GEGEN UNENDLICH. Phantastische Geschichten – Nr. 13

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Table of Contents

Vorwort

Michael J. Awe: DER SELTSAMKEITSLADEN

Andreas Fieberg: 5-MINUTEN-SCHICKSAL

Fernando Sorrentino: SCHULD HAT DR. MOREAU

Joachim Pack: LIFT!

Uwe Durst: FRAU GRIESE

Norbert Fiks: KURZE UNTERBRECHUNG

Amyas Northcote: BRIKETT BOTTOM

Ute Dietrich: DAS EIS

Michael Hutter: MELCHIOR GRÜN UND DAS STERNENTIER

Ellen Norten: DER MAGISCHE SCHLEIER

Gert Prokop: NULL MINUS UNENDLICH

Armin Möhle: VERBRECHEN IM 21. JAHRHUNDERT. DIE SF-KRIMINALSTORYS VON GERT PROKOP

Die Autoren

Die Herausgeber

Titelillustration

Vorwort

Liebe Freunde der Phantastik!

Die phantastische Literatur erreicht Orte, von denen manch einer gar nicht wußte, daß es sie überhaupt gibt. Diese Erkenntnis wollen wir hiermit erneut auf die Probe stellen, und zwar mit einer gesunden Mischung aus forscher Phantastik und gediegener Science Fiction. Berührungsängste sind uns unbekannt, solange es sich um eine gute Erzählung handelt, die da zum Besten gegeben wird – das ist die einzige Form des Purismus, die wir uns erlauben. Ohnehin sind Definitionshubereien angesichts fließender Genre-Grenzen müßig, zumal wenn alle Spielarten spekulativer Literatur heute unterschiedslos unter dem Label »Fantastik« oder »Fantasy« versammelt werden.

Begleiten Sie uns also auf einen weiteren Ausflug »gegen unendlich« und lassen Sie sich von unseren Autoren über Grenzen entführen, hinter denen alles möglich scheint. Diesmal dürfen Sie sich sogar auf eine längere Reise freuen, denn der Umfang unseres Magazins soll ab dieser Ausgabe weiter wachsen.

Eine gelungene Einstimmung liefert Michael J. Awe mit dem »Seltsamkeitsladen«, in dem sich Menschen lästiger Peinlichkeiten entledigen können. Sie zahlen dafür einen hohen Preis.

Im »5-Minuten-Schicksal« von Andreas Fieberg wird eine Trockenmahlzeit aus Ursache und Wirkung mit dem kochenden Wasser einer falschen Entscheidung angerührt. Was dabei herauskommt, schmeckt den Beteiligten ganz und gar nicht.

Wer dagegen für das Scheitern einer Liaison verantwortlich zu machen ist, erzählt Fernando Sorrentino in seiner hintersinnigen Geschichte »Schuld hat Dr. Moreau«. Wir hatten bereits einmal das Vergnügen, eine Geschichte dieses ungewöhnlichen Autors zu bringen, dessen Kabinettstückchen einer Verbindung von Franz Kafka und Groucho Marx entsprungen sein könnten.

Mit der folgenden Story wechseln wir den Schauplatz und verlassen die Erde: »Lift!« spielt auf Vingart, einem fremden Planeten, der von menschlichen Truppen »befriedet« wurde. Joachim Pack schildert darin die kurze, aber lehrreiche Begegnung eines irdischen Soldaten mit einem Einheimischen.

Einen doppelt- und dreifachen Boden hat Uwe Durst in seine boshafte kleine Geschichte »Frau Griese« eingezogen, in der die titelgebende Figur sich mit fremden Nachstellungen auseinandersetzen muß – oder sind es gar die eigenen?

In der »Kurzen Unterbrechung« von Norbert Fiks geht es um den Anschlag von Technologiefeinden und einer Nebenwirkung ihrer Tat – eine solide Geschichte, die die Lesererwartungen nicht enttäuscht. Der Autor leistet übrigens auch als Veranstalter des SF-Events »Hinterm Mond 2018 – 2. Tag der Science-Fiction-Literatur in Ostfriesland« einen bedeutenden Beitrag.

Unser Dank für die Geschichte »Brikett Bottom« von Amyas Northcote gilt dem Herausgeber und Kenner klassischer Phantastik, Robert N. Bloch, der uns den Text als Entnahme aus seinem Privatdruck »Der verblichene Earl of D.« überließ. Übersetzt hat diese und die weiteren Geschichten der Sammlung kein geringerer als Michael Siefener. Amyas Northcote steht in der ehrenwerten Tradition der englischen Schauermär und fällt dabei durch einen angenehm eleganten Stil auf.

Leser älterer Ausgaben von GEGEN UNENDLICH werden sich an Ute Dietrich erinnern, eine Autorin, von der wir uns noch mehr Geschichten aus Science Fiction und Phantastik wünschten. Diesmal ist sie mit der dystopischen Elegie »Das Eis« vertreten, die die bekannten Topoi mit menschlicher Einfühlung neu belebt.

»Melchior Grün und das Sternentier« von Michael Hutter – dem wir auch das reizvolle Titelbild verdanken – geriert sich zunächst wie ein Märchen, entpuppt sich aber rasch als ein Betthupferl, das wir unseren Kleinen auf keinen Fall zumuten würden …

Ähnlich gelagerten Avancen wie in der vorherigen Erzählung kann sich die Protagonistin in Ellen Nortens »Der magische Schleier«, einer Geschichte mit dem Flair von 1001 Nacht, erfolgreich erwehren. Die Autorin ist zuletzt auch als Herausgeberin mit der vielbeachteten Anthologie »Das Alien tanzt Kasatschok« hervorgetreten.

Zum guten Schluß gibt Armin Möhle eine profunde Einführung in das Werk von Gert Prokop (1932–1994), der es zu DDR-Zeiten verstand, mit Witz und Tücke die staatlichen Kontrollen zu unterlaufen. Im Fokus der Betrachtung stehen Prokops SF-Krimis rund um den Privatdetektiv Timothy Truckle.

Aber auch die anderen utopischen Geschichten Gert Prokops lohnen eine Lektüre. Ein Beispiel für seinen Ideenreichtum und seine kurzweilige Art des Erzählens ist die Geschichte »Null minus unendlich«, die von einer bedrückend überbevölkerten Erde und einem Erfinder handelt, der glaubt, eine Lösung für die Misere gefunden zu haben. Wir danken dem Eulenspiegel-Verlag, der uns eine Neuveröffentlichung gestattete, und weisen gerne darauf hin, daß die Kurzgeschichtensammlung gleichen Titels als eBook verfügbar ist.

An dieser Stelle bliebe nur noch eine Anmerkung in eigener Sache: Wie gewohnt wird auch die vorliegende eBook-Ausgabe von GEGEN UNENDLICH im Druck erscheinen, und zwar im allseits bekannten Verlag p.machinery.

Lassen Sie sich gut unterhalten!

Die Herausgeber

Awe / Fieberg / Pack

Bonn, im April 2018

Michael J. Awe

DER SELTSAMKEITSLADEN

Es war ein kleiner, unscheinbarer Laden in einer langen Nebenstraße, der auf den ersten Blick durch nichts weiter auffiel und den doch jeder in der Stadt kannte. Nur ein Außenstehender, der die unordentliche Schaufensterauslage ein wenig näher in Augenschein nahm, konnte in die Verlegenheit kommen, sich ein wenig hilflos nach einem Ladenschild umzusehen, das es nicht gab, um dann irritiert mit einem letzten Blick über die Schulter seiner Wege zu gehen.

Im Schaufenster dieses merkwürdigen Geschäftes befanden sich Puppen. Keine kunstvollen Marionetten, keine liebevoll handgefertigten Figuren für die Weihnachtskrippe und erst recht kein Kinderspielzeug, sondern schmucklose, menschengroße Kunstoffgestalten mit ziemlich gewöhnlicher Kleidung, die mal mehr, mal weniger neuwertig war und keinen besonderen Stil erkennen ließ. Ein Gedanke an einen Second-Hand-Laden zerstreute sich sofort, wenn man die unvorteilhafte Aufstellung und die fehlenden Preisschilder betrachtete; die Puppen standen nämlich in einem wilden Durcheinander auf der kleinen Schaufensterfläche und waren so dicht gedrängt, dass man die eine Puppe nur schwer von ihrem Nachbarn unterscheiden konnte. Wohin man auch blickte, es standen acht, neun und mehr Puppen hintereinander, sodass man nur die vorderen Reihen, die so nah an der Scheibe standen, dass ihre ausdruckslosen Gesichter schon die Scheibe berührten, deutlich erkennen konnte.

Auch der Mann, der jetzt vor dem Laden stehenblieb, konnte in dem Durcheinander wenig ausmachen, aber sein zerstreuter Blick bekam eine Spur von Traurigkeit und unruhig nestelte er an dem Kragen seines dünnen Mantels, ein kleiner Tick, den er sich nicht abgewöhnen konnte, trotz ständiger Ermahnung durch seine Frau, das in der Öffentlichkeit sein zu lassen. Der Mann war nicht mehr jung, aber auch noch nicht alt, sein Haar war ein wenig zu lang und die Nase etwas zu groß. Das schmale Gesicht hätte eine Lebendigkeit ausgestrahlt, wenn es nicht in tiefer Nachdenklichkeit erstarrt gewesen wäre wie ein vereister See im Dezember. Seine Hand legte sich auf den abgenutzten Messingknauf, dem unzählige Besucher bei ihrem Eintritt die Farbe von hellem Gold verliehen hatten, und drehte ihn nach links. Das Öffnen der Tür wurde von dem Schellen einer kleinen Klingel begleitet.

Das Innere des Geschäftes war für den Eintretenden auf den ersten Blick noch nichtssagender als sein Äußeres; ein kleiner Raum, der überwiegend von dunklem Holz geprägt war, von den abgetretenen Bodendielen bis zu der massiven Theke am Kopfende des Raumes, die fast von einer Wand bis zur anderen reichte. Links und rechts auf der Theke standen zwei kleine Lampen, die zusammen mit dem wenigen Tageslicht, das durch das zugestellte Schaufenster fiel, die einzige Lichtquelle bildeten.

 

Der Mann war direkt hinter der Tür stehen geblieben und zögerte, weiter in den Laden hineinzugehen, von den wenigen Anwesenden ignoriert, sein Blick gefesselt von den Gestalten hinter der Theke, die bis auf ihre Kleidung haargenau den Puppen im Schaufenster glichen. Die zwei Kunden, eine ältere Frau und ein junger Mann, vermieden es, irgendjemanden außer den Puppen, die sie bedienten, anzusehen, und ihre Worte an die stummen Gestalten waren kaum zu verstehen.

Eine Tür hinter der Theke öffnete sich und langsam trat eine weitere Puppe in den Raum, einen grauen Anzug mit Weste tragend, der haarlose Kopf geschlechtslos wie der der anderen Bediensteten. Sie blieb reglos hinter der Theke stehen, das ausdruckslose Gesicht mit den toten Augen ihm zugewandt.

»Ich habe etwas abzugeben«, sagte der Mann so leise, dass man ihn kaum verstehen konnte.

Die Puppe hinter der Theke nickte, das starre Gesicht ohne Regung, und ging dann mit leicht abgehackten Bewegungen zu einer Tür im hinteren Teil des Ladens. Der Mann beeilte sich, zu ihr aufzuschließen und trat hinter der Puppe in einen schmalen Flur, von dem drei Türen abgingen, aber es war die Tür am Kopfende, die seine Aufmerksamkeit fesselte. Ohne dass ihm jemand gesagt hatte, wo seine Abgabe vonstattengehen sollte, wusste er, dass es hinter dieser Tür stattfinden musste. Er folgte der Puppe wie ein Kind seinem Zahnarzt auf dem Weg ins Behandlungszimmer, kaum etwas von dem mitbekommend, was sich rechts und links befand, wo sich beispielsweise zu seiner Linken ein merkwürdiges Ölgemälde befand, für dessen wimmelartigen Charakter jeder Besucher einige Zeit gebraucht hätte, die von den Eintretenden nie jemand besaß.

Die Puppe öffnete die Tür und sah ihn an.

»Nun«, sagte der Mann und rang sich ein Lächeln ab, »dann wollen mir mal.«

Die Puppe sagte nichts, folgte ihm nur mit leerem Blick, als er mit klopfendem Herzen in den Raum hinter der Tür trat, der überraschend klein war. In seiner Mitte stand ein Holztisch mit quadratischer Platte, auf dem wiederum mittig einige Blätter Papier ordentlich gestapelt waren, in deren Mitte ein schwarzer Füllfederhalter lag. Ein einfacher Stuhl, wie der Tisch aus stabilem Eichenholz gefertigt und so ausgerichtet, dass man mit dem Rücken zur Tür saß, vervollständigte das Mobiliar.

Als der Mann sich setzte, bemerkte er die merkwürdige Beschaffenheit der Möbel, die jeden Besucher, der ein wenig größer oder ein wenig kleiner als der Durchschnitt war, eine unbequeme Sitzposition aufnötigte. Doch er, der weder besonders groß noch besonders klein war, rückte den Stuhl zurecht, bis er die richtige Position zum Schreiben gefunden hatte, und starrte dann das oberste Blatt Papier und den schwarzen Füllfederhalter an. Das dicke hadernhaltige Papier besaß in der Mitte ein blasses, kaum zu erkennendes Wasserzeichen, und der Federhalter glänzte an der Spitze und am Clip golden. Beides war von so kostbarer Beschaffenheit, dass er sich umdrehte, um die Puppe um Erlaubnis zu fragen, sie zu benutzen, aber er musste feststellen, dass er allein in dem kleinen Raum war.

Als er den Füllfederhalter ergriff, hörte er leise Schritte näherkommen, und einige Puppen traten in den Raum, manche in Männer-, andere in Frauenkleidung. In ihren Händen trugen sie lange Stöcke aus Holz, bei deren Anblick ihm ein Kribbeln über den Rücken fuhr. Sie stellten sich rings um den kleinen Tisch, hielten die Stöcke ruhig in ihren Fäusten, und verharrten reglos. Unruhig sah sich der Mann um, doch keine der Puppen sagte etwas oder machte Anstalten, ihm etwas durch eine Geste mitzuteilen. Aber er wusste auch so, was nun folgte, wie es jeder wusste, der diesen Laden betrat, um seine Abgabe zu machen.

Er musste nicht überlegen, was er als erstes niederschreiben wollte, lauschte aber trotzdem in sein Innerstes, beschäftigte sich noch einmal mit der Angewohnheit, die ihn so viele Jahre seines Lebens begleitet hatte, und setzte dann die Spitze des Federhalters auf das dicke Papier. Wie auf ein geheimes Kommando hin, hoben alle Puppen ihre Stöcke und verharrten wieder bewegungslos. Der Mann merkte, wie ihm ein Schweißtropfen die Stirn hinunterlief, sah aber nicht auf, als er in geschwungener Handschrift niederschrieb:

Das Nesteln am Kragen.

Er besah sich seine Buchstaben, die Linien aus königsblauer Tinte auf dem weißen Papier, steckte dann die Kappe auf den Federhalter und legte ihn auf den Tisch zurück. Der erste Schlag traf ihn direkt auf den oberen Rücken, das harte Holz presste ihm die Luft aus den Lungen und er beugte sich nach vorne, als weitere Schläge auf ihn niedergingen, rhythmisch und leidenschaftslos. Seine Schultern, das rechte Schulterblatt, der untere Rücken, und die Hände, die er schützend über den Kopf zusammengeschlagenen hatte, wurden von allen Seiten getroffen, dann hörten die Schläge zeitgleich auf.

Zögernd ließ der Mann die Hände sinken und sah auf, aber die Puppen standen wieder reglos um ihn herum und hatten die stabilen Stöcke auf Schulterhöhe erhoben. Unter Schmerzen, die erst langsam durch die Schichten seines Bewusstseins drangen, schraubte er den Federhalter wieder auf und versuchte, seine Gedanken zu sammeln.

Die Hand zögert, erwartetet den nächsten Schlag, der Kopf wird zwischen die Schultern gezogen, der Rücken gekrümmt. Dann setzt die Spitze der Feder auf und eine feine Tintenlinie läuft über das Papier, hängt Buchstaben an Buchstaben, bevor ein weiteres Wort an das Licht gezerrt wird, aus der tiefsten Intimität steht es nackt vor aller Welt da, und die ausdruckslosen Blicke der Puppen fallen darauf und erneut hört man das Zischen eines Stockes und fühlt einen stechenden Schmerz, der wie ein Feuer die Wirbelsäule herunterrast und die Finger unkontrolliert krampfen lässt. Der Schmerz wird zu einem Brennen, das sich im ganzen Körper ausbreitet, von den Zehen bis in die Fingerspitzen kriecht, sich im Bauch sammelt und dort wie ein Fegefeuer lodert, das alles Persönliche ausbrennt. Und während man sich noch über die Tischplatte krümmt und es nicht zu glauben vermag, das einfache Stöcke einen solchen Schmerz auslösen können, trennt sich die auf Papier gebannte Eigenheit von einem, und nach langer Zeit, wenn das Feuer in den Nerven verklungen ist und man mit tränennassen Augen auf den weißen Zettel vor einem blickt, sieht man dort ein Wort, das keinen Anklang mehr findet, ein fremdes Ding, von dem man sich nicht vorstellen kann, dass es jemals zu einem gehört hat. Und mit einer endlosen Erschöpfung nimmt man den Füllfederhalter wieder auf und lauscht in sein Innerstes, wo all die kleinen Absonderheiten sich in der Dunkelheit ducken, um nicht mit den spitzen Fingern an die Öffentlichkeit gezerrt zu werden, bis zu den Knien watet man in dem Morast all der Jahre, die dort ihren Abfall angehäuft haben, zieht die eine Sache heraus und betrachtet sie, bevor sie wegen Geringfügigkeit wieder zurückgeworfen wird, stapft immer weiter, bevor die Hand eine weitere Seltsamkeit auf das Papier bringt, in diesem Raum, in dem die Puppen geduldig warten.

Der Mann überlegte, versuchte die Wellen des Schmerzes zu ignorieren, die durch jede Faser des Körpers brannten, und nickte dann. Vor vielen Jahren hatten seine Frau und er ein Stoffschaf geschenkt bekommen, ein kleines, niedliches Ding mit pfiffigem Gesichtsausdruck, das sie dazu inspirierte, ihm den Namen Doktor Schaf zu geben, was dann dazu führte, dass sie ihm ein Eigenleben zuschrieben und sich immer abstrusere imaginäre Abenteuer ausdachten, sodass sie vor Lachen manchmal nicht mehr konnten. Später dann, im Laufe der Jahre, war seine Frau plötzlich während ihrer Phantastereien immer ernster geworden und hatte vorsichtige Blicke zum Fenster geworfen, ob sie nicht von einem der Nachbarn bei dem Spiel mit Doktor Schaf beobachtet wurden. Und heute beim Frühstück hatte sie ihn gebeten, diese Sonderlichkeit mit auf die Liste der drei Abgaben zu setzen, denn eine solche kindliche Albernheit ziemte sich nicht für erwachsene Menschen und war peinlich, und deswegen würde sie es auch bei ihrem ersten Besuch im Seltsamkeitsladen ablegen. So wären sie beide vor dem letzten Rest an naiver Freude bewahrt, der sie vielleicht doch wieder zu dem sinnlosen Spiel verleiten könnte. Traurig hatte der Mann den Kopf gesenkt, aber die Sinnhaftigkeit des Vorschlags dann doch eingesehen.

Also schrieb der Mann die dritte und letzte Seltsamkeit für heute auf das Blatt Papier:

Dem Stoffschaf einen Namen geben und so tun, als wäre es lebendig.

Nach einer Zeit, die ihm wie eine Ewigkeit erschien, ging auch diese Runde aus Schlägen vorüber, und während er mit zitternden Händen das Blatt Papier von sich schob, verließen die Puppen mit leisen Schritten den Raum. Nur die Puppe mit dem Anzug blieb an der Tür stehen. Er warf einen Blick auf seine niedergeschriebenen Worte, ruhig und unbeteiligt, und schob den Holzstuhl zurück. Das Blatt Papier würde die erste Seite eines Buches bilden, auf dem sein Name stand, es würde irgendwo in den Untiefen des Ladens aufbewahrt werden, Seite an Seite mit identisch gebundenen Büchern, Regal über Regal in einem staubigen Raum, den nur die schweigsamen Puppen jemals betraten.

Der Mann verließ den Raum mit weichen Knien und lauschte in sein Innerstes, während er langsam der Puppe durch den kleinen Flur folgte, die den Stock in eine große Vase steckte und durch die Tür zum Hauptraum trat. Vermochte er einen Unterschied festzustellen? Er fühlte sich ruhig, als hätte er lange geweint und wäre nun in ein Stadium der Leere eingetreten, die eine leichte Erschöpfung mit sich brachte. Die Schmerzen pulsierten dumpf durch seinen Körper und wurden von einer matten Betäubung begleitet.

Er ging durch den kleinen Geschäftsraum, ohne einen Blick auf die anderen Besucher zu werfen, und öffnete die leise klingelnde Eingangstür.

Als er aus dem Laden trat, blieb er vor der Fensterfront stehen und besah sich all die früheren Besucher, die dort auf ihren Einsatz in dem Geschäft warteten, stumm, voller Geduld und frei von jeglichen Seltsamkeiten, die sie mit unzähligen Abgaben ihrem Inneren abgetrotzt hatten, um vor sich und den Augen der Mitmenschen bestehen zu können. Seine Hände, tief in den Taschen seines Mantels vergraben, waren ruhig. Nicht für einen Moment kam ihm das Bedürfnis, an seinem Kragen zu nesteln. Mit einem erleichterten Lächeln, in den Augen eine Spur von Scham, wandte er sich von den Puppen ab und ging die kleine Nebenstraße hinunter, die er bis zu seinem nächsten Besuch nicht mehr betreten würde.

Andreas Fieberg

5-MINUTEN-SCHICKSAL

Und dann gibt mir die Stimme aus der Zukunft – deine Stimme – den entscheidenden Hinweis. Du tust es ohne zu wissen, welche Weichen du damit stellst, aber du tust es für mich, denn du erweist mir damit einen großen Gefallen, einen Gefallen, der meine Haut retten und mein Gewissen reinhalten wird.

Warum? schluchzt es aus dem Hörer, und aus deiner Stimme spricht grenzenlose Verzweiflung. Warum bist du nicht mitgekommen? Du wußtest es, nicht wahr? Du hast es von Anfang an gewußt!

»Nein, ich wußte es nicht, woher auch«, erwidere ich leise. »Ich konnte es nicht wissen, bevor du es mir gesagt hast.« Meine Lippen fühlen sich taub an. »Aber ich weiß es jetzt.« Bevor ich den Hörer zurücklege, sage ich noch: »Danke.«

Du stehst neben mir, derselbe, mit dem ich gerade telefoniert habe, und schaust mich erwartungsvoll an, grinst unsicher, denn jetzt wäre es an der Zeit, daß ich dir sage, was gesprochen wurde. Aber ich kann es dir unmöglich preisgeben. Ich spüre, wie mir die Knie weich werden, und ich sinke auf einen Felsen.

»Mir ist schlecht«, sage ich. Das ist noch nicht einmal gelogen. »Ich komme nicht mit.«

Du verziehst spöttisch den Mund. »Stell dich nicht so an. Du mußt mitkommen, es geht gar nicht anders! Du weißt doch, die Regeln! Das Naturgesetz!«

»Eben drum.« Ich schüttele den Kopf. »Ich darf gar nicht mitkommen. Ich bin nämlich nicht da gewesen, als du …« Ich zögere und verbessere mich: »Ich werde nicht dabei sein, wenn du den Apparat benutzt.«

Du siehst mich fassungslos an. Eine schreckliche Ahnung überkommt dich. »Wie kann das sein?« schreist du außer dir. Du packst mich bei den Schultern und schüttelst mich. »Ist was passiert? Was ist passiert?«

»Woher soll ich das wissen?« Ich versuche, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Keine Zeit für lange Diskussionen.« Ich schaue hinüber zu dem Mädchen, das starr einige Schritte entfernt steht und unseren Streit beobachtet hat. »Ihr müßt euch beeilen, bald kommt das Signal. Du mußt an Ort und Stelle sein, um es zu beantworten.« Ich befreie mich aus deinem Griff und dränge dich tiefer in das Innere der Höhle. Alles Blut ist aus deinem Gesicht gewichen, du bist kreidebleich. Ich sehe, wie es in dir arbeitet, wie du alles, was wir von den Wissenschaftlern und dem Sicherheitsdienst gehört haben, gegeneinander abwägst, und ich sehe, wie du zu einem Entschluß kommst, dem einzigen Entschluß, der möglich ist.

 

Du wischst dir die Tränen ab, drehst dich schicksalsergeben um und trottest mit gesenktem Kopf los, das Mädchen an der Hand hinter dir herziehend.

Als wir Tage zuvor durch die Steppe auf Causa Prime streiften, ahnte keiner von uns, was unsere Neugier anrichten würde. Seither habe ich mir viele Gedanken gemacht über Vorbestimmung und den festgelegten Ablauf der Zeit. Aber, frage ich dich, darf man überhaupt von Schicksal sprechen, wenn man selbst es war, der den ersten Dominostein umstieß?

Seit einer halben Stunde schlich ich schweigend hinter dir her. Wir kannten uns von klein auf, waren Sandkastenfreunde, aber du, David, als der ältere von uns beiden, gabst den Ton an.

Schweiß stand mir auf der Stirn, die Füße in den Sandalen schmerzten. Der orangene Himmel, von einem Doppelstern zum Kochen gebracht, neigte sich über Causa Prime, eine flammende Wand, die aussah, als könnte sie jeden Moment einstürzen. Die Landschaft war eintönig, viele Felsen, wenig Vegetation, nur dürre, fast blattlose Bäume, unter deren tiefhängenden Ästen wir uns immer wieder wegducken mußten. Wir waren begierig, unser Ziel zu erreichen, bis dahin gab es nicht viel zu reden. Unser Zuhause, die Ansiedlung – flache weiße Bauten in einer ockerfarbenen Wüste, deren zierratlose Zweckmäßigkeit offensichtlich war –, lag weit hinter uns.

Wir folgten zwischen lichtem Unterholz einem unsichtbaren Pfad, der sich nur einem geübten Auge durch flach gedrückte Halme oder abgeknickte Zweige verraten hätte, und bogen schließlich um einen vorspringenden Felsen, hinter dem sich unser Ziel verbarg. Den großen Ballen dornigen Gestrüpps schoben wir beiseite, um eine halb verschüttete Stahltür freizulegen. Die Tür, vor der sich das Geröll eines Erdrutsches aufhäufte, wurde von einem armdicken Ast spaltbreit aufgehalten. Als wir uns über die dunkle Öffnung beugten, wehte uns schon der vertraute Geruch von verbotenen Abenteuern entgegen. Es war eine undefinierbare Mischung aus alter Zeit, Sternenstaub, Verrat und Hinterhalt. Behende schoben wir unsere schlacksigen Gestalten ins Innere, rutschten über eine kleine Sanddüne nach unten und kamen in dem lichtlosen Gang auf die Füße.

Es war eine glückliche Fügung gewesen, daß wir diesen unterirdischen Gang eines Tages auf unseren Streifzügen entdeckten, die uns in einer immer weiter um unsere Siedlung ausgreifenden Spirale hierher geführt hatten. Ebenerdig wäre das Gelände nämlich nicht zu betreten gewesen. Es wurde umschlossen von einer langgestreckten Reihe mannshoher Pylone, die unscheinbar wirkten, aber von denen es hieß, daß sie denjenigen, der es wagte, zwischen sie hindurchzutreten, augenblicklich grillen würden. Wir schenkten der Geschichte keinen Glauben, trotzdem wagten wir nicht, unser Glück herauszufordern. Oft stritten wir uns darüber, ob die tödliche Grenze dazu gedient hatte, Gefangene festzuhalten oder Eindringlinge fernzuhalten, und da wir uns nie einig wurden, gab es Geschichten, die mal die eine, mal die andere Auslegung favorisierten.

Der Gang war eine lange Röhre mit kreisrundem Durchmesser, in der wir aufrecht stehen konnten, die gewölbte Wand fugenlos glatt. Die Lichtkegel unserer Lampen schälten Ausschnitte des vor uns liegenden Weges aus dem Dunkel.

Die zwei Sonnen standen bereits tief, ihr Licht blendete uns am anderen Ende des Tunnels. Es fiel durch die unregelmäßigen Öffnungen der Felswand, die sich über unseren Köpfen erhob. Von außen sah die in den Felsen geschlagene Architektur imposant aus – wie ein gigantischer Käse mit sauber ausgeschnittenen Löchern, in Größe und Form keines wie das andere –, und von innen gestattete sie uns einen Ausblick über die Landschaft des Planeten, der uns immer von neuem den Atem nahm. Die Strahlen des untergehenden Doppelstern streiften kurz hintereinander die Kristallgipfel der Berge, und Tausende von Prismen streuten Spektralfarben über die weite Landschaft und malten sie bunt.

Der Wind pfiff durch die ungezählten Öffnungen, sang sein Lied. Eine fremde Melodie, sonderbar anmutig, in verstörenden Harmonien. Manchmal mischte sich so etwas wie Worte in einer unbekannten Sprache in die auf- und abschwellenden Töne, aber da spielten uns unsere Sinne wohl einen Streich. Ihnen zuzuhören verursachte eine Gänsehaut, und wir zweifelten nicht daran, daß man dem Wind nicht ewig sein Ohr schenken konnte, ohne verrückt zu werden.

Bald aber wandten wir uns den Räumen zu, die hinter dieser Fassade in den Berg getrieben worden waren und die wir gewissenhaft erkunden wollten. Vor längerem schon hatten wir beschlossen, systematisch vorzugehen, und dank der zeitraubenden Sorgfalt waren wir in dem labyrinthischen Gewirr aus Gabelungen, Treppen, Etagen, Durchbrüchen und Querverbindungen noch nicht weit vorgedrungen. Es gab so viel zu entdecken, dabei war nicht einmal zu erkennen, welchem Zweck die einzelnen Räume jeweils gedient haben mochten. Jeder Raum, den wir erkundet hatten, war von uns markiert worden, und so kletterten wir durch die Fluchten vorbei an unseren alten Kreidezeichen.

Wenn die Buckel und Auswölbungen in den Räumen als eine Art Möbelstücke hatten dienen sollen, dann stellte uns ihre Ergonomie vor ein Rätsel, was den Körperbau ihrer einstigen Besitzer betraf. Wie mochte eine Figur beschaffen sein, die auf solchen Stühlen einen bequemen Sitz fand oder sich in den in die Wand eingelassenen Schlafkojen zur Ruhe betten konnte?

Hier gab es nur Rundungen, Bodenwellen, kugelige Ausstülpungen, Kurven, aber keine rechten Winkel oder planen Flächen, keine Ecken und Kanten. Alles war abgerundet und glatt geschliffen wie ein Kiesel, der Jahrzehnte im Fluß gelegen hatte.

Und jeder Raum, den wir gesehen hatten, war leer. Schon vor Generationen waren diese Katakomben einer untergegangenen Zivilisation von Schrotthändlern, Kuriositätensammlern und Glücksrittern leergeräumt und von administrativen Stellen entkernt worden. Was von den Funden sichergestellt worden war, konnte wir auf dem alljährlichen Schulausflug in die Hauptstadt der Provinz besichtigen. Zweck und Höhepunkt war der Besuch des exoterristrischen Museums der Kolonie.

Du hast auf diesen Schulausflügen immer so getan, als bemerktest du es nicht, aber es war offensichtlich, daß dich Sylvia, eine Klasse unter uns, aus der Ferne anhimmelte. Sie traute sich nicht, näher zu kommen und dich anzusprechen, aber sie blieb uns in immer gleichem Abstand auf den Fersen und ließ dich nicht aus den Augen, wenn unsere Gruppen in dem Museum von einer Halle in die andere strömten.

Wir schlenderten an den Vitrinen vorbei und bestaunten die Artefakte, die die Aliens, die Causa Prime vor uns besiedelten, hinterlassen hatten. Jeder Gegenstand hatte seine eigene fragmentarische Geschichte, und je größer das Rätsel war, das er aufgab, desto verstiegener waren die Spekulationen und desto wilder wucherten die Legenden. Wir Kinder überboten uns gegenseitig darin, die Lücken, die die Wissenschaft ließ, mit unseren phantastischen Erklärungen zu füllen.

Wir sahen Raumverzerrer und Singularitätswaffen, Dinge, die sich selbst unserem Vorstellungsvermögen entzogen. Dort, wo die unwahrscheinlichen Gerätschaften herstammten, schienen die Naturgesetze nicht zu gelten, jedenfalls nicht die aus unserer Galaxie bekannten. Es gäbe Räume, in denen die Schwerkraft aufgehoben wäre und die man wie in einem Aquarium schwimmend durchquerte, es gäbe Räume, in denen die Zeit langsamer verstriche und man sich wie in Zeitlupe bewegte oder wo die Zeit – umgekehrt – beschleunigt wäre und man sich einen Spaß daraus machen könnte, umherzuzappeln wie die Slapstickkomiker in den Schwarzweißfilmen von der Erde. Und schließlich gäbe es Räume, in denen alles, was man sagte, in eine fremde Sprache übersetzt würde. Man würde mitten in diesen Räumen stehen, ausgedachte Reden schwingen, und alles, was die eigenen Lippen verließe, wären die gutturalen Laute, das Glucksen und Kollern einer untergegangenen Rasse.

All das waren Geschichten, von denen wir inzwischen gar nicht mehr wußten, was an ihnen auf Tatsachen beruhte und was an ihnen von uns hinzugedichtet worden war. Keinen einzigen Beweis hatten wir auf unserer Suche bisher für sie gefunden.