Die Brüder von Nazareth

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Die Brüder von Nazareth
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Inhalt





Impressum 4







Zitat 5







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12 72







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33 174







34 179







35 181







36 187







37 190







38 196







39 200







40 204







41 208







Epilog 210







Ende 212







Nachwort 213







Impressum



Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek:



Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie­.



Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://www.d-nb.de abrufbar.



Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Funk und Fern­sehen, fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger und ­auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.



© 2022 novum publishing



ISBN Printausgabe: 978-3-903382-07-7



ISBN e-book: 978-3-903382-08-4



Lektorat: Melanie Dutzler



Umschlagfoto: Melani Wright | Dreamstime.com



Umschlaggestaltung, Layout & Satz: novum publishing gmbh





www.novumverlag.com







Zitat



So ist auch der Glaube für sich allein tot,



wenn er nicht Werke vorzuweisen hat.



Jakobus, der Bruder von Jesus



(Jakobus 2,17)





1



Jerusalem, im achten Jahr der Herrschaft



von Kaiser Nero (62 n. Chr.)



Es war am Tag des größten Feiertags – Jom Kippur1. Die Heilige Stadt war voller Menschen, sie waren aus Norden und Süden gekommen, aus Osten und Westen, aus allen Winkeln der Erde.



Die mit weißem Stein gepflasterten Straßen und Marktplätze waren zu eng geworden. Es war ein buntes Gemisch von Leuten: Die einen waren gekommen, um im Gotteshaus zu beten und ihre Opfergaben zu bringen, wie es das Gesetz vorgab, andere, um ihre Waren mit Gewinn zu verkaufen. Sie sprachen die verschiedensten Sprachen, doch am häufigsten hörte man Aramäisch und Griechisch. In der Menge waren auch schlendernde römische Soldaten zu sehen, deren Gewänder unter den Sonnenstrahlen glänzten.



Eben alle, die Gläubigen und die Heiden, strebten zu einem Platz, dem Hügel, wo sich der Tempel erhob. Die Pilger, die über die riesige Treppe und das Königstor oder über die beiden Brücken im Westen eingetreten waren, gelangten zunächst in den geräumigen Heidenvorhof. Er wurde so genannt, denn nur die Juden durften weitergehen und den Innenhof betreten. Für all die übrigen waren dort weiße Steinplatten mit roten griechischen und römischen Buchstaben, die warnten, dass sie ihren Weg unter Lebensgefahr fortsetzen würden.



Hier konnte man Geld wechseln und Opfertiere kaufen.



Die 60 Fuß hohen Flügel der Schönen Pforte standen offen und die meisten drängten sich unter den beobachtenden Blicken der Tempelwächter über die Stufen hinein, mit Opferlämmern und Geflügel beladen. Bevor die pilgernden Besucher hindurchgingen, ließen sie einen halben Schekel in die vor den Türen stehenden zwei Schatzkästchen fallen. So viel betrug die Tempeltaxe. Sobald sich der Frauenvorhof mit Menschen gefüllt hatte, sicherten sie die Eingänge und schlossen die Türen. Die draußen gebliebenen Gläubigen mussten warten, bis sie mit dem zweiten Schub eingelassen wurden.



Die in den Frauenvorhof geratenen Männer übergaben ihre Tiere den Söhnen von Levi, die diese an die Opferstellen brachten. Sie trugen lange weiße Leinengewänder. Diese Ehre hatten sie sich erstritten, nachdem sie ihre Gesuche bis nach Rom an Caesar gesandt hatten, der zugunsten der mit Agrippa2 in Streit Liegenden entschieden hatte. Bis dahin hatten sie sich in der Kleidung nicht von den Pilgern unterschieden.



Ein alter Mann mit langem ergrauten Haar und Bart hatte sich auf seinen Stock gestützt. Diesen benutzte er schon seit einigen Jahren, denn er konnte schlecht gehen. Man hatte ihm die Beine bei einer Rangelei mit den Pflegesöhnen des Saulus3 gebrochen. Der ganze Hof war überfüllt mit Menschen, die dicht nebeneinander standen. Eine Münze hätte nicht fallen können.



Doch der Platz um den Alten war frei.



Jeder brachte ihm Ehrerbietung entgegen. Manch einer näherte sich ihm, verbeugte sich und berührte den Saum seiner langen leinenen Kleidung mit Ehrfurcht. Die umstehenden Leute flüsterten, nannten ihn den Gerechten, den Lehrer und die Säule. Es verehrten ihn nicht nur seine Mitstreiter, die Nazaräer, deren Anführer er war, sondern auch alle übrigen Juden und Heiden.



Selbst die hohen Priester und Schriftgelehrten des Tempels verehrten ihn wegen seines gottesfürchtigen Lebenswandels. Er war so rechtschaffen in den Augen Gottes, sodass er einmal im Jahr in den Tempel ging, um für das Volk und sein Heil zu beten.



Doch außer Verehrung ihm gegenüber empfanden sie auch Angst. Eine Angst, er wäre ein guter Hirte, der immer mehr verirrte Schafe in seine Herde aufnehmen könnte. Angst, dass wie sein persönlicher Einfluss auch der der Nazaräer mit jedem vergangenen Tag anwächst und seine Worte immer lauter und durchdringender zu hören wären. Angst, weil sein Stammbaum direkt mit dem König David verbunden war.



Angst, weil sein Bruder nicht irgendeiner war, sondern Jeschua Hamaschiach selbst.



Jener, den die Römer zur Zeit von Tiberius gekreuzigt haben. Jenen, den die Nazarener den Gesalbten nannten. Jener, der zusammen mit Johannes die Menschen im Fluss Jordan taufte und den Weg für das Reich Gottes ebnete. Jener, der eigens seinen Bruder Jakobus als seinen Nachfolger ernannte, bevor er verstarb.



Die Menschen um den Alten machten unwillig Platz. Es näherte sich ihm eine Gruppe Sadduzäer, die von zwei Wächtern mit dicken Holzknüppeln in der Hand begleitet wurden. Der Älteste von ihnen hielt an und sprach:



„Jakobus, ich habe eine Botschaft von dem Hohenpriester Annas4. Er will keine Probleme und keinen Unfrieden an diesem lichten Tag. Der neue römische Prokurator Albinus ist noch immer unterwegs und König Agrippa ist ebenfalls nicht hier. Die Einhaltung der Ordnung liegt in der Hand von Annas und dieser beruft den Sanhedrin5 ein. Er beschloss, dich zu bitten, vor den Menschen zu sprechen.“



„Worüber?“, fragte Jakobus.

 



„Sage ihnen, sie sollen nicht an der Goldenen Pforte auf den Gesalbten warten.“



„Ich bin kein Prophet, warum habt Ihr mich dafür auserwählt?“



„Du bist weise und die Menschen achten dich, sie werden auf dich hören.“



Jakobus dachte nach. Ein leichter Windhauch spielte mit seinen langen weißen Haaren, doch sein faltendurchfurchtes Gesicht zuckte keinen Augenblick. Nur seine lebendigen Augen betrachteten einmal den Botschafter, dann die versammelte Menge.



„So soll es sein. Wo soll ich sprechen?“



„Klettere dort auf das Dach hinauf“, meinte der Priester und zeigte auf die Spitze der seitlich gelegenen Kolonnade. „Von dort können dich die Menschen am besten hören.“



Jakobus ging los, die Wächter drängten sich vor ihn, um einen Weg durch den Haufen zu bahnen. Beim Anblick der Holzknüppel stoben sie auseinander wie das Wasser bei Ebbe im Meer. Als Jakobus oben angekommen war, ging er an das Geländer. Die Menge hob ihre Köpfe zu ihm und es wurde still. Jeder wollte hören, was der Einzige, der Gerechteste unter den Gerechten ihnen sagen wollte.



In diese Stille donnerte die Stimme eines Pharisäers. „He, Gerechter, du, der so viele Menschen getäuscht hast, damit sie ihre Rettung suchen. Wo ist dieser Weg?“



Jakobus hatte eine solche Frage nicht erwartet. Zunächst stutzte er, schaute in die Gesichter der Menschen, die seiner Antwort harrten, fasste Vertrauen und sprach laut, sodass alle ihn hören konnten.



„Es gibt nur einen Weg, der zu unserem Gott führt. Und dieser Weg ist der der Gerechten. Ich bin gekommen, um Euch allen zu sagen, Euch, von den Dämonen des Belial6 Versklavten, dass das Ende der Tage kommt. Und mit ihm kommt das Reich Gottes. Ich bin gekommen, um Euch eine wohltuende Kunde zu bringen, das Jubiläum7 ist zu Ende, und mit dessen Ende sind alle Eure Sünden getilgt. Ihr werdet zu den Söhnen des Lichtes zurückkehren. Ich bin gekommen, Euch zu sagen, dass der Allmächtige, der sich wegen unserer Sünden zurückgezogen hat, nach Hause kommen wird.“



Jakobus hielt inne und streckte die Hand zum Tempel. „Und zu seiner Rechten wird sitzen der Menschensohn und es werden kommen auf Wolken die himmlischen Heerscharen.“



Seine Worte wurden mit freudigen und begeisterten Ausrufen begleitet.



„Hosanna dem Sohne Davids!“



Die Pharisäer und Schriftgelehrten, die hinter Jakobus auf dem Dach standen, sahen sich verwundert an. Einer von ihnen sprang auf und stieß den Alten in den Rücken. Jakobus stürzte über das Geländer und schlug hart auf den Steinen auf.



Die Menge trat geschockt von seinem Körper zurück. Keiner konnte das Geschehene glauben. Alle Blicke waren auf Jakobus gebannt. Sie hielten ihn für tot. Doch der Mensch bewegte sich und langsam erhob er sich auf seine vom vielen Beten geschundenen Knie.



Ein neuer Schrei ging durch die Menge. „Er lästert Gott! Werft Steine auf ihn!“



Vor dem Haufen erschienen einige Männer, die anfingen, Steine auf den Alten zu werfen. Dieser hob seine Hände zum Schutz.



„Mein Gott, ich wollte nur ein wenig Zeit, um das Reich Gottes zu sehen“, flüsterte Jakobus mit letzter Kraft.



Aus der Menge schritt ein kleiner untersetzter kräftiger Mann. Er trug einen flachen Holzpflock, mit dem die Frauen die Wäsche wuschen. Sobald er bei dem Gestürzten ankam, hob er ihn, schwang ihn einige Male und ließ ihn niedersausen.



Der Kopf des Opfers zersprang, Teile seines Gehirns und Blut flogen durch die Gegend.



Der Mensch wurde unter den erstarrten Blicken der versammelten Menge zermalmt.



1

 Tag der Sündenvergebung, der größte jüdische Feiertag, den nach dem Gregorianischen Kalender ungefähr im September–Oktober gefeiert wird.



2

 Herodes Agrippa II. (27; † 92/93 n. Chr.), König der römischen Provinz Judäa von 48 bis 70, der letzte König aus dem Geschlecht der Herodianer.



3

 Heiliger Paulus (vor 10 vermutlich; † nach 60).



4

 Hannas der Jüngere (?; † 68), Sohn des Hohenpriesters Hannas ben Seth.



5

 Der Sanhedrin ist ein hohes richterliches Amt in der jüdischen Selbstverwaltung, einem Rat der Ältesten bei den Juden.



6

 Dämonisches Wesen in der jüdischen Bibel, Teufel.



7

 Die Zeitperiode von 49 Jahren.





2



Im Jahre 33 der Herrschaft von Kaiser Augustus (6 n. Chr.)



Es waren unsichere Zeiten angebrochen. Gewalt und Chaos herrschten in den Ländern Galiläa und Judäa. Nachts erhoben sich Flammen verbrannter Häuser, tagsüber überfielen Räuber auf den Wegen die Karawanen, raubten die Waren und köpften die Menschen.



So ging das schon seit zig Jahren. Seit Herodes der Große gestorben war. Der König, der mithilfe von Rom an die Macht gekommen war, der König, der das Land mit eiserner Hand geführt hatte, der König, der in Wildheit und Grausamkeit nicht seines Gleichen hatte. Er hatte seine eigenen Kinder umgebracht. Was blieb wohl für die anderen? Selbst Caesar Augustus hatte erklärt, er wäre lieber ein Schwein an dessen Hofe als sein Sohn. Deshalb wurde Herodes von allen gehasst.



Vom einfachen Volk, von den Bauern, von den Kaufleuten und Handwerkern, von denen in den Bergen und Ebenen, selbst von den Reichen, die sich vor seiner Macht und Rache fürchteten. Sie hassten ihn, denn er war kein Jude und hatte keinerlei Recht auf den Thron Davids. Die Priester weigerten sich, ihn als den erwarteten Messias auszurufen, und er rächte sich an ihnen, indem er sie im Schatten der Nacht hatte hinrichten lassen.



Man hasste ihn, weil er die Söhne seiner ersten Frau Mariamne umgebracht hatte, die in erster Linie von dem königlichen Geschlecht der Hasmonäer8 abstammte. Man hasste ihn, weil er sie ungerechterweise der Untreue bezichtigt hatte und sie hinrichten ließ und später noch einige Male heiratete. Man hasste ihn, da er ihren Bruder hatte umbringen lassen, ein Jüngling noch, der zur Freude des Volkes gerade erst das Gewand des Hohen Tempelpriesters erhalten hatte.



Man hasste ihn, weil sein Stamm in Inzucht versunken war, die nächsten Verwandten heirateten untereinander.



Man hasste ihn, weil er den römischen goldenen Adler über dem Hauptportal des Tempels hatte anbringen lassen und befohlen hatte, zweimal täglich Opfergaben zu Ehren von Caesar darzubringen.



Man hasste ihn, weil er die Gefängnisse mit seinen Gegnern gefüllt hatte, die am Tage seines Todes hätten hingerichtet werden sollen, sodass ein jeder im Volk jemanden zu beklagen hatte.



Vor dem Zorn und dem Hass der Menschen schützten ihn weder der Bau von Städten, Häfen und Festungen noch die Wiederherstellung und Erweiterung des Tempels.



Und als er unter qualvollen Leiden starb, weinte ihm keiner nach. Selbst seine Nächsten nicht.



Sein Körper war noch nicht erkaltet und seine Grabstätte war schon geschändet. Der königliche Sarg aus rotem Kalkstein war in Hunderte kleine Stücke zerbrochen, seine sterblichen Überreste auf das Feld geworfen, damit ihn die Raubtiere und Geier zerreißen würden.



Die thrakischen Söldner bewachten ihn nicht mehr.



Die Menschen, die sich im Namen des Volkes gerächt hatten, wurden von einigen Rebellen angeführt, unter denen auch Judas von Gamala zu finden war. Doch jeder kannte ihn unter dem Namen Judas der Galiläer. Er hatte geschworen, dass er die Römer vom Land Gottes und die korrupten Priester aus dem Tempel vertreiben würde. Mehr noch hegte er einen tiefen persönlichen Hass gegen Herodes, denn dieser hatte seinen Großvater Hezekiah gefangengenommen und umgebracht.



Doch der Aufstand brachte keinen Erfolg. Publius Varus, der römische Statthalter der Provinz Syrien, schickte seinen Sohn mit drei von vier seiner eigenen Legionen und vernichtete diesen mit absichtlicher Grausamkeit und Brutalität. Nur Judas hatte sich retten können.



Während dieser Zeit existierten drei philosophische Schulen, die sich mit öffentlichen gesellschaftlichen und geistlichen Dingen beschäftigten: die der Sadduzäer, die der Pharisäer und die der Essener. Diese des Lehrers Judas wurde die vierte.



Sie wurde die Schule der Zeloten genannt.



***



Um den Tisch saßen viele Leute. Schweigsam aßen und tranken sie. Die Nacht hatte sich schon gesenkt und das Feuer in den Leuchtern flackerte von Zeit zu Zeit, wenn der Wind durch den langen und niedrigen Raum wehte. Einige Frauen sorgten dafür, dass Essen nachgereicht wurde und die Gläser nicht leer blieben.



An der Stirnseite des Tisches saß Judas der Galiläer, rechterhand von ihm hatte sich der Lehrer, oder Zadok, wie sie alle ihn nannten, niedergelassen. Er allein aß kein Fleisch und trank keinen Schluck Wein.



„Warum schweigt Ihr denn alle so? Andermal haben wir auch Römer umgebracht. Und auch jetzt werden wir sie erschlagen.“ Judas nahm die Sica9 und rammte sie in das gebratene Lamm, das auf einer runden Platte vor ihm stand. Er schnitt sich ein großes Stück ab und steckte es in den Mund.



„Diesmal sind es viele“, ließ ein Mann am Tische hören.



„Was soll das? Der Gott schickt sie direkt in den Rachen des Löwen“, murrte Judas und wischte sich den Mund mit dem Handrücken ab. Er nahm sein Glas und leerte es in einem Zug. Judas hatte es noch nicht auf den Tisch gestellt und schon kam ein Mädchen und füllte es von neuem.



Er hatte ein breites, zerfurchtes und willensstarkes Gesicht mit krausem Haar und kurz geschorenem Bart, breite Schultern und zupackende Hände. Obwohl er der Anführer war, schwang er sein Schwert gleich mit allen anderen, zog als erster in die Schlacht und schürte Furcht unter seinen Feinden.



„Wir haben uns geschworen, unseres Land zu befreien und von neuem das gefallene Tabernakel10 von David aufzurichten. Und nichts kann uns aufhalten, unseren Weg zu verfolgen, den wir gewählt haben. Auch der Tod nicht. Diesen, die für die Sache fallen, wird ewiger Ruhm und ein Platz neben Gott beim Jüngsten Gericht gebühren. Und wenn einer diesen Weg nicht betritt, werde ich ihm selbst das Leben nehmen.“



Der Mann erhob sich ein wenig und sah die um ihn Sitzenden mit strengem Blick an. Selbst die in Schlachten abgebrühten Kämpfer konnten diesem nicht standhalten. „Wisst Ihr, wen ich mehr hasse als die Römer?“



Alle schauten ihn an, ohne ihm zu antworten.



Judas schüttelte den Kopf und fuhr fort: „Jene, die Reichtum auf Kosten des Volkes anhäufen und ihre Kreuze zerbrechen, um sich vor Rom zu beugen. Jene, die den Tempel mit ihrer Gegenwart schänden und die Frechheit haben, Ware für die Gesundheit von Caesar zu opfern. Jene, die uns sagen, dass wir ihnen Steuern zu zahlen haben, als ob ihnen die Erde gehöre und nicht Gott. Jene, die den letzten Happen der Armen nehmen und diese dem Hungertod preisgeben. All diese sind nicht würdig zu leben, weil sie den Geboten Moses abtrünnig geworden sind. Deshalb zünden wir deren Häuser an, deshalb nehmen wir ihnen das Hab und Gut, deshalb töten wir sie zusammen mit ihren Familien. Sie haben keinen Platz auf unserem Land.“



Judas erhob sein Glas. Im Raum herrschte Grabesstille.



„Und wisst Ihr, warum wir siegen werden? Weil es von den Propheten vorhergesagt worden ist. Es ist gesagt, aus dem Lande Judäa kommt ein Mann, der wird die Söhne des Seth zugrunde richten und über die Völker herrschen. Es wird die letzte Zeit anbrechen und das Reich Gottes herrschen. Und nur die Gerechten werden daran teilhaben. Nicht wahr, Zadok?“



Der Mann zur Rechten nickte nur zum Zeichen der Einwilligung.



„Wie die Makkabäer die Griechen verjagten, so werden auch wir die Römer verjagen. Wenn die das konnten, so können wir das auch. Mein Vater Mathias verbrannte für die wahre Sache – wenn es sein muss, so werden auch wir dafür verbrennen.“



Judas schaute erneut die Männer an. Ihre Gesichter waren gleichzeitig roh und von Entschlossenheit erstrahlt, womit sie der Causa ergeben waren. Er fühlte sich befriedigt, seine größte Angst bestand darin, das Vermächtnis seiner Vorfahren nicht erfüllen zu können. Er erblickte in seiner Erinnerung noch die Flammen, in denen sein Vater erstickte.



Herodes der Große ließ ihn verbrennen als Strafe für den Aufstand gegen das Anbringen des goldenen römischen Adlers im Tempel. Diesen Frevel hätte kein Jude jemals zulassen können. Man warf ihn in den Turm, er sollte als Opferlamm nach dem Tode des Königs dienen.

 



Doch das Schicksal hatte anders entschieden. Herodes starb unter unsäglichen Qualen, geschickt vom Allerhöchsten, und sein Sohn Archelaos wagte es nicht, sich der Menge zu widersetzen, und ließ ihn unter deren Druck auf freien Fuß.



Man hörte ein Klopfen und Hämmern, das sich zu einem Dröhnen erhob. Es kam von dem Tische. Von den Fäusten der Aufständischen, die damit zum Zeichen ihrer Zustimmung auf das massive Holz schlugen.



Auf dem Gang an der Wand erschien eine Frau mit zwei Jungen. Sobald Judas sie erblickte, stand er auf und winkte mit der Hand, sodass der Lärm verstummte.



„Und nun esst und trinkt, es könnte Euer Letztes sein.“



Seinen Worten folgten Gelächter und spaßige Zurufe. Er stellte den Stuhl zur Seite und trat auf die Frau zu. Sobald er sie erreicht hatte, ließ er sich auf die Knie nieder und gab den Jungen ein Zeichen. Diese stoben auf und flogen ihm um den Hals. Judas schloss die Augen und umarmte sie, stand auf und schaute in ihre glücklichen Gesichter.



„Jakob, Schimon! Wie groß Ihr geworden seid“, sagte er und struwwelte ihnen die Haare. „Ihr seid ja richtige Männer geworden“, fügte er hinzu und seine Augen strahlten vor Vaterstolz.



„Vater dürfen wir mit dir gehen?“



Judas erhob sich und nickte der Frau zu, die die Jungen hergeführt hatte. „Ich habe eine wichtigere Aufgabe für Euch.“



„Was für eine?“, begeisterten sich die Knaben.



„Jetzt seid Ihr die Männer in der Familie und müsst Eure Mutter schützen, nicht wahr?“



Die Gesichter der Jungen sahen gespannt auf den Vater. „Wir wollen mit dir gehen und gegen die Römer kämpfen.“



„Auch das wird eines Tages geschehen. Und wenn ich nicht zurückkomme … nicht wahr, Ihr wisst, was Ihr macht?“



„Wir wissen es.“



„Was?“



„Was Großvater Mathias getan hat, was auch du tust, Vater. Du verjagst die Römer von unserem Land.“



„Genau so“, nickte Judas zubilligend mit dem Kopf. „Und wenn Ihr etwas nicht wisst, wen fragt Ihr da?“



„Zadok, den Lehrer.“



„So ist’s recht, nun geht in Euer Zimmer zurück.“



Die Knaben verbeugten sich und eilten den Weg zurück.



Die Frau schaute ihnen nach, bis sie sich entfernt hatten, und kehrte um. Ihr Gesicht war schön, doch voller Trauer. „Ich habe da etwas über die Römer gehört.“



„Mach dir keine Sorgen, Rahel.“ Judas trat auf sie zu, umarmte fest seine Frau und küsste sie auf die Stirn. „Die Jungen sind gesund und stark.“



„So ist es“, entgegnete die Frau. Über die glatte Haut ihrer Wange kullerte eine Träne. „Du kommst doch wieder, nicht wahr?“



„Wir haben das doch schon besprochen, Rahel. Mein Leben gehört dem Gott und nur er weiß, wie lange dies dauert. Wenn meine Zeit gekommen ist und ich nicht zurückkehre … geh mit den Knaben zu Zadok, er weiß, was zu tun ist.“



***



Sepphoris11 hatte erneut den Zorn der Römer herausgefordert. Schwarz ragten die Überreste der dem Erdboden gleichgemachten Gebäude in den Himmel, der über der Stadt verdunkelt war von dem Qualm, der sich immer noch von den glimmenden Feuern erhob. Die Luft war geschwängert vom Geruch von verbranntem Holz, Hausrat und menschlichem Fleisch.



Rom überschüttete mit aller Wut und Grausamkeit die Stellen, von denen der Aufstand des Judas von Galiläa ausgegangen war. Mithilfe der Bevölkerung hatte dieser die Kasernen besetzt und die gesamten Vorräte an Waffen entwendet, um seine Leute zu bewaffnen.



Jemand musste für diesen Frevel büßen.



Die Paläste der Reichen und die Tiere waren verschont geblieben.



Es konnten sich nur die Menschen retten, die geflohen waren, als die römischen Legionen im Anzug waren. Die armen gefangenen Flüchtlinge wurden als Sklaven verkauft.



Die Verteidiger der Stadt hielten nicht lange aus, die meisten kamen in dem ungleichen Kampf um und die, die nicht getötet worden und in Gefangenschaft geraten waren, verfluchten ihr Schicksal, dass sie nicht in der Schlacht gefallen waren.



An beiden Seiten des Weges, der nach Jerusalem führte, waren unzählige Kreuze errichtet worden, an denen die gefangenen Aufständischen aufgehängt wurden. Es waren Tausende …



Einer von den Gekreuzigten war Judas der Galiläer.



8

 Dynastie, beherrschte Judäa von Mitte des II. bis Mitte des I. Jh. v. Chr.



9

 Ein gebogenes Messer.


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