Loe raamatut: «Mama, ich höre dich»
Alwin Meyer
Mama, ich höre dich
Mütter, Kinder und Geburten in Auschwitz
Steidl
Inhalt
Cover
Titel
Einleitung
»Uns war sehr bange«
»Der oberste Zweck war Vernichtung«
Kinder aus vielen Ländern
Mütter mit kleinen Kindern
Schwangere Frauen und Geburten in Auschwitz
Geboren in Auschwitz und in Nováky
»Ein [SS-]Hund schleppte mein Kind auf den Platz« Die Geschichte von Joseph Fefferling und seiner Mutter Anna
»Als ich in Auschwitz geboren wurde, konnte ich nicht einmal schreien« Die Geschichte von Angela Orosz-Richt und ihrer Mutter Vera
»Ich habe sieben Babys in Auschwitz gestillt« Die Geschichte von Viktor Polschtschikow und seiner Mutter Anna
»Meine Mutter hatte große Angst um mein Leben« Die Geschichte von Władysław Osik und seiner Mutter Katarzyna
»So habe ich eine Familie und einen Namen bekommen« Die Geschichte von Barbara Wesołowska, ihrer mutmaßlichen Mutter Katja Kulik und ihrer Adoptivmutter Władysława Wesołowska
»Mehrere Mütter haben mich abwechselnd gestillt« Die Geschichte von Bogdan Chrześciański und seiner Mutter Henryka
»Ja, wir haben dich adoptiert« Die Geschichte von Jadwiga Teresa Wakulska, ihrer Mutter Karolina Pająk und ihrer Adoptivmutter Leokadia Worobiej
»Zeichen des Lebens in einer Zeit des Todes« Die Geschichte der Schwestern Eva Umlauf und Nora Sbornik sowie ihrer Mutter Agi Hecht
»Drei Jahre kämpften meine Eltern um mein Leben« Die Geschichte von Maciej Niewiadomski und seiner Mutter Leokadia Niewiadomska
»Ich sah wie ein bald an Hunger sterbendes Baby aus« Die Geschichte von Zofia Wareluk und ihrer Mutter Jadwiga Chyłkiewicz
»Zu meiner Milchschwester Angela habe ich bis heute Kontakt« Die Geschichte von György Faludi und seiner Mutter Erzsébet
»Zwillinge raus!«
Todesmärsche und andere Lager
Vom Leben danach
Anmerkungen
Abbildungsverzeichnis
Danksagung
Impressum
Angela Orosz-Richt (geborene Bein) wurde um den 21. Dezember 1944 in Auschwitz-Birkenau geboren.
Die in Auschwitz befreiten Babys und kleinen Kinder kannten die Vorstufen des Todes oft besser als das Leben. Unruhig und verzweifelt sind manche bis heute, weil sie nicht wirklich wissen und sich ständig fragen: »Wer bin ich?«, »Lebt meine Mutter noch?«, »Wo ist meine Schwester?«, »Wurde mein Vater tatsächlich vergast?«
Die Häftlingsnummer, am linken Unterarm, Oberschenkel oder Po eintätowiert, ist oft genug das Einzige, was Auskunft gibt: Auschwitz.
Die befreiten Mädchen und Jungen waren nur noch Haut und Knochen. Manche wussten nichts über ihre Herkunft. Fast alle waren Waisen. Sie trauten oft keinem Menschen mehr. Erwachsene waren für sie wie Kinder ohne jede Lebenserfahrung.
Überleben ist noch nicht leben, ist Zwischenzustand, bedeutete Leben lernen. Die befreiten Kinder mussten lernen, wieder jung zu werden, um wie die anderen Menschen altern zu können.
Bogdan Chrześciański im Alter von drei Jahren in Warschau. »Am 7. Januar 1945 kam ich in Auschwitz-Birkenau auf die Welt.«
Einleitung
Über die grausamen Verbrechen in Auschwitz ist vieles berichtet worden. Wenig bekannt ist die Geschichte der Kinder, vor allem die der Babys geblieben, die unter unvorstellbaren Bedingungen im größten Vernichtungslager Nazi-Deutschlands geboren wurden. Schwangere Frauen wurden in der Regel nicht in das Lager eingeliefert, sondern sofort getötet. Neugeborene und ihre Mütter, die am Leben blieben, waren große Ausnahmen. Überlebenschancen hatten insbesondere die Babys, die in den letzten Wochen, vor allem in den letzten Tagen vor der Befreiung, in Auschwitz auf die Welt kamen.1
Besonders die kleinen Kinder hatten nach ihrer Befreiung keinerlei Verhältnis zu den Dingen des täglichen Lebens. Sie kannten sie nicht. Tische dienten ihnen als Sitzgelegenheiten, Stühle als Wurfgeschosse, Essbestecke als Musikinstrumente. Sie wussten nicht, wie sie sich waschen sollten. Spiele waren ihnen fremd. Einige konnten gar nicht richtig gehen, bewegten sich nur im Gleichschritt fort, so wie sie es von den Lagerappellen gewohnt waren. Manche konnten sich nicht einmal an Mutter und Vater erinnern. Die Kinder waren auffallend reizbar. Ihre Stimmungen schwankten stark. Gegenüber ihrer neuen Umgebung verhielten sie sich lange misstrauisch. Wenn sie jemand verließ, setzten einige jüngere Kinder das mit dem Tod gleich – eine Erfahrung, die sie im Lager täglich hatten machen müssen.
Die Lebensfreude und Lebenslust neu oder wieder zu gewinnen, schien schwierig bis unmöglich. Alles konnte ständig ans Lager erinnern: Beim Ausziehen wurde automatisch die Kleidung nach Läusen abgesucht. Der Anblick von Uniformen löste Angst aus. Wer nicht genau hinsah oder wem es unmöglich war, in Richtung eines Uniformierten zu schauen, meinte immer, einen SS-Mann vor sich zu haben. Ein Gang durch ein Metalltor, das an die Tore der einzelnen Lagerabschnitte in Auschwitz-Birkenau erinnerte, ließ Panik entstehen. Der Klang einer unbekannten Sprache erinnerte an das Lager: Vielleicht kann ich den Befehl nicht verstehen und deshalb nicht ausführen, was den Tod bedeutet. Beim Haareschneiden kamen die Erinnerungen an die kahlgeschorenen Köpfe im Lager zurück. Metallgeschirr zu benutzen war unmöglich geworden – ebenso wie in langen Schlangen zu stehen. Zum Arzt gehen zu müssen löste Panikreaktionen bei den Kindern und Jugendlichen aus, die selber für medizinische Experimente im Lager missbraucht worden waren. Beim Reisen mit der Eisenbahn hatte man sofort die Deportationszüge vor sich.
Die Mädchen und Jungen lebten längere Zeit in Furcht, dass ihnen etwas entrissen wird: vor allem Essen und Kleidungsstücke. Essen zu verstecken gehörte zu ihrer Überlebensstrategie. Sie verteidigten es, als ginge es um ihr Leben. Denn im Lager hatte jeder noch so kleine Besitz einen unmessbaren Wert gehabt. Jeder kleine Kanten Brot hatte für ein, zwei oder mehr Tage das Weiterleben ermöglicht. Auch verdorbenes Essen durfte nicht weggeworfen werden. Entsprechende Forderungen von Erwachsenen, die nicht im Lager gewesen waren, wurden mit ungläubigen Blicken und entsprechenden Gedanken quittiert: »Ihr habt keine Ahnung vom wirklichen Leben!« Manche Kinder und auch Jugendliche vermieden zunächst jede Arbeit. Sie mussten mit ihren Kräften haushalten. Im Lager hatten sie gelernt: »Nur bei guter Gesundheit kann ich überleben.« Außerdem sagten sie sich: »Wir haben schon genug für die Deutschen gearbeitet.« Sich an die Regeln dieser Welt zu gewöhnen fiel schwer. Im Lager hatten sich alle geduzt. In der Freiheit war das anders. Offenbar waren äußere Höflichkeitsformen manches Mal wichtiger als wirkliche Anteilnahme und Herzlichkeit. Dabei genügte es doch, Essen und ein Dach über dem Kopf zu haben und zur Schule gehen zu können.
Viele Kinder hatten das Vertrauen in und zu den Menschen verloren. Und da war die Scham, von den schlimmen Erlebnissen mitunter nicht wirklich erzählen zu können. Andere, die keine Lagererfahrung hatten, hielten sie sowieso schon für »merkwürdig« und würden sie für noch »komischer« halten, wenn sie darüber berichteten. Wirklich verstanden fühlten sich die Kinder insbesondere von Menschen, die auch in Auschwitz oder anderen Lagern gewesen waren. Deshalb knüpften sie vor allem untereinander Kontakte. Ohne viele Worte verstanden sie sich oft sofort. Vor allem in den Nächten wurde Auschwitz wieder zur Realität: sich erinnern müssen, wie der Hunger den Magen umdreht. Sich erinnern müssen an die Kälte, die das Knochenmark durchdringt. Sich erinnern müssen an den Gestank von verbranntem Fleisch. Sich erinnern müssen an die Selektionen durch die SS, die einem Mutter und Vater, Schwester und Bruder, Großmutter und Großvater, Tanten und Onkel, Freundin und Freund nehmen. Angst davor haben, dass die eigene Nummer aufgerufen wird. In solchen Augenblicken spüren sie erneut den in Auschwitz allgegenwärtigen, jeden Augenblick drohenden Tod.
Diese Kinder wurden am 27. Januar 1945 in Auschwitz-Birkenau befreit.
Gedenksteine im ehemaligen Lager.
Als die Verfolgungen der in diesem Buch zu uns sprechenden Kinder von Auschwitz begannen, waren sie Säuglinge beziehungsweise Kinder im Alter von ein bis 13 Jahren. Als sie Sklavenarbeit leisten mussten oder zum ersten Mal in ein Zwangs-Ghetto beziehungsweise Lager eingesperrt wurden, waren sie alle im Kindesalter. Als sie in das Vernichtungslager Auschwitz oder in eines der Außenlager transportiert wurden, waren drei im Jugendalter, alle anderen 15 Jahre und jünger. Neun dieser Kinder wurden 1943, 1944 und 1945 in Auschwitz-Birkenau geboren.
Mehr als 1,3 Millionen Menschen wurden zwischen 1940 und 1945 nach Auschwitz deportiert. Darunter waren mindestens 1,1 Millionen Juden. Sie kamen unter anderem aus Ungarn, Polen, Frankreich, aus den Niederlanden, aus Griechenland, aus der Tschechoslowakei, aus Belgien, Deutschland, Österreich, Jugoslawien, Rumänien, Belarus, der Ukraine, Russland, Litauen, Lettland, Italien, Norwegen und Luxemburg.2
Das Lager Auschwitz bestand vor allem aus drei Hauptteilen: Auschwitz I, auch »Stammlager« genannt, Auschwitz-Birkenau, zweiter und größter Teil, und aus Auschwitz III (Monowitz), wo die IG Farbenindustrie AG (Hauptsitz Frankfurt am Main) unter anderem durch als Sklavenarbeiter eingesetzte Häftlinge des Konzentrationslagers Auschwitz ein Werk zur Herstellung von synthetischem Gummi (»Buna«) und Treibstoffen errichtete. Hinzu kamen mehr als vierzig Außenlager unterschiedlicher Größe wie Blechhammer, Kattowitz oder Rajsko.
Auschwitz-Birkenau war maßgeblich der zentrale Ort, an dem die Vernichtung der europäischen Juden stattfand. Mindestens eine Million jüdische Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer ließen Deutsche verhungern, wurden von ihnen mit Giftspritzen direkt ins Herz getötet, durch pseudomedizinische Verbrechen ermordet, wurden erschossen, totgeschlagen oder vergast.3
Zwischen 70.000 bis 75.000 Polen, 21.000 Sinti und Roma, 14.000 sowjetische Kriegsgefangene und 10.000 bis 15.000 Entrechtete vieler Sprachen wurden in Auschwitz ermordet.4
Mindestens 232.000 Säuglinge sowie Kinder und Jugendliche im Alter bis einschließlich 17 Jahren wurden nach Auschwitz verschleppt. Allein 216.000 waren Juden, 11.000 Sinti und Roma, mindestens 3.000 waren Polen, mehr als 1.000 Belarussen, Russen, Ukrainer sowie Kinder und Jugendliche anderer Nationen.5
Am 27. Januar 1945 konnten in Auschwitz lediglich 750 Kinder und Jugendliche im Alter von unter 18 Jahren befreit werden. 521 waren 14 Jahre und jünger,6 darunter ungefähr sechzig Neugeborene, von denen mehrere kurze Zeit später an den Folgen von Auschwitz starben.7
Jürgen Rolf Loewenstein am Tag seiner Einschulung in den 1930er Jahren. »Ich war ein echter Berliner Junge.«
»Uns war sehr bange«
ROBERT JOSCHUA BÜCHLER kam am 1. Januar 1929 im westslowakischen Topol’čany zur Welt. Zu diesem Zeitpunkt hatten in der 110 Kilometer von Bratislava entfernten Stadt etwa 12.000 Menschen ihr Zuhause. Ungefähr jeder fünfte Einwohner war Jude. »Die Vorfahren meines Vaters lebten seit ungefähr 200 Jahren in der Stadt. Meine Mutter kam aus dem dreißig Kilometer entfernten kleinen Dorf Oslany. Die Großmutter hatte Verkaufsstände auf dem Marktplatz in Topol’čany und auf den Plätzen der umliegenden Ortschaften. Das war ein richtiger Familienbetrieb. Von den dreizehn Kindern meiner Großeltern waren fünf Schneider so wie mein Großvater. Alles was verkauft wurde, stellten sie selber her. Als ich schon etwas älter war, half ich beim Verkauf. Das mochte ich sehr, das war eine große Attraktion für mich.«
JÜRGEN LOEWENSTEIN war ein echter Berliner Junge, der bei seinen Großeltern Berthold und Agathe Sochaczewer wohnte. Als die Nazis sie der Wohnung »verwiesen«, zogen sie ins Scheunenviertel im Zentrum Berlins, und zwar in die Grenadierstraße 4a (heute Almstadtstraße 49). »In der Grenadierstraße wohnten vor allem Juden, die aus Polen gekommen waren. Die meisten waren kleine Händler, Schneider oder Schuster. Überall gab es kleine Stuben, die als Synagogen dienten. Umgangssprache war Jiddisch.«
Für den Jungen änderte sich alles radikal Mitte der 1930er Jahre. Er sah zum ersten Mal einen Aufmarsch der »braunen Kolonnen«. Mit Fackeln, grölend und singend, marschierten sie durch seine Straße. Er öffnete das Fenster und konnte deutlich hören, was gesungen wurde: »Wenn das Judenblut vom Messer spritzt, geht’s noch mal so gut.« Diese Zeilen sind ihm nie mehr aus dem Kopf gegangen. Seine Großmutter hatte sie mit angehört. Als das Nazilied noch nicht ganz verklungen war, riss sie ihn weg, schloss schnell das Fenster und sagte: »Jürgen, sieh dir diese Menschen genau an: Das sind deine Feinde. Vergiss das niemals.« – »Damals hörte meine Kindheit auf. Ich war noch keine acht Jahre.«
LYDIA HOLZNEROVÁ begegnete 1937 im tschechischen Sudetengebiet, das im Herbst 1938 von deutschen Truppen besetzt werden würde, erstmals einem Nazi. Ihre Familie befand sich zur Erholung in einem Kurort, durch den eines Tages junge NSDAP-Anhänger mit Trommeln und Pfeifen marschierten. »Also, das nicht! Wir fahren nach Hause«, war der Kommentar ihres Vaters. »Warum denn?«, fragte die Siebenjährige. »Und damals haben mir die Eltern erklärt, dass sich wahrscheinlich etwas in unserem Leben ändern wird.« Immer häufiger diskutierten Emil und Růžena Holzner, ob sie emigrieren sollten. »Ich blieb immer von solchen Gesprächen verschont. Ich wurde immer hinausgeschickt.« Lydia erinnerte sich daran, dass ihre Eltern ihre sieben Jahre ältere Schwester Věra in Sicherheit bringen wollten. Doch ihre Schwester wollte sich nicht wegschicken lassen. Sie sagte: »Ich bin hier zu Hause. Das ist meine Heimat, und hier bleibe ich.«
YEHUDA BACON war zehn Jahre alt, als deutsche Truppen seine tschechische Heimatstadt Ostrava im März 1939 besetzten. Wie wenig der Junge und andere Kinder kurz vor dem Beginn des Zweiten Weltkrieges auf das vorbereitet waren, was auf sie und ihre Familien zukommen sollte, bezeugt ihr Verhalten beim Einmarsch der deutschen Truppen: »Bei der Einfahrt der Panzer standen wir Kinder am Straßenrand und haben bei jeder Gelegenheit die Panzer angefasst, denn wir hatten zu Hause gehört, dass es Kartonpanzer waren. Außerdem machte die feierliche Stimmung – wie es uns schien – und das Meer der Hakenkreuzfahnen auf uns einen tiefen Eindruck.« Nicht einmal im Traum hätte Yehuda vermutet, welche schreckliche Realität schon bald den Alltag nicht nur seiner Familie bestimmen sollte.
Damals marschierten deutsche Truppen auch im tschechischen Kutná Hora ein: Frühmorgens wurde die zehnjährige DAGMAR FANTLOVÁ von ihrem Vater Julius geweckt, und er sagte zu ihr: »›Wir haben die Republik verloren.‹ Dabei weinte er. Das war für mich etwas ganz Außerordentliches. Denn ich hatte meinen Vater noch nie weinen gesehen.« Dagmar stand auf und ging zur Schule. Dort war es wie immer. »Nur schlechtes Wetter hatten wir.« Als sie mittags nach Hause kam, erzählte ihr Vater von der Fahrt zu einem Patienten. Er fuhr mit seinem Auto auf der linken Seite. »So ist man damals noch bei uns gefahren.« Eine deutsche Kolonne kam ihm entgegen. Die fuhr rechts. Sie hielten ihn an und sagten ihm, dass er auf der rechten Straßenseite fahren müsse. Dagmars Vater kam »tief erschrocken« nach Hause.
JIŔÍ STEINER erinnerte sich zeit seines Lebens mit Schrecken an den Einmarsch der deutschen Soldaten (am 15. März 1939) in seine Heimatstadt Prag. Er und sein Zwillingsbruder Zdeněk waren zehn Jahre alt. Mit ihrer Mutter Jana waren sie allein zu Hause. Sie schauten auf die Straße, versteckten sich hinter den Gardinen, »damit man uns nicht sehen konnte«. »Mama begann zu weinen, und uns war sehr bange.«
Ende 1941 oder Anfang 1942 wurden die Juden im polnischen Sławków in einem Ghetto konzentriert. Von 18 Uhr bis sechs Uhr früh herrschte strikte Ausgangssperre. Der 14-jährige JANEK MANELA MANDELBAUM war in tiefer Sorge um seine Mutter. Sie versuchte, stark zu sein, sich um seinen Bruder und ihn zu kümmern: »Aber sie war aufs Äußerste beunruhigt – vor allem wegen meines Vaters und meiner Schwester«, die bei Verwandten wohnte. Auf ihren Vater hatte die Familie seit Sommer 1939 vergeblich gewartet. Er war bei ihrer Abreise in den Süden Polens in der Hafenmetropole Gdynia bei Gdańsk zurückgeblieben, hatte jedoch bald nachkommen wollen. – Eines Tages in der zweiten Juniwoche 1942 in Sławków, fünf Uhr früh: Es hämmerte an ihre und die Türen der anderen Juden: »Juden raus! Ihr habt fünf Minuten!« Schließlich wurde Janek von seiner Mutter und seinem Bruder getrennt. »Das war der schlimmste Moment in meinem Leben.«
ROBERT JOSCHUA BÜCHLER, der die jüdische Volksschule im slowakischen Topol’čany besuchte, durfte im September 1940 nicht mehr auf das örtliche Gymnasium gehen. Mit Beschluss vom 13. Juni 1939 hatte die slowakische Regierung jüdischen Schülern den Besuch von öffentlichen Schulen verboten.1 Die jüdischen Kinder durften nur noch jüdische Volksschulen oder Klassen besuchen. Die Jüdische Gemeinde in Topol’čany beschloss, die eigene Volksschule auf acht Klassen aufzustocken. Doch 1942 wurde das Schulgebäude beschlagnahmt. Der Unterricht hörte zunächst auf, wurde später jedoch – »für die von den Nazi-Aktionen verschont gebliebenen wenigen jüdischen Kinder« – im jüdischen Altersheim wieder aufgenommen. 1944 kam dann das endgültige Aus.2
Thessaloniki (Griechenland), 12. März 1943, es war ungefähr elf Uhr: Deutsche Militärpolizei forderte zahlreiche Juden der Stadt auf, ihre Sachen zu packen. HEINZ SALVATOR KOUNIO war 15 Jahre alt. Die Soldaten brachten ihn, seine ein Jahr ältere Schwester Erika sowie seine Eltern Helena und Salvator zunächst in den Stadtteil Baron Hirsch, in dem bereits viele Juden lebten, und der sich in der Nähe des Bahnhofs befand. Sonntag, 15. März: Um zwei Uhr nachts mussten sie sich auf deutschen Befehl hin auf dem zentralen Platz im Ghetto einfinden. Insgesamt waren sie ungefähr 2.800 Menschen:3 Babys, Kinder, Jugendliche, Frauen und Männer. Zwei Stunden lang geschah nichts, Anspannung und Unruhe wuchsen mit jeder Minute. »Die Mütter versuchten, ihre weinenden Kinder zu beruhigen. Die Männer starrten nervös in die Dunkelheit.« Dann »hörten wir die Befehle bezüglich unserer Deportation«. In Fünferreihen mussten alle zum Bahnhof marschieren. »Da standen diese geschlossenen Viehwaggons.« Sie mussten mit ihrem spärlichen Gepäck, mehr war ihnen zur Mitnahme nicht erlaubt worden, in den Waggon klettern. »Es wurde enger und enger. Es waren so viele Menschen, dass wir uns nicht hinsetzen oder hinlegen konnten. Nicht einmal für fünf Minuten.«
Als kleiner Junge hörte GÉZA SCHEIN die Erwachsenen vom Krieg reden. Die Scheins lebten auf der ungarischen Donau-Insel Csepel. Um die Jahreswende 1943/44 verbreitete sich in der Familie die Nachricht, dass Deutsche Juden aus anderen Ländern Europas in Konzentrationslager abtransportierten. Diskussionen begannen. Sollte die Familie so wie andere auch in die USA oder nach Südamerika auswandern? Doch sie fühlte sich nicht unmittelbar bedroht. Bis zum 19. März 1944, als deutsche Truppen das Land okkupierten. Im Mai kamen »ungarische Gendarmen« und forderten die Familie auf, die Sachen zu packen und mitzukommen. Der elfjährige Géza wurde im Juli mit seinen Eltern und Großeltern mütterlicherseits in einen Viehwaggon gepfercht.
Für Familie Bacon aus dem tschechischen Ostrava setzte sich der Zug – wie für viele andere jüdische Familien – im September 1942 in Bewegung. Sie wurden zunächst im Lagerghetto Theresienstadt eingesperrt. In dem Transport befanden sich der 13-jährige YEHUDA BACON, sein Vater Isidor, seine Mutter Ethel und seine 19-jährige Schwester Hanne. Rella, Yehudas zweite Schwester, war 1939 nach Palästina ausgewandert. Vor dem Abtransport herrschte bei ihnen, wahrscheinlich in allen Familien, die verschleppt werden sollten, Chaos. Da sie nicht mehr als fünfzig Kilogramm Gepäck nach Theresienstadt mitnehmen durften, fragte sich die Familie zum Beispiel: Was sollen wir mitnehmen? Wo sollen wir unser Eigentum verstecken? Wird diese oder jene Frau uns später die Sachen wieder zurückgeben? Sie badeten zum letzten Mal in ihrer Wohnung, legten sich in ihre Betten und fragten sich: Wo und worauf werden wir morgen schlafen? Am nächsten Morgen zog Yehuda alle seine neuen Sachen an, und das doppelt und dreifach. Drei Paar Strümpfe, zwei Hemden, Sweater, Wintermantel. Und überall hatte der Junge besondere Taschen, in denen er alles Mögliche verwahrte.
Wenn im Zug einer der deutschen Wachsoldaten vorbeikam, mussten alle aufstehen und die Kopfbedeckung abnehmen. 1947 protokollierte Yehuda Bacon in seinen Notizen die Szene so: »Was ist hier los? Wie heißt du? Joachim Krummholz. Batz, batz. Wie? Joachim Israel Krummholz. Wie? Du weißt es nicht? Bumm. Stinkjude Israel Krummholz, verstanden?! Jawohl, ich heiße Stinkjude Israel Krummholz. Hier können wir ersticken, geh die Fenster aufmachen! Wehe, wenn jemand die Fenster aufmacht, verstanden?! Hast du Wasser? Ich halt das schon nicht mehr aus.«
ELSE SCHMIDT4 kam vor ihrem ersten Geburtstag in die Hamburger Pflegefamilie von Auguste und Emil Matulat. Ihre leibliche Mutter ist Sintizza, wie das Mädchen Jahre später erfahren sollte. Als Else sieben Jahre alt war, wurde sie gegen vier Uhr morgens von ihrer Pflegemutter geweckt. »In unserem Haus sah ich zwei mir unbekannte Männer in langen Ledermänteln stehen. Sie verlangten, ich solle mit ihnen kommen. Mein Pflegevater war nicht zu Hause. Er war Hafenarbeiter und hatte Nachtschicht. Das war im Frühjahr 1943.« Die Männer stiegen mit Else in die Straßenbahn und brachten sie zu einer großen Halle, die sich im Hafen befand. »Dort waren schon viele Sinti und Roma.« Alle sollten nach Auschwitz-Birkenau deportiert werden. Eine der leiblichen Töchter von Auguste und Emil Matulat fuhr so schnell sie konnte zum Hafen, um ihren Vater zu Hilfe zu holen. »Mein Pflegevater ist sofort zu dieser Halle gegangen. Es gelang ihm irgendwie, mich freizubekommen«, was eine sehr, sehr große Ausnahme war. Auf dem Rückweg sagte Emil Matulat zu Else: »Vergiss das Ganze schnell wieder.«
HEINZ SALVATOR KOUNIO befand sich im März 1943 mit seiner Schwester Erika und seinen Eltern Helene und Salvator Kounio in einem Viehwaggon-Zug, der erstmals, nachdem sie in Thessaloniki abgefahren waren, nicht weit von der Grenze zwischen Griechenland und Serbien stoppte. Stunden um Stunden mussten sie warten. Die ganze Nacht und noch den folgenden Tag. Bis zur Dämmerung. Obwohl vor allem die kleinen Kinder ständig »nach Wasser, Wasser schrien«, wurden die Waggontüren nicht geöffnet. Auch die viel zu kleinen Eimer, in denen sie ihre Notdurft verrichten sollten und »die viele aufgrund der Enge gar nicht erreichen konnten«, wurden nicht geleert. »Es war schrecklich. Die vielen Fragen, die einem durch den Kopf sausten und unbeantwortet blieben. Die Alpträume in der Nacht. Die unaufhörlichen und alles durchdringenden Schreie der jüngeren Kinder.«
Am 5. September 1943 wurde die aus Prag stammende Familie Steiner in Viehwaggons verladen. »Immer sechzig bis siebzig Personen samt Gepäck in einem Waggon.« Nach drei Tagen kamen sie in Auschwitz an: Die Zwillingsbrüder JIŔÍ und ZDENĚK STEINER, gemeinsam mit ihren Eltern Jana und Pavel. Als sie auf dem Bahnhof standen, ohne dass die Türen geöffnet wurden, flog plötzlich ein kleines Päckchen durch die Luke. Sie waren erschrocken. Als sie es auspackten, befand sich darin ein Stück Salami. »Es war von einem deutschen Soldaten, der den Transport begleitet hatte.« Dann holte sie die SS brutal aus den Waggons. Sie wurden in zwei Gruppen geteilt: Frauen, Mädchen und kleine Kinder auf eine Seite, Männer und größere Jungen auf die andere Seite. In Fünferreihen mussten sie in einer langen Kolonne antreten. Angetrieben durch Stockschläge der SS mussten die jüdischen Kinder, Frauen und Männer gut drei Kilometer marschieren. Dann sahen sie hinter Stacheldrahtzäunen Menschen in gestreiften Anzügen, ohne Haare. Zuvor hatte es geheißen, sie müssten irgendwo im eigenen Land »irgendeine Arbeit verrichten«. Nun befanden sie sich in Auschwitz-Birkenau.
Dagmar und ihre drei Jahre jüngere Schwester Rita. Zusammen mit Mutter Irena und Vater Julius Fantl wurden sie 1943 nach Auschwitz deportiert. Nur Dagmar überlebte.
Mitte Dezember 1943: Die Familie Fantl zog, so wie andere jüdische Familien, viele Kleidungsstücke doppelt an. Als Gepäck durften sie jeweils zwanzig Kilogramm mitnehmen. In der Ecke des Viehwaggons stand ein Eimer, in den sie ihre Notdurft verrichten mussten. DAGMAR FANTLOVÁ war inzwischen 14, ihre Schwester Rita elf Jahre alt. Als der Transport in Auschwitz eintraf, schaute jemand hinaus und sagte: »Wir sind in Auschwitz.« Diesen Namen hatte Dagmar schon einmal irgendwo gehört, wusste aber nicht, was sich dahinter verbarg. »Ein schreckliches Gefühl« kroch in dem Mädchen hoch. Auch YEHUDA BACON und seine Familie kamen erneut in Viehwaggons, die versiegelt wurden: »Wie die Versiegelung eines Lebendigen in einem Sarg«. Sie wurden wie »Vieh« behandelt, »das zum Schlachten gebracht wurde«.
Eines Tages im April des Jahres 1944 hieß es im slowakischen Vel’ký Meder: »Alle Juden müssen sich melden, alle werden weggeschickt.« Zu Fuß mussten die Juden von Vel’ký Meder zum Bahnhof marschieren, der am Rand der Stadt lag. Unter ihnen befand sich der 15-jährige EDUARD KORNFELD. Etwas abseits vom Eingangsgebäude wartete ein extra bereitgestellter Zug auf sie. »Nur wenig haben wir mitnehmen dürfen, etwas Kleidung und Lebensmittel.« Alles andere hatten sie zurücklassen müssen: Geschäfte, Höfe, Häuser, Möbel, Kühe, Hühner, Ziegen. Der Zug brachte sie in das rund dreißig Kilometer entfernte Komárno. Die Juden wurden mit der jüdischen Bevölkerung der Umgebung sowie den übriggebliebenen Juden von Komárno in die Festung der Stadt aus dem 16. Jahrhundert eingesperrt. »Insgesamt müssen das um die 4.000 Menschen gewesen sein. Dort gab es kein Entkommen mehr. Es gab nichts zum Essen, keine Betten, nichts. Wir mussten auf dem nackten Boden schlafen.« Nur einmal am Tag kam ein Feuerwehrauto, und sie durften sich Wasser holen.
Ab Mitte Juni 1944 wurden die von und nach Komárno gebrachten Juden in zwei Transporten verschleppt. Darunter befanden sich auch zwei Onkel Eduards mit ihren Familien. »Der eine hatte sechs Kinder, der andere acht.« Nur eines der Kinder sollte am Leben bleiben. Stehend fuhren sie in dem »völlig überfüllten Viehwaggon«. Im rund 350 Kilometer entfernten Košice machte der Zug einen Halt auf dem Bahnhof der Stadt. Unter Bewachung durften sie austreten. Eduard sah eine Chance zu fliehen, wollte sich schnell unter die Menschen dort mischen. Noch einmal, zuvor hatte er bereits einen Versuch in Vel’ký Meder unternommen, forderte er das zwei Jahre jüngere jüdische Mädchen, in das er sich so sehr verliebt hatte, auf: »Komm, lass uns irgendwie untertauchen.« Aber sie wollte noch immer nicht. Also blieb Eduard bei ihr.
26. Juni 1944: Die noch nicht deportierten jüdischen Kinder, Frauen und Männer im ungarischen Békéscsaba wurden »einwaggoniert«. »Zuvor waren die meisten schon mit unbekanntem Ziel abtransportiert worden.« 85 bis 95 Menschen kamen in einen Viehwaggon. »Mit einem Eimer Trinkwasser und einem Eimer für die Notdurft.« In dem Transport befanden sich neben dem 14-jährigen GÁBOR HIRSCH sieben nahe Verwandte: seine Mutter Ella (48 Jahre), seine Großmutter Gizella (81), seine Tante Malvin (40) mit ihrem Sohn Tibor (15), seine andere Tante Rozsi (33) mit ihren Söhnen Jószef (sieben) und dem erst drei Monate alten Baby Péter. »In unserem Waggon sind während der Fahrt Menschen gestorben. Wie viele? Ich weiß es nicht.«
Seinen und den zwölften Geburtstag seines Zwillingsbruders FERENC konnte OTTO KLEIN nie vergessen. Sie hatten herausgefunden, dass im Haus eines christlichen Nachbarn im ostungarischen Hajdúböszörmény der Radiosender BBC gehört wurde. Der englische Hörfunksender strahlte mehrmals täglich Nachrichten aus. Eines der Fenster des Hauses grenzte an das Ghetto und war außen mit Brettern vernagelt worden. Doch wenn die Nachbarn »absichtlich, wie ich annehme«, das Fenster nach innen offen ließen, drangen Geräusche und Stimmen durch die Bretter nach draußen. Es war der 7. Juni 1944, als Otto und Ferenc ihre Ohren an die vernagelten Fenster pressten. Sie hörten die Nachricht von der tags zuvor angelaufenen erfolgreichen Invasion der Alliierten in der Normandie. Sie machten sich große Hoffnungen: »Würde der Krieg bald beendet sein?«
Mitte September 1944 im slowakischen Topoľčany: ROBERT JOSCHUA BÜCHLER war 15, seine Schwester Ruth elf Jahre. »Wir wussten, dass auch wir früher oder später an die Reihe kommen.« Der Junge hatte schon oft gesehen, dass Verwandte und Schulfreunde verschwanden. »Was mich störte war: ›Warum müssen wir die Letzten sein?‹ Es wurde gesagt, ›die Juden würden in Arbeitslager kommen‹.« Robert stellte sich das Lager so vor, wie er es über die Lager der Goldsucher in Alaska gelesen hatte. Er machte sich keine besonderen Sorgen. So fanden Robert, seine Schwester Ruth und andere Kinder die »Reise« anfangs »noch amüsant«. »Wir lagen auf dem Stroh, das auf dem Boden verstreut war.«