Loe raamatut: «Das Meer, die Liebe, der Mut aufzubrechen»
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DIE AUTORIN
Andrea Marcolongo, geboren 1987 in Crema/Italien, hat Klassische Philologie studiert. Bereits ihr erstes Buch Warum Altgriechisch genial ist wurde zum internationalen Bestseller mit über 300.000 verkauften Exemplaren. Sie schreibt regelmäßig für „La Stampa“ und „La Repubblica“ und lebt derzeit in Sarajevo.
Andrea Marcolongo
DAS MEER, DIE LIEBE, DER MUT AUFZUBRECHEN
Was uns die Argonautensage erzählt
Aus dem Italienischen von Karin Fleischanderl
Inhalt
Heldentum
Das Meer, eine uralte Sprache
Mir kann das nicht passieren
Sei bereit
Zeit auszulaufen
Sich über Wasser halten
Wind und andere Zwischenfälle
Zur See fahren
Verzauberung
Wie man loslässt
Heldentum
Zärtlichkeit
Antikes Familienlexikon
Das Goldene Vlies, unser Ziel
Das Paradox der Einsamkeit
Unser Boot
Nostos oder die Heimkehr
Im Falle eines Schiffbruchs
Ein neuer Hafen
Epilog: Die Schiffe hinter uns verbrennen
How to Abandon Ship
Bibliografie
Heldentum
Für alle, die das Unglück ablehnen
Undden Mut haben, zum ersten Mal
Oder noch einmal in See zu stechen.
Für alle, die den Mut haben,
sich zum ersten Mal oder
noch einmal zu verlieben. Sie sind-Helden.
Für Sarajevo,
das nicht am Meer liegt,
für mich jedoch ein Hafen ist.
Οὐδεὶς οὕτω κακὸς ὅντινα οὐκ ἂν αὐτὸς ὁ Ἔρως ἔνθεον ποιήσειε πρὸς ἀρετήν, ὥστε ὅμοιον εἶναι τῷ ἀρίστῳ φύσει. Καὶ ἀτεχνῶς, ὃ ἔφη Ὅμηρος, μένος ἐμπνεῦσαι ἐνίοις τῶν ἡρώων τὸν θεόν, τοῦτο ὁ Ἔρως τοῖς ἐρῶσι παρέχει γιγνόμενον παρ᾽ αὑτοῦ.
Denn was den Menschen, welcher sein Leben schön und würdig zubringen will, durch sein ganzes Leben leiten muss, das vermögen ihm weder Verwandtschaft noch Ehrenstellen, noch Reichtum, noch irgendetwas anderes in dem Maße zu gewähren wie die Liebe. […] kurz, was Homer sagt, dass ein Gott diesem oder jenem Helden Mut eingehaucht habe, das gewährt Eros den Liebenden allen.
PLATON, Das Gastmahl
Warum treibt es den gesunden Menschen mit gesunder Seele nach dem Meere? Warum empfindet man auf der ersten Seereise eine geheimnisvolle Erschütterung, wenn man von dem Schiff aus das Land nicht mehr sieht?
HERMAN MELVILLE, Moby Dick
Übersetzt von WILHELM STRÜVER
Das Meer, eine uralte Sprache
Das Meer spricht zu uns in einer uralten Sprache.
Seine Worte sind eine zu entziffernde Landkarte.
Es hat kein Ende, sondern unendlich viele Anfänge, die sich Horizonte nennen.
Es kennt die Kunst der Verzauberung, des Staunens, der Angst, der Ungeduld und des Wartens.
Es verschluckt Schiffe, bietet Gaben an, überrascht mit Häfen, die auf Karten, die von anderen – nicht von uns – gezeichnet wurden, nicht aufscheinen.
Seine Wellen sind sanft und seine Stürme grausam; sein Wasser ist salzig wie der Schweiß der Mühsal, wie Lachtränen, wie Tränen der Trauer.
Das Schiff ist wunderschön und auf dem Rumpf steht in weißer Farbe dein Name. Auf dieser Reise bist du einfach du.
Bald wirst du deinen Hafen erreichen, er ist der Grund, warum du die lange Reise auf dich genommen hast. Bei der Ankunft erwartet dich ein neues Leben, ein Leben, das du dir immer gewünscht hast, bevor du die Herausforderung der Abreise auf dich genommen hast.
Ein Leben lang hattest du Angst zu fragen, was dir bevorsteht.
Aus diesem Grund bist du aufgebrochen: Um nicht länger inopportun, fehl am Platz zu sein, beziehungsweise ohne einen Hafen, einen portus, in dem du wirklich du sein kannst. Und um die, die du liebst, und das, woran du glaubst, nicht zu importunieren – nicht in Verlegenheit zu bringen, nicht zu verwirren. Um nicht länger entwurzelt herumzuirren, sondern um ein Land, einen Ort zu finden, wo deine Gedanken Wurzeln schlagen können.
„Du musst durchhalten.“ Alle legen dir die falsche Kraft der Resignation nahe, während du dir doch nur erlauben wolltest, schwach zu sein, nicht länger mögen zu müssen, was du nicht magst, was dich nicht glücklich macht.
„Du verlangst zu viel vom Leben“, sagen alle immer wieder zu dir, während du doch nur verlangst, als das ernst genommen zu werden, was du wirklich bist.
Da hast du eine Entscheidung getroffen, du hast das Richtige vom Leben verlangt und bist aufgebrochen.
Die Kraft zur Entscheidung rührt oft daher, dass man nicht weiterleben kann, ohne diese Entscheidung getroffen zu haben.
Unsagbar sind die Farben des Meeres, denn unbeschreiblich ist auch das Licht, das es tagsüber entzündet – transparent, blau, glasklar, perlfarben –, sowie das Licht, das es nachts zum Verschwinden bringt – schwarz, weinfarben, mondhell.
Das Meer kennt das Gesetz des Gleichgewichts zwischen Anwesenheit und Abwesenheit, das dir so oft entgeht und dich in Erwartung dessen, was du – noch – nicht kennst, zermürbt. Und was du noch nicht bist.
Im Italienischen ist das Meer ein Vater, il mare.
Im Französischen eine Mutter, la mer.
In den slawischen Sprachen ist es sächlich, more.
Alle Frauen, alle Männer, alle Gedanken bewohnen unsere Häfen, die, die am weitesten entfernt sind, und die, die uns am nächsten sind. Das Meer ruft und wir müssen uns in dem Fundus der Rollen, die wir jeden Tag gleichzeitig spielen, immer wieder neu einkleiden – als ungeduldige Männer, geliebte Kinder, besorgte Mütter, treue Freunde, frisch Verliebte, rebellische Jugendliche, weise Frauen, freche Kinder, als die Fantasien der anderen.
Unsere Ichs sind gleichzeitig aufgespannt wie ein Segel: Ich, io im Italienischen, wie das Suffix -io am Ende der Worte, die eine lange andauernde, noch nicht beendete Aktion beschreiben. Worte, die unseren Zustand beschreiben, den wir selbst nicht kennen, wenn wir unentschlossen etwas tun, was noch kein Ende gefunden hat – mormorio (Gemurmel), ronzio (Gesumme), logorio (Zerrüttung), brontolio (Murren).
Proust hatte unrecht, auf Reisen gibt es keine verlorene Zeit. Es gibt nur eine wiedergefundene Zeit, denn wir entdecken jeden Tag aufs Neue, was wir sind – nicht das, was wir waren oder was wir sein werden.
Die Wirklichkeit, die sich entfaltet und anknüpft und mit ihrer Veränderung auch uns verändert.
Das Bewusstsein dieser Wirklichkeit verbirgt sich hinter der Schattenlinie, die jede Entscheidung mit sich bringt.
Das Meer fordert von dir, dich zu entscheiden, wohin du fährst und warum.
Du kannst es ignorieren, du kannst erklären, du seiest zu beschäftigt, vielleicht siehst du das Meer nicht einmal, das mit fernen Worten zu dir spricht.
Vielleicht hast du Angst davor, vielleicht liegst du gemütlich auf einem Liegestuhl am Strand und lachst es aus.
Doch es wird immer ein Meer geben, das dich ohne Vorwarnung, ohne einen Veränderung ankündigenden Wind geduldig dazu bringt, die elementare Geste zu wagen, zu der jedes menschliche Wesen fähig ist: über die Schwelle zu treten und einen Schritt hinüber zu machen.
Beziehungsweise in dein Leben.
In dein Inneres.
Unweigerlich kommt die Reise, die die Menschen auffordert, aufzubrechen, schrieb Apollonios von Rhodos, der Verfasser von Die Fahrt der Argonauten.
Als junger Mann rechnete Jason nicht damit, aufgefordert zu werden, als Erster, mit dem ersten Schiff, das von Menschen gebaut wurde – der Argo –, übers Meer zu fahren. Medea, noch ein junges Mädchen, rechnete in ihrem fernen Hafen nicht damit, dass sie sich in einen Fremden verlieben würde.
Er brach auf, um nach Hause zurückzukehren und seinen Vater zu retten; sie stieß ihren Vater zurück, brach auf und kehrte nicht mehr nach Hause zurück. Beide entschieden sich für das Meer und kamen verändert an ihr Ziel: nicht mehr als Kinder, sondern als erwachsener Mann und erwachsene Frau, als Helden vielmehr.
Für die Griechen war ein Held jemand, der seine innere Stimme zu hören verstand, der Vertrauen zu sich hatte und die Prüfung bestand, die jedem menschlichen Wesen abverlangt wird: sich selbst treu zu bleiben.
Siege und Niederlagen sind absolut nicht der Maßstab des Heldentums: Seit Jahrtausenden ist der ein Held, der über sein Leben entscheidet. Und das ist ein hoher Anspruch, denn davon hängt sein Glück ab. Wenn Platon im Theaitetos schrieb, „Denken ist das Selbstgespräch der Seele“, dann besteht der revolutionäre Ansatz der griechischen Philosophie darin, das anzusprechen, was wir allzu oft zum Schweigen bringen. Zu unserem Inneren zu sprechen, um eine Entscheidung treffen zu können, uns so zu lieben, wie wir in unserer innersten Reinheit sind.
Heutzutage legen wir uns die Latte oft viel zu tief, ganz knapp über dem Boden, in der Überzeugung, dass uns nicht mehr zusteht, dass unsere Träume schon durch die äußeren Umstände – von der Wirtschaftskrise bis zum Urteil der anderen – bereinigt werden müssen, und so wünschen wir uns nichts mehr – im Namen einer falschen Ruhe, aufgrund der wir nichts ändern, nichts mehr planen wollen.
Der Begriff Held ist derart zur Floskel verkommen, dass er nur noch für Winner taugt, für die Protagonisten spektakulärer Events wie Ted Talks oder Reality Shows, und wir vergessen, dass wir alle das Zeug zum Helden haben. Das kann man allerdings nur wiederentdecken, wenn man übers Meer fährt. Gemeinsam mit der Liebe, die immer der zündende Funke des Heldentums jedes Einzelnen ist, denn sie legt unsere innere Latte ganz hoch.
Medea und Jason waren die ersten.
Sie sind Ausgangspunkt und Ziel jeder menschlichen Reise.
Kaum sind die Segel der Argo gespannt, stechen wir Tag für Tag in See, kämpfen gegen Wind und Sturm, um ans Ufer zu gelangen oder verändert zurückzukehren, wobei wir über die Schattenlinie treten oder unsere Schwelle überschreiten.
Schwelle wie das italienische Wort uscio; uscio wie uscire, hinausgehen. Dem entgegenzugehen, was passiert. Türen sind hauptsächlich dazu da, geöffnet zu werden, um Licht, Wind, die anderen hineinzulassen.
Segelst nicht auch du, wie wir alle – wir zeitgenössischen Argonauten – über die Meere, die uns, egal in welchem Alter, davon abhalten, erwachsen zu werden?
Mir kann das nicht passieren
Auf dem Meer fühlst du dich sicher.
Nichts von dem, was dich am Ufer beunruhigte, ist mehr da.
Du sagst zu dir selbst:
„Mir kann das nicht passieren.“
Diese Worte sind so tröstlich, dass sie einschläfernd wirken.
Langsam gleitest du in eine ruhige Apathie.
Alles ist so weit weg.
Nein, es kann nicht passieren.
Dir nicht.
In seinem Buch der Unruhe schrieb Fernando Pessoa, Wir leben alle in dieser Welt an Bord eines Schiffes, das aus einem Hafen ausgelaufen ist, den wir nicht kennen. Es ist unterwegs zu einem Hafen, von dem wir nichts wissen. Wir müssen füreinander die Liebenswürdigkeit gegenüber Reisebekanntschaften aufbringen.
Auch ich war immer schon unruhig. Ich mag das Gewellte – die Hügel am Meer, nicht die Ebene am See. Und auch ich bin viel gereist, bevor ich den Mut fand, dieses Buch zu schreiben: nicht nur in horizontaler Richtung durch unbekannte Städte und Länder, sondern vor allem in die Tiefe: ins Innere der Menschen, unter die Oberfläche ihrer Worte, Blicke, Gesten.
Mit dreißig Jahren befand ich mich an Bord eines Schiffes, das von einem unbekannten Hafen, der Literatur, ausgelaufen war.
Ich habe nur deshalb den Mut gefunden, über das unbekannte Meer zu fahren, weil ich der Liebenswürdigkeit begegnet bin, von der Pessoa schreibt und mit der mich meine Reisegefährten empfangen und unterstützt haben: meine Leser – auch Sie, die Sie mich zum ersten Mal lesen und erfahren, welche Bekanntschaften ich auf der Reise zwischen meinen beiden Häfen gemacht und was ich gelernt habe.
Aus Dankbarkeit für Ihre Neugier, für Ihre Diskretion, für die Bereitschaft, sich in der Gegenwart mithilfe dessen zu orientieren, was seit jeher als alt, also veraltet gilt, habe ich wieder zu schreiben begonnen. Um all die Fragen, die Sie mir gestellt haben, sorgfältig und ausführlich zu beantworten. Und um zu versuchen, die Antworten zu finden, die ich vielleicht auch jetzt nicht kenne und die nie endgültig sein werden, wie es bei den schönen und unergründlichen Dingen des Lebens immer der Fall ist.
Gibt es in unserer Zukunft noch Platz für die Vergangenheit? Was verwandelt die persönliche Erinnerung in kollektives Gedächtnis, das in der Lage ist, die zeitgenössische Einsamkeit zu besiegen? Warum wollen wir alle frei sein, haben jedoch eine seltsame Angst vor der Freiheit, wenn sie wirklich eintritt? Und warum muss die Angst unbedingt ein Gefühl sein, für das man sich schämt, warum akzeptieren wir sie nicht als wichtigen Überlebensinstinkt, der uns zwingt, uns zu verändern, um uns in Sicherheit zu bringen? Was soll man tun, wenn das Leben uns die Möglichkeit bietet, nach unserer Fasson und nicht nach der der anderen zu leben? Einen Beruf ausüben, heißt schließlich seinen Lebensunterhalt verdienen und nicht, sich im Namen einer Arbeit und einer von anderen definierten Perfektion das Leben mit Ängsten und Sorgen zu ruinieren. Welcher Unterschied besteht zwischen vernetzt und vereint sein und warum haben wir uns in der ganzen Geschichte der Menschheit noch nie so einsam gefühlt? Ist dies die Epoche der unbegrenzten Vernetztheit oder des ständigen Unterbrochenwerdens?
Diese Fragen haben Sie mir unter anderem gestellt. Ich habe beschlossen, den Faden, der mich mit Ihnen verbindet, festzuhalten, als wäre er das Kostbarste, was ich besitze. Und ich habe beschlossen, mich mit der Erfahrung der Veränderung auseinanderzusetzen, von der Überschreitung der Schattenlinie zu sprechen, die zwischen Kindheit und Erwachsensein liegt.
Dieses Buch handelt also nicht vom Meer, das ich unendlich liebe und ohne das ich nicht leben könnte, und auch nicht von der Schifffahrt, von der ich nur das weiß, was die Literatur darüber erzählt. Es handelt vielmehr von der schwierigen und doch so effektiven Kunst, sich auf eine Reise zu begeben und sich zu überwinden, um erwachsen zu werden, egal, wie alt man ist, denn das Leben kommt nie zum Stillstand – allenfalls kommen wir zum Stillstand.
Es handelt von dem, was passiert, wenn wir uns auf dem Festland des Lebens entscheiden müssen, das im Grund gar nicht so fest ist, sondern sich ständig verändert, auch wenn wir das nicht wollen – und wir mit ihm. Das tut es mithilfe moderner Worte, die alten Ursprungs sind, mithilfe von Mythen und Legenden, die seit jeher glasklar den Sinn der Dinge beherbergen, die alle menschlichen Wesen einen.
Ich möchte Sie im einzigartigen Augenblick der Entscheidung mit Metaphern im ursprünglichen Sinn des Wortes begleiten. Sie in der Art einer Metapher – eines altgriechischen Wortes, das aus der Präposition μετα (meta = durch) und dem Verb ϕέρω(féro = tragen) besteht – an der Hand nehmen und durch unsere alltäglichen, intimen Gefühle führen. Wie im Neugriechischen, in dem Fahrzeuge μεταϕοράς (metaphoràs) heißen – auf den Straßen von Athen bewegt man sich inmitten von Metaphern, die Blumen ausliefern.
Mithilfe der Argonautensage und der Worte des Meeres möchte ich Sie über diese Schwelle führen, die wir immer überschreiten müssen, wenn uns etwas Gewaltiges zustößt und wir uns für immer verändern. Wenn uns ein unbekannter Wind aus dem Dämmerschlaf weckt und wir uns immer wieder die Frage stellen: „Passiert das wirklich mir?“
Wir leben in einer Zeit, in der es nie genügend Worte zu geben scheint, in einer Zeit, in der wir Neologismen wie Münzgeld prägen, um einander zu verstehen und verstanden zu werden. Doch es sind armselige Worte, sie haben keinen Wert, sie rauben den Dingen ihren Sinn, anstatt ihnen einen neuen hinzuzufügen, und ihre unaufhaltsame Inflation macht uns immer nur ärmer statt reicher.
Nichtssagende Worte, reine Signifikanten, die einen Sommer lang funkeln wie ein Schlager, den wir im Radio hören und dabei etwas anderes tun – schon haben wir ihre Bedeutung vergessen, weil wir sie nie verstanden haben oder man sie uns nie erklärt hat.
Und so suchen wir atemlos neue Begriffe, um das zu bezeichnen, was im Grunde schon seit jeher da ist und das wir seit jeher erleben, von dem wir aber nicht mehr sprechen können.
Ständig heißt es, wir müssten die Sprachen erhalten und vor geheimnisvollen Feinden ohne Antlitz und Namen – Eindringlingen, Eroberern, Fremden – verteidigen.
Und während wir einen imaginären Saboteur von den Dimensionen eines Seeungeheuers bekämpfen und dabei Grammatikbücher schwenken oder dem Internet die Schuld geben, entgleiten uns die existierenden Worte immer mehr, als ob die Zeit des Sagens und des Wissens uns in der Sanduhr der Gegenwart entrinnt.
Die Pegel des Meeres, der Verwirrung, des chaotischen Lärms steigen immer weiter, und auf unserem Ufer gibt es immer weniger Sand, auf dem wir uns ausstrecken und endlich miteinander reden könnten.
Wir haben das Gefühl, die Worte entgleiten uns aus Sorglosigkeit oder Nachlässigkeit, wie ein Schirm, der an einem Regentag gleichgültig in einer Ecke stehengelassen wurde.
Die Schuld für unser armseliges Dasein geben wir den sozialen Netzwerken, den Emojis am Handy, wir bezeichnen die Kunst Homers als storytelling und Werbung als Kommunikation und verbuchen selbst Marketing unter lifestyle.
Gesenkten Hauptes akzeptieren wir ein modernes ipse dixit, doch wir erkennen nicht mehr, wer was gesagt hat, wir glauben alles und allen, ohne die Mühe auf uns zu nehmen, es zu überprüfen.
Wenn uns eine Information dennoch als unglaubwürdig erscheint, bezeichnen wir sie als fake news, gehen allerdings gleich zur nächsten Nachricht über, ohne zu ergründen, wie und warum sie falsch ist, und ohne sie mit einem Wort zu bezeichnen, das Kinder sehr früh lernen: Lüge.
Wir verwechseln die Politik mit der Verwaltung von Schlaglöchern und Müllcontainern, uns fehlt die Weltsicht, wir navigieren im Nebel, immer einsamer und ohne Steuermann, in Dantes Fegefeuer verbannt.
Wir trauen niemandem mehr, schon gar nicht uns selbst, wir suchen Lehrer, die uns erklären, wie wir uns zwischen den Tutorials auf YouTube zurechtfinden sollen, während wir denjenigen, die tatsächlich Erfahrung haben, misstrauen, weil sie alt sind.
Wir verhalten uns wie Autofahrer im Verkehr, mit der Hand ständig auf der Hupe, um uns Platz zu verschaffen, anstatt uns dem Nächsten zu nähern und ihn anzuhören. Wir gehen dem Unerwarteten aus dem Weg, um erleichtert sagen zu können, wir würden nichts Gutes oder Neues mehr erwarten, „denn es bringt ohnehin nichts, es bleibt ohnehin alles gleich“.
Wir zeigen anklagend mit dem Finger auf die Technik, als wäre sie mit dem iPhone und nicht vor Tausenden Jahren mit der Erfindung des Rades entstanden. Dabei vergessen wir, dass ein Handy nicht an unserer Stelle kommuniziert, so wie ein Wagen nicht ohne unsere Hilfe das Ziel erreicht – wir sitzen am Steuer und verfluchen das Navi, wenn wir uns verirren.
Wir brauchen Regeln, sogar Gesetze und Gerichtshöfe, um Liebe und Hass empfinden zu können – reine Gefühle, die die Griechen im Theater mithilfe von Tragödien und Komödien auslebten.
Wir, Männer und Frauen, laufen vor Worten davon, vermeiden sie, verwenden sie so wenig wie nur möglich, als ob sie gefährlich wären. Als ob wir uns die Hände verbrennen würden, wenn wir sie halten, oder den Empfänger damit verbrennen könnten. Als hätten wir Angst davor, dass wir zeitversetzt die Unwirklichkeit dessen übermitteln, was wir nicht sind, nicht die Wirklichkeit dessen, was wir wirklich sind. Wir sind die ersten, die absichtlich Worte vermeiden, denn sie würden uns zwingen, ehrlich, genau und gefühlvoll von uns zu sprechen.
Sind wir wirklich immer und ausschließlich total traurig oder total glücklich? Besitzen wir nur zwei Worte, um unsere Gefühle zum Ausdruck zu bringen?
Warum leben wir alle an Bord eines Schiffes, in dem es Verhältnisse statt Beziehungen und kein maßvolles Sprechen mehr gibt, sodass wir alle total reich oder total arm an Worten sind? Warum sind wir keine Menschen mehr, sondern im besten Fall Individuen und im schlimmsten Fall Individualisten?
Wohin ist die Liebenswürdigkeit der Reisegefährten verschwunden, in der die Liebe zum Nächsten – der ebenfalls ein Reisender ist – aufgehoben ist und durch die wir – auch wenn wir nur ein einziges Wort wechseln – herausfinden würden, dass wir im Grunde auf ein und demselben Schiff unterwegs sind?
Nein, ich glaube nicht, dass wir die Sprache verlieren, wie Sie in Ihren Briefen geschrieben haben, und auch nicht, dass man eine alte Sprache kennen muss, um nicht wortlos vor dem Schauspiel des Lebens zu stehen.
Und noch weniger glaube ich, dass wir die Intensität des Liebens, Begehrens, Leidens verlieren, die Fähigkeit, uns Fragen zu stellen und Zweifel zu beseitigen, wie Sie befürchten.
Wir verlieben uns, hoffen, empfinden Schmerz wie Medea und Jason, doch heutzutage machen wir das lautlos, um nicht zu stören. Warum fragen die wenigen, die den Mut haben, zu telefonieren, statt eine Mail zu schreiben: Störe ich dich, anstatt zu fragen: Wie geht’s dir?
Indem wir immer weniger Worte verwenden, um über uns zu sprechen, und wenn, dann immer dieselben, legen wir vielmehr eine Grenze für unsere Sprache fest. Die Grenzen unseres Sprechens werden immer enger und unsere Welt wird jeden Tag kleiner. Stummer.
Limes bedeutete im Lateinischen nicht nur Grenze, sondern auch Querweg, Weg, also nicht befestigte Straße. Heutzutage versuchen wir mit unseren Worten, sie nicht zu begehen. Aus Angst vor dem, was wir jenseits der Grenze finden könnten, überschreiten wir sie nicht.
Wir brausen auf der Autobahn der Banalität dahin.
Wenn das Reden die Macht hat, die Dinge wirklich zu machen, wer sind wir dann wirklich?
Lieber es nicht entdecken.
Und uns nicht entdecken lassen.
Keine Ahnung warum, aber wir haben mittlerweile Angst vor den Worten – nur dazu sind Grenzen gut.
Ausgesprochene, geschriebene oder auch nur gedachte Worte verbergen nicht.
Niemals.
Sie offenbaren.
Und mithilfe von Worten stellen wir uns nicht nur den anderen, sondern vor allem uns selbst dar, als würden wir uns immer, wenn wir einen Gedanken formulieren, bei einem sich ewig wiederholenden ersten Rendezvous einstellen.
Ich hoffe, dieses Buch hilft Ihnen, mehr zu lieben, mehr zu lachen, mehr vom Leben zu verlangen, die Angst vor Entscheidungen zu überwinden, wenn das Leben eine Stellungnahme von Ihnen verlangt. Und vor allem nicht die richtigen, sondern die eigenen Worte zu finden.
Im Grunde bedeutet Lesen, im Lateinischen lego, nichts anderes als auswählen. Nur dazu sind Worte gut: um sich auszuwählen.
Ich möchte Ihnen zwei Geschichten erzählen.
Die kürzere stammt aus einem englischen Handbuch vom Jahr 1942, How to Abandon Ship. Wie man von Bord geht.
In diesem Handbuch werden Ratschläge gegeben, wie man den Schiffbruch eines Frachters oder Ozeandampfers überlebt; während des Zweiten Weltkriegs waren derartige Schiffbrüche genauso dramatisch wie häufig.
Ich habe mich vor vielen Jahren auf einer Reise durch Kent in dieses Handbuch verliebt, ich habe es bei einem Trödler gekauft, es aus Liebe verschenkt, es mit der Liebe verloren.
Ich habe nicht klein beigegeben: Ich habe es noch einmal bei einem anderen Trödler gekauft.
Die Motti, die Sie in diesem Buch am Anfang eines jeden Kapitels finden, stammen aus diesem wunderbaren schmalen Buch, das ungeachtet des Titels für mich nicht ein Handbuch mit Ratschlägen zur Flucht, sondern vielmehr eine Sammlung von Strategien ist, wie man die Schiffbrüche des Lebens übersteht und überlebt.
In den zahlreichen Kapiteln werden alle möglichen ausführlichen Ratschläge gegeben, etwa wie man ein Rettungsboot zu Wasser lässt oder auf hoher See hervorragenden Whisky braut, doch der erste Satz dieses alten Ratgebers lautet nicht zufällig: This manual is concerned solely with human lives. In diesem Ratgeber geht es nur um Menschenleben.
Die zweite Geschichte ist um einiges größer und bedeutender – ein Mythos, der sogar noch älter ist als der von Troja –, den alle gut kennen, wie Homer über die Fahrt des Schiffes Argo in Buch XII der Odyssee sagt.
Es handelt sich um die Fahrt der Argonauten, Helden, auf einem Schiff namens Argo, deren Schatten Neptun staunen ließ (wie Dante in der Göttlichen Komödie, Paradies, dreiunddreißigster Gesang, Vers 96 schrieb), dem ersten Schiff, das den Mythenforschern zufolge in See stach.
In den Metamorphosen (Sechstes Buch, Verse 719–721) widmete Ovid der Fahrt der Argonauten wunderschöne Verse:
Nun, da die kindliche Zeit vor dem Jünglingsalter gewichen, zog mit den Minyern* aus das Paar auf dem ersten der Schiffe, über entlegenste Flut nach dem Vlies mit der strahlenden Wolle.
Ihre Abenteuer auf der Suche nach dem Goldenen Vlies wurden bereits in einem Mythos erwähnt, der aus der Zeit der Mykener, der ältesten griechischen Kultur, stammt.
Im Lauf der Jahrhunderte haben sich alle Leser von Die Fahrt der Argonauten, dem Epos des Apollonios von Rhodos, gefragt, was genau dieser geheimnisvolle, goldene Widder sei, auf dem die Geschwister Helle und Phrixos von Griechenland nach Kolchis geflogen waren – Helle war bei diesem Flug ins Meer gestürzt, ihr zu Ehren wurde diese Meerenge von nun als Hellespont bezeichnet.
Historiker, Philologen und Anthropologen vermuteten ein Bild für Kolonisierung, für Natur- oder Himmelsphänomene, religiöse Kulte oder Handelsbeziehungen.
Lauter plausible Antworten.
Lauter menschliche Antworten.
In diesen zynischen Zeiten, in denen Angst und Hass so geschickt benutzt werden, dass sie unsere Fantasie und unsere Liebe zum Versiegen bringen, habe ich eine der fantastischsten Geschichten der griechischen Mythologie, die der Argonauten, ausgewählt.
Heute, wo offenbar schon alles gesagt und gesehen wurde, ist die Fantasie ein zutiefst revolutionärer, wenn nicht gar politischer Akt. Und der Königsweg zur Fantasie ist ausschließlich die Liebe.
Um den Regisseur Guillermo del Toro bei den Filmfestspielen Venedig 2017 zu zitieren: Unmöglich, dass sich die Beatles und Jesus in Bezug auf die Liebe geirrt haben.
Und schon gar nicht die alten Griechen, füge ich hinzu.
Seitdem ich in einem Schulbuch die Geschichte von Jason und Medea gelesen habe, wollte auch ich eines Tages herausfinden, was das Goldene Vlies bedeutet – was für ein merkwürdiges Wort, wer sagt heute noch Vlies anstelle von Fell?
Natürlich habe ich es nicht herausgefunden.
Ich bin mir jedoch sicher, dass das Goldene Vlies das unbekannte Ziel einer jeden Fahrt darstellt, angefangen bei der ersten, jener der Argonauten. Denn Jason findet im fernen Kolchis nicht nur ein magisches Fell, sondern etwas noch Geheimnisvolleres: die Liebe Medeas.
Nur deshalb habe ich mich aufs Neue aufgemacht.
Und dieses Buch geschrieben.
Wieder einmal nur aus Liebe.
*Minyer: Beiname der Argonauten, weil sie großteils diesem Volk angehörten. (A.d.Ü.)