn wir also jemanden einer nachrichtendienstlichen Tätigkeit verdächtigen, versuchen wir, seine Kontakte aufzudecken. Wir fotografieren ihn auf allen seinen Wegen, so lange es geht, in Gaststätten, in Parks, im Theater, im Kino, eben überall.«

»Und Sie glauben, ich erkenne ein Gesicht in der Menge wieder, das ich seit einem Vierteljahrhundert nicht mehr gesehen habe? Die Bilder sind wahrscheinlich mit Teleobjektiven aufgenommen.«

»Sie werden überrascht sein, wie gut die Fotos sind, Herr Schaake«, sagte Urbach. »Unsere technische Ausstattung lässt keine Wünsche offen.«

Schaake sah aus dem Fenster. Flaches Land huschte vorüber.

»Wohin fahren wir jetzt?«

»Nach Bonn. Wir haben eine kleine Wohnung vorbereitet. Kennen Sie Bonn?«

»Nicht sehr gut. Eigentlich gar nicht. Ich bin einige Male durchgefahren.«

Eine Wohnung, überlegte Schaake. Warum kein Hotel? Aus Kostengründen? Oder weil man in einer Wohnung ungestörter war?

Oder wollte man ihn überwachen? Jederzeit wissen, wo er war?

»Warum kein Hotel?«, fragte Schaake.

»Wie bitte?«

»Sie haben meine Frage doch verstanden! Warum kann ich nicht in einem Hotel wohnen?«

»In einer Wohnung sind Sie doch unabhängiger. Oder können Sie sich kein Frühstück machen? Keine Angst, Sie können im Café frühstücken Es ist sogar gut, wenn Sie unter Leute kommen.«

»Weil ich ihn dann zufällig treffen kann?«

»Es wäre immerhin möglich. Bonn ist ein Dorf.«

Schaake sah wieder nach draußen. Als er in Aachen studierte, war er einige Male in Bonn gewesen, und danach noch ein- oder zweimal. Sie hieß Sigrid, an mehr konnte er sich nicht erinnern. Jetzt sah alles anders aus. Die Autobahn, die Bonn mit dem Flughafen verband, hatte es damals noch nicht gegeben, auch nicht die Friedrich-Ebert-Brücke. Oder hatte er nicht darauf geachtet? Egal. Als sie das Autobahnkreuz Bonn-Nord erreichten, kannte er sich wieder aus.

Georg steuerte den Wagen in Richtung Innenstadt. Vom Verteilerkreis an hatte sich nicht viel geändert. Gleisanlagen, eine Straßenbrücke, das Schwimmbad. Schmale, von Rotdorn und Linden gesäumte Einbahnstraßen. Das Laub glänzte in spätsommerlichem Grün, Georg nahm das Gas zurück. Er bog in eine schmale Seitenstraße ein und hielt nach einer Parklücke zwischen den Bäumen Ausschau.

»Das eben war die Kölnstraße«, erklärte Urbach. »Bis zum Markt sind es nur fünfzehn Minuten zu Fuß.«

Georg rangierte den Granada rückwärts in eine Parktasche. Die hintere Stoßstange berührte ganz leicht den Mast mit der Parkuhr.

»Ich habe nicht die Absicht, viel zu Fuß zu gehen«, sagte Schaake, der sich irgendwie ärgerte. Ihm wurde plötzlich bewusst, dass er aus dieser Sache, die gestern wie ein Spiel ausgesehen hatte, nicht herauskommen würde, ohne Schaden zu nehmen. »Ich dachte, Sie hätten wenigstens einen Wagen für mich.«

Urbach lächelte dünn, als er die Tür auf seiner Seite aufstieß.

»Sie wollen Ihren Vorteil wahren, wie? Wollen Sie auch Geld? Eine Prämie, wenn...«

Eine jähe Wut umnebelte Schaakes Sinne. Er stieß die Hände vor, packte Urbachs Jackenaufschläge und zog ihn mit einem Ruck zu sich heran. Urbachs Kopf flog in den Nacken, aber er überwand den Schrecken sehr schnell. Mit einer heftigen Bewegung sprengte er Schaakes Arme. Georg warf sich über die Lehne des Fahrersitzes und packte Schaakes Schulter. Schaake ballte die Fäuste. Urbachs Gesicht nahm er nur verschwommen wahr. Er versuchte, die Benommenheit abzuschütteln.

So war das also. Urbach betrachtete ihn als einen miesen kleinen Verräter. Einen Burschen, mit dem sie umspringen konnten, wie sie wollten.

Er atmete tief durch, sein Blick klärte sich. Urbach sah ihn abwägend, mit einem schwer zu deutenden Ausdruck, in den hellen Augen an.

»Wenn Sie das so sehen, steige ich aus«, erklärte Schaake. Seinen Worten fehlte die Überzeugungskraft. Wem konnte er seine Kündigung erklären?

»Sie können nicht mehr aussteigen, mein Lieber. Keine Empfindlichkeiten. Unser Geschäft ist nicht schmutziger als andere auch. Kommen Sie endlich.«

Urbach stieg einfach aus, und Georg öffnete die Tür auf Schaakes Seite, als der nicht sofort mit dem Riegel zurechtkam. Die Kindersicherung, schoss es durch seinen Kopf. Absicht? Zufall? Sah er schon Gespenster?

»Ich kümmere mich um Ihr Gepäck«, sagte Georg beschwichtigend.

Schaake trat neben Urbach. »Ich kann vielleicht nicht einfach aussteigen, aber ich kann stur sein«, sagte er.

»Wie meinen Sie das?« Urbach blickte betont uninteressiert an der Fassade des vierstöckigen Wohnhauses, vor dem sie parkten, hinauf.

»Ich werde meine Bedingungen von Fall zu Fall nennen«, sagte Schaake

»Sie wohnen im dritten Stock. Aber kommen Sie. Ich will Ihnen etwas zeigen.«

Urbach ging auf die schmale Durchfahrt zu, die hinter das Haus führte Das Gittertor stand offen. Die zementierte Hoffläche wies Risse auf, in denen Unkraut wucherte. An der Mauer zum Nachbargrundstück standen einige Personenwagen. Urbach deutete auf einen grünen BMW 318 mit Bonner Kennzeichen.

»Den können Sie benutzen, wenn Sie unbedingt in der Gegend herumkutschieren müssen. Zufrieden?« Urbach zog eine Handvoll Schlüssel aus seiner Tasche und gab Schaake die Schlüssel für den BMW. »Die Zulassung liegt im Handschuhfach. Wenn Sie tanken, legen Sie die Quittung zu den anderen. Kommen Sie mit.«

Urbach schloss die Hintertür auf. Er ließ Schaake an sich vorbei und schloss wieder ab. Über sich hörten sie Georg, der den Vordereingang benutzt hatte, und sich jetzt mit den Koffern abschleppte.

»Einen Lift gibt es hier leider nicht«, sagte Urbach.

Mit federnden Schritten, immer mehrere Stufen auf einmal nehmend, stieg Schaake die Treppen hinauf. Als er oben ankam, drehte er sich nach Urbach um. Urbachs Atem ging schneller, sein Hals rötete sich. Schaake verzog die Lippen zu einem Lächeln. Er spürte einen leichten Triumph, weil er dem anderen seine körperliche Überlegenheit demonstriert hatte.

Die Wohnung bestand aus vier Zimmern, einer Küche, der Diele und dem Bad. In jedem Raum, auch in der Küche und im Bad, befand sich ein Telefonapparat. Im Wohnzimmer standen einige Stühle, die nicht zueinander passten, und ein Fernsehapparat. Das nächstgrößere Zimmer, das einer Familie vermutlich als Schlafzimmer gedient hätte, war wie ein Büro eingerichtet. Es gab einen kleinen Schreibtisch und ein hohes Regal, dessen Fächer mit flachen Kunststoffkästen voll gestellt waren. Auf einem länglichen Konferenztisch standen ein Diaprojektor und ein Tonbandgerät. An der Decke war eine Leinwand befestigt, die mit Schnüren auf- und abgerollt werden konnte.

Georg stellte Schaakes Koffer in den Raum neben dem Bad. Das Bett und ein schmaler Schrank stellten die einzigen Einrichtungsgegenstände dar. Die Fenstertür führte auf einen winzigen Balkon hinaus. Das Telefon stand auf dem Boden.

Schaake öffnete die Tür zum vierten Zimmer. Hier stand links und rechts je ein doppelstöckiges Bett. Eins der beiden unteren Betten war bezogen, auf dem anderen lag ein Hartschalenkoffer. Schaake drehte sich um und sah Urbach an.

»Georg schläft hier. Alle zwei, drei Tage hat er einen Tag frei. Dann werden Sie das Vergnügen meiner Gesellschaft haben.«

Schaake schüttele den Kopf. »Nein«, sagte er.

»Wie – nein?«

Jetzt endlich war Urbach beunruhigt. Wenn Urbach eben nicht die dumme Bemerkung über Schaakes Motive gemacht hätte, hätte Schaake jetzt nicht die Grenzen seiner Möglichkeiten erprobt.

»Sie haben erklärt, ich könne nicht mehr aussteigen, und ich habe gesagt, ich würde meine Bedingungen steilen. Nun denn – ich werde keinen Aufpasser akzeptieren.«

»Von einem Aufpasser kann keine Rede sein!«

»Sie können das nennen, wie Sie wollen, Ich bin aus dem Alter raus, in dem ich mit anderen die Wohnung teile.«

»Herr Schaake! Mann, seien Sie doch vernünftig! Es ist einfacher für uns alle wenn...«

»Nein!« Schaake hatte nicht die Absicht, sich auf Diskussionen einzulassen. Er stieß die Tür zu dem Zimmer auf, das man ihm zugedacht hatte Die Tür krachte gegen die Wand. Schaake nahm seine Koffer auf. »Ich ziehe in ein Hotel, und wir können uns dann hier treffen.« Er wuchtete die Koffer in den Flur.

Georg trat zur Seite Er sah Urbach an, wartete offenbar auf Anweisungen. »Warten Sie!«, sagte Urbach zu Schaake.

»Worauf?«

»Wir haben Anweisung, hier zu wohnen.«

»Sehen Sie! Sie müssen hier wohnen, ich nicht. Ich gehe. Wann treffen wir uns?« Schaake sah auf die Uhr. Es war Viertel vor elf. »Sagen wir, um eins?«

Schaake lachte innerlich über Urbachs verstörtes Gesicht. Er hatte eine Kraftprobe gewonnen.

Draußen im Treppenflur fragte er sich, was er davon hatte.

Er fuhr mit dem BMW durch die Innenstadt, wobei er nach einem Hotel Ausschau hielt. Sie hatten noch nicht über die Spesenfrage gesprochen. Es war klar, dass er seine Auslagen ersetzt bekam, aber ob auch Hotelkosten dabei waren, wo doch die Wohnung als Quartier für ihn vorgesehen war, wusste er nicht. Aber wie auch immer, er hatte ohnehin nicht die Absicht, im Königshof oder Steigenberger abzusteigen.

In einer schmalen Einbahnstraße zwischen dem Markt und dem Münsterplatz entdeckte er ein Schild. Stadthotel. Im Vorbeifahren sah er durch die aufgestellten Glastüren in eine kleine Halle, die einen anheimelnden Eindruck machte. Am Ende der Straße lag die Einfahrt eines Parkhauses. Schaake stellte den Wagen hinein, nahm die Koffer, und ging zum Hotel zurück.

Schaake nahm ein Zimmer im vierten Stock. Es kostete 58 Mark, inklusive Frühstück.

*

Um Viertel nach eins stellte er den BMW wieder hinten auf dem Hof ab. Er musste vorn herumgehen, weil es hinten keine Klingeln gab. Die Klingelleiste vorn gab ihm keine Aufschlüsse über die Wohnung, die er suchte. Es gab acht Knöpfe und ebenso viele Namensschildchen. Handelte es sich bei allen Wohnungen in diesem Haus um geheime Wohnungen? Sagte man konspirative Wohnungen? Oder traf diese Bezeichnung nicht zu, wenn es sich um Wohnungen legaler Dienste handelte?

Der Türöffner schnarrte. Schaake grinste flüchtig. Sie hatten nach ihm Ausschau gehalten. Er rannte die Treppen hinauf. Georg stand in der offenen Wohnungstür. Schaake sah nach dem Namensschild unter der Etagenklingel.

Becker stand dort.

»Herr Urbach ist im Büro«, sagte Georg.

Urbach machte ein verdrossenes Gesicht, als er auf einen Stuhl deutete. »Sind Sie gut untergekommen?«, erkundigte er sich bissig

»Ja, danke. Was sagt Ihr Boss?«

»Machen Sie sich keine Gedanken. In welchem Hotel sind Sie abgestiegen? Oder wollen Sie das nicht sagen?«

»Im Stadthotel

»Wenn Sie eben nicht so schnell weg gewesen wären, hätte ich Ihnen das Hotel Körner empfohlen, dort bekommen wir Rabatt. Aber was soll's. Wir haben einige organisatorische Fragen zu klären, und wir wollen nicht noch mehr Zeit verlieren.« Urbach schaltete das Tonbandgerät ein und schob zwei Mikrofone zurecht. Die Spulen begannen sich zu drehen. »Haben Sie etwas dagegen, wenn wir das Band mitlaufen lassen?«

»Weshalb wollen Sie es überhaupt laufen lassen?«, erkundigte sich Schaake. Er hatte nicht die Absicht, schon wieder Einwände zu machen, aber der Gedanke, dass jedes Wort, das er sagte, das man aus ihm herauslocken würde, von anderen abgehört und vielleicht analysiert werden würde, bereitete ihm körperliches Unbehagen.

»Wir können gewissermaßen ins unreine sprechen, von einem Thema zum anderen springen, und jederzeit nachhaken.«

Das ist keine Erklärung, dachte Schaake, aber er nickte. Urbach beugte sich über sein Mikrofon.

»Band Nummer eins, Schaake/Urbach, Uhrzeit dreizehn Uhr siebenundzwanzig, Zählwerkstand null-null-eins.« Er lehnte sich zurück und betrachtete Schaake mit kaum verhohlener Abneigung.

Sie sprachen über die Spesen, und wie sie abgerechnet wurden, wann und wie oft man sich treffen, und wie man vorgehen wollte. Georg und Urbach gedachten sich abzulösen, während Schaake Bilder betrachtete und über Heller sprechen sollte. Über alles, was ihm einfiel.

»Moment, Moment!«, protestierte Schaake.

»Was ist denn jetzt schon wieder?«

»Sie machen einen auf Acht-Stunden-Tag. Glauben Sie etwa, ich starre zwölf oder noch mehr Stunden auf Fotos?«

Urbach sagte kalt: »Dann nennen Sie uns Ihre Vorstellungen.«

»Wenn ich müde bin oder keine Lust habe, höre ich auf. So einfach ist das. Dann schaue ich mir die Stadt an. Vielleicht läuft er mir ja über den Weg.«

»Na schön. Es lebe die freie Wirtschaft.«

»Aber ohne Wachhund.«

»Ich habe kaum etwas anderes erwartet«, bemerkte Urbach sarkastisch. »Wenn Sie ihn sehen, halten Sie ihn fest, ja?«

Schaake überging den Einwand, der zweifellos nicht ernst gemeint war. »Was geschieht, wenn ich ihn identifiziere?«

»Dafür müssen wir uns etwas ausarbeiten, auch für den Fall, dass er Sie zuerst erkennt. Es wird darauf ankommen, wie sicher Sie ihn identifizieren, ob wir sofort seinen Falschnamen erfahren, seine Wohnung, und so weiter. Wenn möglich, wollen wir ihn eine Zeitlang observieren, um Verbindungen aufzudecken.«

»Und dann wird er festgenommen?«

»Den Zeitpunkt entscheidet der Abteilungsdirektor. Vielleicht sogar eine noch höhere Ebene Aber im Prinzip – ja, er wird festgenommen.«

»Durch Sie?«

»Wir besitzen keinerlei Exekutivgewalt. Die Festnahme wird durch Beamte des vierzehnten Kommissariats der Kölner Kriminalpolizei erfolgen. Oder, was wahrscheinlicher ist, durch Beamte des Bundeskriminalamtes.« Urbach fixierte Schaake. »Oder haben Sie hier auch Einwände?«

Schaake schüttelte den Kopf.

»Ich will Ihnen jetzt etwas sagen, Herr Schaake, von mir aus können Sie sich über mich beschweren, es ist mir egal. In meinen Augen sind Sie einer von diesen unentschlossenen Liberalen, die unseren Staat am liebsten Kommunisten und Terroristen überlassen würden. Ich werde auf Sie aufpassen, Herr Schaake, Und wenn es Ihnen einfallen sollte, gegen uns zu arbeiten, also vielleicht, Ihren sauberen Freund zu warnen, dann Gnade Ihnen Gott!«

»Dann lassen Sie mich auch verhaften«, sagte Schaake, der seine kalte Wut nicht mehr beherrschen konnte. »Sorgen Sie erst einmal für Sauberkeit in Ihrem eigenen Haus!«

Sofort bereute er seine spontane Bemerkung. Er hatte beschlossen, das verschwundene Album zunächst nicht zu erwähnen. Er wollte beobachten, abwarten.

Das Schweigen dauerte nur wenige Sekunden, aber es war abgrundtief. Urbachs plötzliche Wachsamkeit konnte man fühlen.

»Wie meinen Sie das, Herr Schaake?«

»Bei Ihnen spielt jemand falsch, das ist es«, stieß Schaake, wütend über seine Unbesonnenheit, hervor.

»Können Sie Ihren Vorwurf begründen?«

»Man hat mir ein Fotoalbum aus meiner Wohnung gestohlen.«

Urbach sah ihn an, und als Schaake nicht weitersprach, machte er eine ungeduldige Handbewegung. »Was für ein Fotoalbum?«

»Es enthielt Fotos aus meiner Schulzeit.«

»Gestern erst haben Sie erklärt, Sie hätten keine Bilder mehr.«

»Das stimmt auch. Meine Negative sind verloren gegangen. Ich hatte noch ein Album, in das ich alle Fotos geklebt habe, die mir erhalten geblieben sind. – Von Heller war sowieso keins dabei.« Schaake hielt diese Behauptung für einen guten Einfall.

Urbach musterte ihn kalt. Er glaubte ihm nicht. Es spielte keine Rolle. Er hatte keine Namen unter die Bilder geschrieben. Ein Fremder konnte mit seiner Beute so ohne weiteres nichts anfangen.

»Sind Sie sich über die Tragweite Ihrer Behauptung im Klaren, Herr Schaake? Ich glaube, nicht. Wer, meinen Sie, könnte ein Interesse daran haben, sich in den Besitz eines Fotos von Heller zu bringen?«

»Heller selbst. Oder jemand, der nicht daran interessiert ist, dass er gefasst wird.«

Urbach runzelte die Stirn, aber seine Mundwinkel verzogen sich zu einem spöttischen Lächeln. Vermutlich hielt Urbach ihn für einen Spinner. Auf die Sache mit dem verschwundenen Album ging er jedenfalls nicht näher ein.

Was Schaake einigermaßen wunderte.

V

Nach einiger Zeit vergaß Schaake das laufende Tonband. Urbach stellte Fragen, die Schaakes Verhältnis zu Heller betrafen. Wann sie sich kennengelernt hatten, seit wann sie sich als Freunde betrachteten, welche gemeinsamen Freunde oder Freundinnen sie gehabt hatten, Hobbies, Gewohnheiten.

Schaake war auf der Hut. Er spürte, dass Urbach ein geschickter Vernehmer war. Mit seinen Fragen lockte er vergessen geglaubte Gedanken aus der Tiefe der Erinnerung. Aber er, Schaake, blieb bei seinen Antworten einsilbig, kurz angebunden.

Natürlich hatte er seit seiner Unterredung mit Mehrländer und Urbach im Holiday Inn fast ununterbrochen an Jochen denken müssen. Begegnungen, Erlebnisse, Gesichter, Szenen tauchten auf. Sie waren blass, farblos, aber die Erinnerungen waren mit Gefühlen verbunden, die irgendwo im Inneren schmerzten. Wie eine unglückliche Liebe.

»Wie war er veranlagt?«, fragte Urbach.

Schaake starrte den Mann wortlos an. »Nun stellen Sie sich nicht so an. Homosexualität unter jungen Männern ist doch nichts Ungewöhnliches! Oder hatte er Freundinnen? Wie war das bei Ihnen? Hatten Sie eine sturmfreie Bude? Oder er? Oder gingen Sie mit Ihren Mädchen ins Heu?«

Schaake schwieg. Was wusste dieser Mann von keuscher Schwärmerei? Was wusste er von Jochens scheuer Liebe zu Jutta? Schaake brachte es nicht fertig, seine Gedanken und Gefühle von damals mit Urbach, diesem Zyniker, zu teilen. Er fürchtete, die Erinnerungen dann endgültig zu verlieren.

Die Abendsonne schien schräg durch eins der hohen Fenster, als Urbach verärgert seine Unterlagen zusammenraffte, das Tonband aus dem Gerät nahm, und eine neue Spule einlegte. Das besprochene Band steckte er in seine Aktentasche. »Machen wir Schluss für heute«, sagte er. »So kommen wir nicht weiter. Morgen früh versuchen wir es zuerst einmal mit Fotos. Wenn Sie nicht zu müde sind, können Sie sich noch mit Georg unterhalten.«

Schaake hörte Georg und Urbach im Flur miteinander sprechen, dann klappte die Wohnungstür. Georg kam zurück.

»Soll ich uns einen Kaffee machen?«, bot er an.

»Ja, bitte.«

Schaake fühlte sich ausgelaugt wie nach einer langen Konferenz, bei der er sich viele Stunden lang hatte konzentrieren müssen. Jetzt hätte er nur Fragen beantworten müssen, aber er hatte mehr zurückgehalten, als er von sich gegeben hatte. Er hatte jede Antwort genau abgewogen. Urbach hatte das geprüft und das Gespräch – oder war es ein Verhör gewesen? – abgebrochen.

Georg kam mit dem Kaffee herein. Er lächelte offen, als er Schaakes Tasse füllte. »Milch und Zucker?«, fragte er.

»Nur etwas Milch. Danke.«

Georg setzte sich auf Urbachs Platz, drehte den Stuhl etwas zur Seite, und legte die Füße auf den Tisch. Er rührte in seiner Tasse.

»Er ist nicht immer so scharf«, sagte er nach einiger Zeit.

Schaake schwieg. Er fühlte sich träge. Das Tonband lief. Georg sollte ihn vermutlich einlullen, einen auf freundlich und verständlich machen.

»Es ist eine ziemlich wichtige Sache«, sagte Georg.

»Sie heißen nicht wirklich Georg?«

Georg lächelte unbestimmt. »Für Sie bin ich Georg. Das genügt.«

»Und Urbach und Mehrländer? Sind das richtige Namen?«

»Ich weiß es nicht. Ich glaube nicht.«

»Welche Chancen haben wir, ihn zu finden? Heller, meine ich.« Wenn er selbst fragte, lief er weniger Gefahr, ungewollt etwas preiszugeben. Aber was hatte er schon preiszugeben?

Georg deutete auf die Kunststoffkästen im Regal. »Wenn wir ihn auf einem Foto oder Film haben, stehen die Aussichten gut. Es hängt davon ab, wie hoch er wirklich steht, und wie groß das Netz ist, das er unterhält. Mit anderen Worten – tritt er direkt mit seinen Agenten in Verbindung, oder hat er andere Leute oder tote Briefkästen und was es sonst an Kinkerlitzchen gibt, zwischengeschaltet? – Ich schätze, dass er sich gut abgeschottet hat.« Georg zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch unter die Decke.

»Was wissen Sie eigentlich über ihn? Außer, dass er ein Spion ist. Ich meine, Persönliches. Oder wissen Sie nichts?«

»O doch, wir wissen sogar sehr viel. Wir wissen, dass er verheiratet ist, zum Beispiel, und sogar, wie lange.«

»Das wissen Sie? Woher?«

Georg lächelte. »Es sickert immer mal etwas durch. Wir haben schließlich auch Leute drüben. Und es kommen immer mal wieder Überläufer, die dann ausgequetscht werden. Alles, was sie wissen, kommt in den Computer. Auf diese Weise haben wir vor Jahren von einem Topmann erfahren, der hier arbeitet. Irgendwann kam der Deckname hinzu – Gabriel. Ein Agent ist ein verdammt einsamer Mann, das wissen unsere Kollegen drüben. Deshalb versuchen sie, den menschlichen Faktor zu berücksichtigen. Dazu gehört, dass schon mal Glückwünsche über Funk kommen. Es ist ein Puzzle-Spiel. Irgendwann fängt sich einer. Spätestens dann, wenn das Raster voll ist.«

»Was ist Ihre Funktion in diesem Fall?«

»Ich bin der Fallführer. Das ist der kleinste Mann. Nicht, dass ich den Fall bearbeite. Ich bin der Kaffeeholer und Aufpasser, mehr nicht.«

»Urbach ist Ihr Chef?«

»Für diese Aktion, ja. Normalerweise ist noch jemand zwischengeschaltet, ein Referent. Urbach ist Referatsleiter. Weil diese Sache so wichtig ist, wird sie von einem Referatsleiter bearbeitet.«

»Mehrländer ist Urbachs Chef?«

»Ich darf eigentlich nicht darüber reden, aber es liegt ja auf der Hand.«

»Mehrländer leitet also die Ermittlungen.«

»Bitte, Herr Schaake, ich darf doch nicht mit einem Außenstehenden über Interna reden!«

»Ich bin also ein Außenstehender. Ich bin nichts. Oder?«

»Sie sind ein GM, ein Geheimer Mitarbeiter«, antwortete Georg ernsthaft. »Das ist die offizielle Bezeichnung.«

»Ich bin also ein offizieller geheimer Mitarbeiter. Aber ich weiß nicht, an wen ich mich wenden kann, wenn ich ein Problem habe. Oder eine Beschwerde, oder was weiß ich. Kommen Sie mir nicht mit Urbach. Wie erreiche ich Mehrländer?«

»Über Urbach.«

Schaake trank seinen Kaffee. Dann fragte er: »Was würden Sie an meiner Stelle tun? Würden Sie sich an der Jagd auf einen ehemaligen Freund beteiligen?«

Georg sah Schaake eine Weile verständnislos an, dann nickte er überzeugt. »Aber selbstverständlich!«, versicherte er.

Schaake seufzte. Er stand auf. »Bis morgen früh. Halb neun, nicht wahr?«

»Herr Urbach kommt um neun. Früher brauchen Sie nicht hier zu sein.« Georg sprang auf und angelte nach seiner Jacke.

»Wo wollen Sie denn hin?«, fragte Schaake.

»Wir können doch einen gemeinsamen Bummel machen. Ich zeige Ihnen die Stadt.«

Schaake schüttelte den Kopf. »Wenn ich Sie in meiner Nähe sehe, steige ich in ein Taxi, lasse mich zum Flughafen fahren, und nehme die nächste Maschine nach München. Ist das klar?«

Georgs Miene verriet Skepsis, aber er hängte seine Jacke wieder über die Stuhllehne. Schaake deutete auf das Tonbandgerät.

»Ich denke, Sie können das Ding jetzt abschalten«, sagte er. Dann verließ er die Wohnung.

Über Euskirchen und Zülpich fuhr er nach Düren. Er hätte auch die Autobahn nehmen können, aber er bevorzugte die zügige Fahrt durch die Dörfer und kleinen Städte. Es war kurz nach halb acht, als er an dem kleinen zementverputzten Haus seiner Tante schellte, in dem seine Mutter wohnte. Er, Volker Schaake, hatte dieselben beiden, winzigen Mansardenzimmer bewohnt, als er in Aachen studierte. Als sein Vater vor acht Jahren starb, war seine Mutter von Minden nach Düren zu ihrer Schwester und deren Mann gezogen.

Seine Mutter öffnete, und als sie ihn erkannte, umarmte sie ihn und wollte ihn nicht mehr loslassen.

»Ja, Volker! Ich hatte gehofft, dass du gestern noch gekommen wärst, aber dann habe ich nichts mehr von dir gehört... Das ist aber eine Überraschung! Schade, dass Heike und die Kinder nicht dabei sind. Komm rein, komm. Du hast doch sicher noch nichts gegessen. Komm, komm. – Gerda, Otto! Volker ist da!«

Schaake begrüßte seine Tante mit einem herzlichen Kuss auf die Wange. Sie sah seiner Mutter sehr ähnlich. Sie war vier oder fünf Jahre jünger, eine gemütliche, bescheidene Frau. Otto Esser war Postbeamter, ein ruhiger, geduldiger Typ. Schaake mochte ihn. Otto Esser drückte Volker fest die Hand, und sie unterhielten sich ein paar Minuten, bis seine Mutter ihn rief und er nach oben ging.

Sie kochte Tee und richtete einige Butterbrote für ihn. Sie hatte schon gegessen, und sie sah ihm beim Essen zu und freute sich einfach, weil er da war.

Er erzählte auch ihr von der Reise nach Namur, und sie meinte, dann könnte er doch bei ihr übernachten. Er lachte.

»Das geht nicht, Mutter. Ich treffe heute Abend noch ein paar Kollegen.« Er streichelte ihre Hand, »ich wollte dir nur mal guten Tag sagen, wo ich schon in der Nähe war. Zu mehr reicht es einfach nicht.«

»Ach, ich freue mich ja auch so.«

Er erzählte von Udo und Gerd, weniger von Heike. Sie war mit zum Flughafen gefahren, weil er nicht wusste, wann er zurückkommen würde, und den Wagen nicht so lange stehen lassen wollte. Es war eine schweigsame Fahrt gewesen, nachdem sie Gerd an seiner Schule abgesetzt hatten. Als er gestern Abend zu ihr ins Bett kommen wollte, hatte sie sich geziert, und als sie dann wollte, war er stur geblieben. So war es oft in der letzten Zeit. Scheiße, dachte er. Na ja...

»Weißt du«, sagte er dann zu seiner Mutter, »als ich jetzt zu dir fuhr, musste ich an Minden denken. Komisch, ich habe lange nicht mehr an Minden gedacht.«

Seine Mutter wurde lebhaft. »Ach, das habe ich dir ja gar nicht erzählt! Im Juli habe ich die Jungs in Köln getroffen!«

Hans Jung, und seine Frau – wie hieß sie doch noch? Mathilde? Seine Eltern waren mit ihnen befreundet gewesen. Hans Jung war nach dem Krieg bis zu seiner Pensionierung Verwaltungsdirektor der Stadtwerke gewesen. Schaake erinnerte sich an einen stockkonservativen Mann mit pastoralem Gehabe.

»Sie waren in Köln«, fuhr seine Mutter fort. »Die Jungs sind ja so katholisch, weißt du noch? Da wollten sie doch im Jahr des Dom-Jubiläums unbedingt nach Köln. Na ja, sie haben in einem Hotel übernachtet, und ich bin nach Köln gefahren und habe sie getroffen.«

Schaake lächelte und hörte zu. Seine Mutter wechselte jedoch bald das Thema.

»Von deinen alten Freunden und Klassenkameraden hörst du auch nichts mehr, nein? Auch nicht von Wolfgang?«

Wolfgang... Er konnte sich kaum noch an den Nachnamen erinnern. Fiebig, richtig

»Wolfgang lebt in Berlin, glaube ich. Er hat dort studiert und ist dort geblieben.«

»Rainer hat es von euch allen am weitesten gebracht, glaube ich.«

Schaake lächelte milde. Rainer hatte Jura studiert. Auch von ihm hatte er lange nichts mehr gehört.

»Er ist Bürgermeister in Petersdorf, wusstest du das?«

Schaake schüttelte den Kopf. »Nein, das wusste ich nicht.«

»Wer hätte das gedacht! Sein Vater war doch Straßenbahnfahrer.«

»Er war Fahrdienstleiter«, sagte Schaake mechanisch.

»Na, und der Jochen, der ist ja in die Zone gegangen. Komisch eigentlich. Ich hab das nie verstanden. Geschrieben hat er auch nie mehr. Ich weiß nicht, ich hätte etwas mehr Dankbarkeit erwartet. – Wie lange hat er bei uns gewohnt? Ein halbes Jahr?«

»Mutter! Sechs oder sieben Wochen!«

»Na ja, immerhin. Er hatte ja sonst niemanden.«

»Schade, dass all die alten Fotos weggekommen sind«, sagte er.

»Ach Volker, fang doch nicht wieder damit an! Ich weiß ja auch nicht, wie das passieren konnte. Dein ganzer Fotokoffer... Na, immerhin hab ich ja noch den Karton mit den alten Bildern, die Vater aufgehoben hatte.«

Schaake bemühte sich, nichts von seiner Erregung zu zeigen. Er hatte ja gehofft, dass seine Mutter irgendwo die Bilder verwahrte, an denen ihr etwas lag, und dass einige von ihm und seinen Freunden dabei wären. Er hatte damals ihren Hund, das Haus, seinen Vater, seine Mutter, fotografiert.