Flüstern der Natur

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Flüstern der Natur

Sri Aurobindo

Die Mutter

Andere Autoren

Sri Aurobindo Digital Edition

Inhaltsverzeichnis

Impressum

Erwachen der Natur

Die Schöpfung

Er ist in dir – Er ist du

Dies ist das Geheimnis der Natur

Die Welt der Materie

Partikel Gottes

Verborgenes Bewusstsein

Die Welt der Pflanzen

Geheimnisvolle Welt der Pflanzen

Das Verlangen nach Licht

Duftende Gebete

Die Welt der Tiere

Instinkt in Tieren

Wunderbare Geschöpfe

Perversion beginnt mit der Menschheit

Tiere verstehen

Nähe zu Tieren

Eins mit der Natur

Zwiesprache mit der Natur

Strahlende Reinheit

Das Ende des Lebens - Der Anfang des Überlebens

Der Mensch jenseits des Menschen

Höher hinausstreben

Der Mensch – das höhere Wesen

Kontakt der Liebe

Anhang

Wir danken

Quellennachweis

Sri Aurobindo Digital Edition

Impressum

Editor: Vijay

© 1990 Sri Aurobindo Society Pondicherry

Herausgegeben vom Sri Aurobindo Buchhandel

Verlag Hesslinger und Schuh

Übersetzung aus dem Englischen:

Wilfried Huchzermeyer

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Digitale Publikation

ISBN 978-3-937701-89-9

© 2018 AURO MEDIA

Verlag und Fachbuchhandel Wilfried Schuh

www.auro.media

verlag@auro.media

Berchtesgaden, Deutschland

© aller Fotos und Schriften Sri Aurobindos und der Mutter:

Sri Aurobindo Ashram Trust

Indien, Puducherry

Alle Rechte vorbehalten


Erwachen der Natur

Das ganze Dorf war im Garten des Bildhauers versammelt. Sie hatten sich an ihn gewöhnt, an das Meiseln, Hämmern, Kratzen und Schaben. Aber heute war es anders. Wo zuvor ein großer, harter Felsbrocken lag, stand nun eine lebendige Göttin, schön und strahlend, in das sanfte Licht der Morgensonne gehüllt. Sie waren der Sprache beraubt und vermochten ihre Augen nicht vom Wunder zu lösen.

Der Zauber wurde von einer sanften, erstaunten Stimme gebrochen:

„Aber woher wussten Sie, dass sie sich im Inneren verbirgt?“

Der Bildhauer lächelte mit entrücktem Blick:

„Weil ich sie im Inneren sah.“

* * *

Was ist die Natur? Was verbirgt sich in ihr? Wir haben in diesem Buch versucht, eine Antwort auf diese Fragen zu finden – in den Tieren, den Pflanzen und selbst den Steinen, die scheinbar leblos und unbewusst sind, die verborgene, jedoch vibrierende Energie wahrzunehmen, das wachsende Leben, das suchende Bewusstsein – die unendlichen Stimmungen und Ausdrücke der Natur zu verstehen und zu lieben – ihr nahe zu kommen durch die Felsen, die Bäume, die Insekten, die Tiere, die Sonne, den Wind, den Regen und den Sturm; und schließlich – eine klarere Schau zu haben von der verborgenen Göttin, der Göttlichen Gegenwart.

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Wir danken Autoren, Verlegern, Photographen und anderen Mitarbeitern für ihre Hilfe bei der Herausgabe dieses Buches.

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Die Schöpfung

Er ist in dir – Er ist du

Fürchte dich nicht, zweifle nicht, sorge dich nicht, denn in deinem Scheinkörper ist Einer, der Welten mit einem Atemzug erschaffen und zerstören kann...

Eine strahlende Sonne geht über dem Horizont auf. Es ist dein Herr, der zu dir kommt.

Die ganze Welt erwacht und streckt sich in Wonne beim Kontakt seiner Herrlichkeit.

Wie die Erde, die sich hebt und öffnet, wie der Baum, der wächst, wie die Blume, die blüht, wie der Vogel, der singt, wie der Mensch, der liebt, lass Sein Licht dich durchdringen und durchstrahlen in immer wachsendem und sich weitendem Glück, in einer Freude, die sich stetig voran bewegt wie die Sterne am Himmel.

Die Mutter

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Blick auf zur Sonne; Er ist dort in jenem wunderbaren Herzen des Lebens und Lichtes und Glanzes. Sieh des Nachts die zahllosen Konstellationen, die leuchten wie viele heilige Wachfeuer des Ewigen in der grenzenlosen Stille, die keine Leere ist, sondern pocht mit der Gegenwart einer einzigen, ruhigen und gewaltigen Existenz; schau dort Orion mit seinem Schwert und Riemen, leuchtend wie einst den arischen Vorvätern vor zehntausend Jahren zu Beginn des arischen Zeitalters; schau Sirius in seinem Glanz, und Lyra Millionen von Meilen entfernt im Ozean des Raumes segelnd. Denk daran, dass diese zahllosen Welten – die meisten von ihnen mächtiger als unsere eigene – mit unbeschreiblicher Geschwindigkeit wirbeln auf Geheiß jenes Urahns, und er allein weiß, wohin, und dass sie doch millionenfach älter sind als dein Himalaya, beständiger als die Wurzeln deiner Hügel, und dass sie dies bleiben werden, bis Er auf seinen Willen hin sie abschütteln wird wie welke Blätter vom ewigen Baum des Universums. Stell dir die Endlosigkeit der Zeit vor, erkenne die Grenzenlosigkeit des Raums; und dann denk daran, dass, als diese Welten nicht waren, Er war, derselbe wie jetzt, und wenn diese nicht sind, Er sein wird, immer noch derselbe; sieh, dass jenseits von Lyra Er ist, und weit fern im Raum, wo die Sterne des Kreuzes des Südens nicht gesehen werden können, ist Er doch da. Und dann komm zurück zur Erde und erkenne, wer Er ist. Er ist dir ganz nahe. Sieh dort den alten Mann, der nahe an dir vorübergeht, gebückt und gebeugt, mit seinem Gehstock. Erkennst du, dass dies Gott ist, der da vorübergeht? Dort lacht ein Kind und läuft im Sonnenlicht. Kannst du Ihn hören in jenem Lachen? Ja, Er ist dir noch näher. Er ist in dir, Er ist du. Du selbst bist es, der dort Millionen von Meilen entfernt in den unendlichen Weiten des Raumes brennt, der mit sicheren Schritten wandelt auf den rollenden Wogen des Äthermeeres; du bist es, der die Sterne an ihren Ort gesetzt hat und das Halsband der Sonnen gewebt hat, nicht mit Händen, sondern durch jenen Yoga, jenen stillen handlungslosen unpersönlichen Willen, der dich heute hierher gebracht hat und dich veranlasst, mir zuzuhören. Blick auf, o Kind des Yoga alter Zeiten, sei nicht mehr ein Zauderer und Zweifler; fürchte dich nicht, zweifle nicht, sorge dich nicht; denn in deinem Scheinkörper ist Einer, der Welten mit einem Atemzug erschaffen und zerstören kann.

Sri Aurobindo

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Dies ist das Geheimnis der Natur

Im Zentrum jedes Atoms liegt die Höchste Göttliche Wirklichkeit verborgen...

 

„Das Hauptmotiv“, das heißt, der Zweck irdischen Daseins, besteht darin, den Geist zu erwecken, zu entwickeln und schließlich zu offenbaren, der im Zentrum der Materie verborgen liegt und diese Materie von innen her nach außen hin in Richtung auf eine fortschreitende Entwicklung treibt, die den von innen her wirkenden Geist befreien wird.

So finden wir in den äußeren Erscheinungen, wie wir sie sehen, zunächst das Mineralreich mit Steinen, Erde, Mineralien, die unserem äußeren Bewusstsein absolut unbewusst erscheinen. Und doch liegt hinter dieser Unbewusstheit das Leben des Geistes, das Bewusstsein des Geistes, der vollständig verborgen, gleichsam im Schlafe befindlich ist – obgleich das nur ein Anschein ist – und der von innen her wirkt, um diese Materie, die dem Anschein nach vollständig leblos ist, schrittweise umzuwandeln, damit ihre Organisation sich mehr und mehr der Manifestation von Bewusstsein öffne... Zunächst ist dieser Schleier lebloser Materie so vollständig, dass sie dem oberflächlichen Blick etwas ist, was weder Leben noch Bewusstsein hat. Wenn du einen Stein nimmst und ihn mit deinen gewöhnlichen Augen und deinem gewöhnlichen Bewusstsein betrachtest, sagst du, „er hat kein Leben, kein Bewusstsein.“ Denn für denjenigen, der hinter die Erscheinungen zu blicken vermag, befindet sich, verborgen im Zentrum dieser Materie – im Zentrum jedes Atoms dieser Materie – die Höchste Göttliche Wirklichkeit, die von innen her schrittweise durch Jahrtausende wirkt, um diese träge Materie in etwas umzuwandeln, was genug Ausdruckskraft besitzt, um den Geist im Inneren offenbaren zu können. Dann haben wir den stufenweisen Ablauf der Geschichte von Leben: wie plötzlich vom Stein ein rudimentäres Leben erschien, und durch aufeinanderfolgende Gattungen eine Art Organisation, das heißt, eine organische Substanz, die fähig ist, das Leben zu offenbaren. Doch zwischen den Mineral- und Pflanzenreichen gibt es Übergangselemente; man weiß nicht, ob sie dem Mineral- oder bereits dem Pflanzenreich angehören – wenn man dies im Detail studiert, sieht man einige seltsame Gattungen, die weder hierhin noch dorthin gehören, die nicht recht dies und noch nicht recht jenes sind. Dann kommt die Entwicklung des Pflanzenreichs, wo natürlich das Leben auftritt, denn dort ist Wachstum, Umwandlung – eine Pflanze sprießt auf, entwickelt sich, wächst – und mit dem ersten Phänomen des Lebens kommt auch das Phänomen von Zerfall und Zersetzung, welche relativ sehr viel schneller eintreten kann als beim Stein: ein Stein kann, wenn er von der Einwirkung anderer Kräfte abgeschirmt wird, scheinbar unendlich lange fortdauern, wohingegen die Pflanze bereits einer Kurve von Wachstum, Aufstieg und Fall und Zersetzung folgt – aber dies mit einem äußerst beschränkten Bewusstsein. Wer das Pflanzenreich im Detail studiert hat, weiß, dass sich dort ein Bewusstsein findet. Pflanzen zum Beispiel benötigen Sonnenlicht zum Leben, die Sonne repräsentiert die aktive Energie, die sie wachsen lässt; wenn man also eine Pflanze an einen Ort stellt, wo kein Sonnenlicht vorhanden ist, so sieht man, wie sie immer weiter nach oben wächst, indem sie versucht, indem sie eine Anstrengung unternimmt, das Sonnenlicht zu erreichen. In einem Urwald zum Beispiel, wo der Mensch nicht in das Geschehen eingreift, existiert diese Art Kampf zwischen allen Pflanzen, die immer in der einen oder anderen Weise nach oben wachsen in der Bemühung, Sonnenlicht zu erhaschen. Es ist sehr interessant. Aber selbst wenn man einen Blumentopf in einen kleinen von Mauern umgebenen Hof stellt, wo keine Sonne hereinkommt, wird eine Pflanze, die normalerweise diese Höhe hat, jene größere erreichen: sie streckt sich nach oben und macht eine Anstrengung, das Licht zu finden. Daher ist ein Bewusstsein vorhanden. ein Wille zum Leben, der sich bereits manifestiert. Und ganz langsam erreichen wir dann mit Gattungen, die immer höher entwickelt sind, ein weiteres Zwischenstadium zwischen dem, was nicht mehr ganz eine Pflanze und noch nicht ein Tier ist. Es gibt verschiedene solche Gattungen, die sehr interessant sind. Es gibt die fleischfressenden Pflanzen, Pflanzen wie ein offenes Maul: du wirfst eine Fliege hinein, und schnapp! sie verschlingen sie. Es ist nicht mehr ganz eine Pflanze und noch nicht ein Tier. Es gibt so viele Pflanzen dieser Art.

Dann kommen wir zum Tier. Bei den ersten Tieren ist es gewiss schwierig, sie von Pflanzen zu unterscheiden, es ist fast kein Bewusstsein da. Aber wir haben all die Tiergattungen, wir kennen sie bis zu den höheren Tieren hinauf, die in der Tat sehr bewusst sind. Sie haben ihren eigenen vollständig unabhängigen Willen. Sie sind sehr bewusst und wunderbar intelligent, wie zum Beispiel der Elefant; ihr kennt all die Geschichten von Elefanten und ihrer wunderbaren Intelligenz. Daher handelt es sich bereits um eine sehr wahrnehmbare Erscheinung des Mentalen. Und durch diese progressive Entwicklung gelangen wir dann plötzlich zu einer Gattung, die wahrscheinlich verschwunden ist – Spuren von ihr wurden gefunden – ein Zwischentier wie ein Affe oder von demselben Entwicklungszweig – etwas, was ihm nahe kommt, ähnlich ist, wenn auch nicht der Affe, so wie wir ihn kennen – aber bereits ein Tier, das auf zwei Beinen läuft. Und von dort gelangen wir zum Menschen. Es gibt einen vollständigen Anfang der Evolution des Menschen; wir können ja nicht sagen, dass er über eine brillante Intelligenz verfügt, aber es gibt bereits eine Aktion des Mentalen, einen Ansatz der Unabhängigkeit, unabhängiger Reaktion auf die Umwelt und die Kräfte der Natur. Und so gibt es im Menschen den ganzen Bereich, bis hinauf zum höheren Wesen, das zum spirituellen Leben fähig ist.

...Das Wesen, das innere göttliche Bewusstsein, die höchste spirituelle Wirklichkeit ist in ihrer Bemühung..., ein bewusstes Mittel zur Selbstmanifestation zu entwickeln, zu einem Wesen gelangt, das direkten Kontakt mit Ihm zu haben vermag, ohne den ganzen Entwicklungsprozess der Natur zu durchlaufen.

Die Mutter

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Verborgen in den Tiefen, im Kern der Materie, ist die Göttliche Gegenwart und... die ganze irdische Evolution erarbeitet die Rückkehr der Schöpfung zu ihrem Ursprung, zu dieser Göttlichen Gegenwart, die sich im Zentrum aller Dinge befindet – das ist die Absicht der Natur.

Das Universum ist eine Objektivierung des Höchsten Wesens, wie wenn Er sich außerhalb seiner selbst objektiviert hätte, um sich selbst zu sehen, sich selbst zu leben, sich selbst zu erkennen, und auf dass es eine Existenz und ein Bewusstsein gebe, die in der Lage sind, ihn als ihren Ursprung zu erkennen und sich bewusst mit ihm zu vereinigen, um ihn im Werden zu manifestieren. Es gibt keinen anderen Grund für das Universum. Die Erde ist eine Art symbolische Kristallisierung des universalen Lebens, eine Reduktion, eine Konzentration, auf dass das Werk der Evolution leichter zu vollbringen und ihm leichter zu folgen sei. Und wenn wir die Geschichte der Erde betrachten, können wir verstehen, warum das Universum geschaffen worden ist. Es ist das Höchste Wesen, das sich seiner selbst bewusst wird in einem ewigen Werden; und das Ziel ist die Vereinigung des Geschaffenen mit dem Schöpfer in der Manifestation, eine Vereinigung, die bewusst, willig und frei ist.

Das ist das Geheimnis der Natur. Natur ist die Vollzugskraft, sie ist es, die das Werk vollbringt. Und sie nimmt diese Schöpfung auf, die völlig unbewusst zu sein scheint, die aber das Höchste Bewusstsein und die einzige Wirklichkeit enthält, und sie tut ihr Werk, damit sich all dies entwickeln kann, selbstbewusst werden und sich selbst vollständig erkennen kann. Aber sie zeigt es nicht gleich von Anfang an. Es entwickelt sich stufenweise, und aus diesem Grund ist es zu Beginn ein Geheimnis, das dann enthüllt werden wird, wenn es sich dem Ende nähert. Und der Mensch hat nun einen Punkt in der Evolution erreicht, der hoch genug ist, so dass jenes Geheimnis enthüllt werden kann und jenes, was vorher in scheinbarer Unbewusstheit getan wurde, nun bewusst, willig und daher sehr viel schneller und mit der Freude der Verwirklichung getan werden kann.

Beim Menschen kann man bereits die spirituelle Wirklichkeit in Entwicklung sehen und erkennen, dass sie sich vollständig und frei ausdrücken wird. Vorher, im Tier und in der Pflanze, war es... notwendig, eine sehr klare Schau zu haben, um sie zu sehen, aber der Mensch ist sich dieser spirituellen Wirklichkeit selbst bewusst, zumindest im höheren Teil seines menschlichen Daseins. Der Mensch beginnt zu wissen, was der höchste Ursprung von ihm will, und arbeitet daran mit, es zu verwirklichen. Die Natur möchte, dass die Schöpfung sich dessen bewusst wird, der Schöpfer selbst zu sein in einer Objektivierung, das heißt, es besteht kein Unterschied zwischen dem Schöpfer und der Schöpfung, und das Ziel ist eine bewusste und verwirklichte Vereinigung. Das ist das Geheimnis der Natur.

Die Mutter

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Die Welt der Materie

Partikel Gottes

Die Natur manifestiert sich zuerst durch Materie als Energie. Dies ist nicht bloß eine wissenschaftliche Tatsache, sondern eine tiefe spirituelle Wahrheit und Erfahrung...

Stabilität und Bewegung, daran müssen wir uns erinnern, sind nur unsere psychologischen Darstellungen des Absoluten, ebenso wie es Einheit und Vielheit sind. Das Absolute ist jenseits von Stabilität und Bewegung, so wie es jenseits von Einheit und Vielheit ist. Aber es lagert sich ewig im Einen und Stabilen und wirbelt unendlich, unvorstellbar, sicher im Sich-Bewegenden und Vielfältigen, um sich selbst herum. Weltdasein ist der ekstatische Tanz Shivas, welcher den Körper Gottes für das Auge zahllos vervielfältigt: er belässt jenes blanke Dasein genau wo und was es war, immer ist und immer sein wird; sein einziges absolutes Anliegen ist die Freude am Tanzen.

Sri Aurobindo

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Der kosmische Tanz

Vor fünf Jahren hatte ich eine schöne Erfahrung... Eines Nach- mittags im Spätsommer saß ich am Meer und sah den Wellen zu, wie sie anrollten, und fühlte den Rhythmus meines Atems, als ich plötzlich gewahr wurde, wie meine ganze Umgebung in einem mächtigen kosmischen Tanz begriffen war. Als Physiker wusste ich, dass der Sand, die Felsen, das Wasser und die Luft um mich herum aus vibrierenden Molekülen und Atomen bestanden, und dass diese aus Partikeln bestehen, die aufeinander einwirken, indem sie andere Partikel schaffen und zerstören. Ich wusste auch, dass die Erdatmosphäre ständig von Schauern „kosmischer Strahlen“ bombardiert wird, Partikeln von Hochenergie, die vielfach kollidieren, indem sie die Luft durchdringen. Mit all dem war ich vertraut von meiner Forschung in Hochenergie-Physik, aber bis zu jenem Augenblick hatte ich es nur durch Schaubilder, Diagramme und mathematische Theorien erfahren. Als ich nun dort am Strand saß, wurden meine früheren Erfahrungen mit Leben erfüllt; ich „sah“ Kaskaden von Energie, die vom äußeren Raum herabkamen, wobei Partikel in rhythmischen Pulsen geschaffen und zerstört wurden; ich „sah“ die Atome der Elemente und jene meines Körpers teilhaben an diesem kosmischen Energietanz; ich fühlte seinen Rhythmus und ich „hörte“ seinen Ton, und in jenem Augenblick wusste ich, dass dies der Tanz Shivas war, des Herrn der Tänzer, angebetet von den Hindus.

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Die Tendenz von Partikeln, auf Beengung mit Bewegung zu reagieren, impliziert eine grundlegende „Ruhelosigkeit“ der Materie, welche charakteristisch für die subatomare Welt ist. In dieser Welt sind die meisten materiellen Partikel an die molekularen, atomaren und nuklearen Strukturen gebunden und befinden sich daher nicht im Ruhezustand, sondern haben eine inhärente Tendenz, herumzuschweifen – sie sind wesenhaft ruhelos. Gemäß der Quantentheorie ist die Materie daher nie statisch, sondern befindet sich stets in einem Zustand der Bewegung. Makroskopisch mögen die materiellen Objekte um uns herum passiv und leblos erscheinen, aber wenn wir ein solches „totes“ Stück Stein oder Metall vergrößern, sehen wir, dass es voller Aktivität ist. Je näher wir es betrachten, desto lebendiger erscheint es. Alle materiellen Objekte in unserer Umwelt bestehen aus Atomen, die sich in verschiedener Weise miteinander verbinden, um eine gewaltige Vielfalt molekularer Strukturen zu formen, die nicht starr und bewegungslos sind, sondern entsprechend ihrer Temperatur und in Harmonie mit den thermischen Schwingungen ihrer Umwelt oszillieren. In den vibrierenden Atomen sind die Elektronen durch elektrische Kräfte an die Atomkerne gebunden, die sie so nahe wie möglich beieinander zu halten versuchen, und sie reagieren auf diese Beengung, indem sie äußerst schnell herumwirbeln. In den Atomkernen schließlich werden die Protonen und Neutronen von den starken nuklearen Kräften auf ein winziges Volumen zusammengepresst, und folglich rasen sie mit unvorstellbaren Geschwindigkeiten herum. Die moderne Physik stellt also die Materie keineswegs als passiv und leblos dar, sondern als etwas, was sich in einer ständigen tanzenden und vibrierenden Bewegung befindet, deren rhythmische Muster durch die molekularen, atomaren und nuklearen Strukturen bestimmt werden. In gleicher Weise sehen auch die östlichen Mystiker die materielle Welt. Sie heben alle heraus, dass das Universum dynamisch zu erfassen ist, wie es sich bewegt, vibriert und tanzt; jene Natur befindet sich nicht in einem statischen, sondern einem dynamischen Gleichgewicht. Mit den Worten eines taoistischen Textes:

 

„Die Stille in der Stille ist nicht die wirkliche Stille. Nur wenn Stille in der Bewegung vorhanden ist, kann der spirituelle Rhythmus erscheinen, der Himmel und Erde erfüllt.“

In der Physik erkennen wir die dynamische Natur des Universums nicht nur, wenn wir in die kleinen Dimensionen gehen – in die Welt der Atome und Atomkerne – sondern auch, wenn wir uns großen Dimensionen zuwenden – der Welt von Sternen und Galaxien. Durch unsere starken Teleskope beobachten wir ein Universum in unaufhörlicher Bewegung. Rotierende Wolken von Wasserstoffgas schrumpfen zusammen, um Sterne zu bilden, wobei sie sich erhitzen, bis sie zu brennenden Feuern am Himmel werden. Wenn sie jenes Stadium erreicht haben, rotieren sie noch weiterhin, wobei einige von ihnen Material in den Raum ausstoßen, das in Spirallinien nach außen fliegt und sich zu Planeten kondensiert, die um den Stern herumkreisen. Nach Millionen von Jahren schließlich, wenn der größte Teil des Wasserstoffbrennstoffs aufgebraucht ist, dehnt sich ein Stern aus und schrumpft dann wieder im abschließenden Gravitationskollaps. Dieser Kollaps kann mit gigantischen Explosionen verbunden sein und kann den Stern sogar in ein „schwarzes Loch“ verwandeln. All diese Vorgänge – die Bildung der Sterne aus interstellaren Gaswolken, ihre Schrumpfung und anschließende Expansion sowie ihr abschließender Kollaps – können tatsächlich am Himmel beobachtet werden. Die herumwirbelnden, expandierenden oder explodierenden Sterne häufen sich in Galaxien verschiedener Formen an – flachen Scheiben, Sphären, Spiralen usw., welche wiederum nicht bewegungslos sind, sondern rotieren. Unsere Galaxie, die Milchstraße, ist eine immense Scheibe von Sternen und Gas, die sich wie ein großes Rad im Raum dreht, so dass all ihre Sterne – einschließlich der Sonne und ihrer Planeten – sich um das Zentrum der Galaxie bewegen. Das Universum ist voller Galaxien, die über den ganzen Weltraum verstreut sind, den wir sehen können; sie alle wirbeln wie unsere eigene.

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Die Vorstellungen von Rhythmus und Tanz kommen uns ganz natürlich in den Sinn, wenn wir uns den Energiefluss vorzustellen versuchen, der durch die Strukturen geht, welche die Partikelwelt ausmachen. Die moderne Physik hat uns gezeigt, dass Bewegung und Rhythmus wesenhafte Eigenschaften der Materie sind; dass alle Materie, ob hier auf der Erde oder im äußeren Weltraum, in einem ständigen kosmischen Tanz begriffen ist. Die Mystiker des Ostens haben eine dynamische Betrachtungsweise des Universums, ähnlich jener der modernen Physik, und daher überrascht es nicht, dass auch sie das Bild des Tanzes gebraucht haben, um ihre intuitive Schau der Natur mitzuteilen. Ein schönes Beispiel eines solchen Bildes von Rhythmus und Tanz gibt Alexandra David-Neel in ihrem Buch Tibetan Journey, worin sie beschreibt, wie sie einen Lama traf, der sich selbst als „Meister des Tons“ bezeichnete und ihr die folgende Beschreibung seiner Schau der Materie gab:

„Alle Dinge... sind Ansammlungen von Atomen, die tanzen und durch ihre Bewegungen Töne erzeugen. Wenn der Rhythmus des Tanzes sich ändert, verändert sich auch der Ton, den er erzeugt... Jedes Atom singt ständig sein Lied, und der Ton schafft in jedem Augenblick dichte und subtile Formen.“

Die Ähnlichkeit dieser Betrachtungsweise mit jener der modernen Physik wird besonders augenfällig, wenn wir daran denken, dass jeder Ton eine Welle mit einer bestimmten Frequenz ist, die sich ändert, wenn der Ton sich ändert, und dass Partikel, das moderne Äquivalent des alten Konzepts der Atome, ebenfalls Wellen sind mit Frequenzen proportional zu ihren Energien. Nach der Feldtheorie „singt jede Partikel“ tatsächlich „ständig ihren Ton“ und produziert dabei rhythmische Energiestrukturen (die tatsächlichen Partikel) in „dichten und subtilen Formen“.

Die Metapher des kosmischen Tanzes fand ihren tiefsten und schönsten Ausdruck im Hinduismus, mit dem Bild des tanzenden Gottes Shiva. In einer seiner vielen Inkarnationen erscheint Shiva, einer der ältesten und populärsten indischen Götter, als der König der Tänzer. Nach dem Hindu-Glauben ist alles Leben Teil eines großen rhythmischen Prozesses von Schöpfung und Zerstörung, von Tod und Wiedergeburt, und Shivas Tanz symbolisiert diesen ewigen Rhythmus von Leben und Tod, der in endlosen Zyklen abläuft. Mit den Worten von Ananda Coomaraswamy:

„In der Nacht Brahmans ist die Natur leblos und kann nicht tanzen, bis Shiva es will: Er erhebt sich von Seiner Verzückung und sendet tanzend pulsierende Wellen erweckenden Tones durch die leblose Materie, und siehe! die Materie tanzt ebenfalls und erscheint als Glorie um ihn herum. Tanzend liegt er ihren vielfältigen Phänomenen zugrunde. Indem er in der Fülle der Zeit immer noch weiter tanzt, zerstört er alle Formen und Namen durch Feuer und erschafft neue Ruhe. Dies ist Dichtung, aber nichts desto weniger Wissenschaft.“

Der Tanz Shivas symbolisiert nicht nur die kosmischen Zyklen von Schöpfung und Zerstörung, sondern auch den täglichen Rhythmus von Geburt und Tod, der in der indischen Mystik als Daseinsgrundlage betrachtet wird. Gleichzeitig erinnert uns Shiva daran, dass die vielfältigen Formen in der Welt Maya sind – nicht fundamental, sondern illusorisch und immer sich wandelnd – während er sie ständig im unablässigen Fluss seines Tanzes schafft und zerstört. Wie Heinrich Zimmer es beschrieben hat:

„Seine heftigen und anmutigen Gesten führen die kosmische Illusion herbei; seine fliegenden Arme und Beine und das Schwanken seines Torsos erzeugen – ja sind – die ständige Schöpfung-Zerstörung des Universums, wobei Tod genau Geburt die Waage hält, Auslöschung am Ende jedes Hervorkommens steht.“

Fritjof Capra

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