Loe raamatut: «Am Ende des Schattens»
Inhalt
Teil 1
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Teil 2
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1
Unmerklich hatte der Novemberhimmel die Farbe gewechselt, vom hellen Grau des Zements zum dunkleren von nassem Beton. Eine minimale Verschiebung des Lichts, als ob jemand einen Regler bediente und die Netzhaut verschattete. Segal Dolphin fiel es schwer, die Augen offen zu halten. Er lag fast waagrecht in seinem Schreibtischstuhl und sah zu, wie das Tiergartenviertel im Nebel verschwand. Unten auf dem Trottoir wurden Kohlen in den Keller geschaufelt. Ein störrisches Geräusch, von langen Pausen unterbrochen.
Er richtete sich auf, fuhr mit dem Zeigefinger über die Tasten der Schreibmaschine, um die Kühle des Metalls zu spüren. Das deutsche Wort Fingerspitzengefühl traf ungefähr seine Empfindung. Mit der Zärtlichkeit eines Pianisten strich er über die Imperial Good Companion, die erst kürzlich in der Berliner Redaktion des Daily Standard eingetroffen war, samt einer Karte mit Grüßen von Lord Bakerfield. Er schätze, so schrieb der Verleger, modernste Technik und – hier hatte er einen raumgreifenden Bindestrich eingefügt – gierige Reporter. Warum dann dieser Anruf?
Aus heiterem Himmel hatte der Lord ihm mitgeteilt, er werde ihn bald nach London zurückberufen und zum Chefkorrespondenten in Westminster machen. »Drei Jahre reichen«, nuschelte er in den Hörer, »Sie müssen etwas Neues kennenlernen.«
Dolphin war wie benommen und wusste nicht, was er sagen sollte. Der Herausgeber deutete sein Schweigen als freudige Überraschung und sprach von dem nächsten Schritt in der Karriere eines jungen Journalisten, für den es nun an der Zeit sei, sich mit der britischen Innenpolitik vertraut zu machen.
»Lord Bakerfield«, brach es schließlich aus ihm heraus, »das geht nicht. Es gibt noch so viel hier zu tun. Kapitale Geschichten. Sie müssen mir vertrauen.«
»Sachte, sachte«, sagte der Verleger nun deutlich kühler, »überschätzen Sie sich nicht.« Er wisse besser, was Dolphins Karriere zuträglich sei. Er halte ihn für ein Talent, doch das bedürfe zunächst einmal der weiteren Ausbildung. Erst Berlin, dann London, und wer weiß, vielleicht gehe es in ein paar Jahren nach New York, Sydney oder Kapstadt. Außerdem habe er schon einen Nachfolger. Einen Doktor der Germanistik, frisch aus Oxford.
»Also, liefern Sie mir noch das Stück über das Kaiser-Wilhelm-Institut, und am ersten Januar sind Sie hier.«
Dolphin holte Luft. »Meine Mission ist noch nicht beendet«, sagte er, ohne zu wissen, woher diese Worte kamen.
»Werden Sie nicht pathetisch, Dolphin.«
Er stand auf und öffnete das Fenster. Mit mechanischen Bewegungen zündete er sich eine Zigarette an und sah lange dem Rauch nach, wie er sich im Grau auflöste.
Um die Reportage über das Kaiser-Wilhelm-Institut für Anthropologie, menschliche Erblehre und Eugenik hatte Bakerfield ihn erst vor Kurzem gebeten, und bis jetzt hatte Dolphin sich vergeblich um einen Termin bemüht. Kein Geringerer als Winston Churchill hatte den Lord auf diese Berliner Forschungseinrichtung hingewiesen, als sie, wie er berichtet hatte, über die Malaise der Gesundheitspolitik gesprochen und dabei auch das Problem der Geistesschwachen und Verrückten gestreift hätten, welche ohne Frage Wohlstand, Vitalität und Kraft der britischen Gesellschaft bedrohten. Der Politiker sei sogar so weit gegangen, Segregation und Sterilisierung als unverzichtbar zu bezeichnen, damit der Fluch mit diesen Menschen aussterbe und nicht an nachfolgende Generationen weitergegeben werde. Offenbar verfolge jenes Institut in Berlin eine ganz ähnliche Richtung, um mit gezielter Bevölkerungspolitik die Degeneration des eigenen Volkes abzuwenden. Außerdem hätten die Wissenschaftler im früheren Deutsch-Südwestafrika Mischlinge aus Weißen und Eingeborenen vermessen, um den Einfluss von Umwelt, Erbe und Rasse zu untersuchen, was gleichfalls interessante Erkenntnisse für die britische Kolonialpolitik bringen könne. Und dann hatte er ein zerstreutes good luck in den Hörer genuschelt und aufgelegt.
Dolphin machte das Fenster zu. Der Nebel war so dicht geworden, dass er die Stadt dahinter fast völlig zum Verschwinden brachte. Ebenso gut könnte man in London sein. Doch eines wusste er: Er würde nicht nach London gehen.
Wie immer, wenn Dolphin die Dinge zu entgleiten drohten, beschloss er, sich zu rasieren. Vielleicht war es zu einem Tick geworden, doch ihn verlangte nach jener Form der Konzentration, die das Schweifen der Gedanken mit dem Gefühl der Reinigung verband, und so fuhr er vom Büro in seine Wohnung in der Knesebeckstraße.
Auf dem Weg ins Badezimmer passierte er den Rundfunkempfänger, der auf einer Anrichte thronte. Er zwang sich, einen Moment innezuhalten, schaltete behutsam den Apparat ein. Das Summen der Röhren beruhigte ihn. Und dann vernahm er die Stimme des Ansagers, der das Vormittagsprogramm verkündete.
Während er den Rasierschaum auftrug, wurden vom Flur her Fetzen eines Schlagers hereingeweht. Ja, bei den Hottentotten, sang Efim Schachmeister, da tanzt man den Black Bottom, als Dolphin die Klinge über die Wange zog. Einer strengen Symmetrie folgend, vollendete er erst einen Sektor auf der linken, dann auf der rechten Gesichtshälfte, bis mit jeder Links-rechts-Kombination ein weiteres Stück seiner Haut freigelegt wurde.
Er widmete sich nun seinem Kinn, das Ella besonders männlich fand. Dann betrachtete er die fein geschwungene Oberlippe, die im Kontrast zur Unterlippe durchaus etwas voller hätte ausfallen können. Mit seinem dunklen, leicht gewellten Haar konnte er zufrieden sein.
Jenseits des Spiegels, in den Tiefen des Radioapparats, tanzten die Hottentotten weiter ihren Black Bottom zu den Klängen des Jazz-Symphonie-Orchesters, und als jene Stelle mit den schwarzen Puppen kam, die man beim Tanzen nicht bezuppen darf, klatschte er sich eine Handvoll Wasser ins Gesicht und griff zu dem Handtuch, das seine Hauswirtschafterin bereitgelegt hatte.
Fräulein Herrmann kam dreimal die Woche, und hinterher war immer alles frisch, duftend und hell, wie die Schleiflackmöbel, die sich Dolphin in einem Anfall von Neusachlich-sein-Wollen hatte aufschwatzen lassen, gleich im Einrichtungsgeschäft um die Ecke. Seitdem überlegte er hin und wieder, wie er das Bauhausartige in seiner Wohnung mildern und ihr mehr das Gepräge eines britischen Gentlemans verleihen könnte. Er hatte bereits Brennholz und Reisig in dem offenen Kamin aufgeschichtet, doch dann begannen die Straßenschlachten und Schießereien, und er entschloss sich, einen alten Kupferstich vor die Öffnung zu stellen, um nicht mehr in das dunkle Loch starren zu müssen.
Das Telefon klingelte. Er schaltete den Rundfunkempfänger aus. Es war Ella, die ihn am Abend treffen wollte.
Als er aus der Haustür trat, schlug ihm dichter Nebel entgegen. Er stellte den Mantelkragen hoch und bewegte sich durch schlierige Streifen und Felder verschwommener Dinge.
Das Licht der Laternen versickerte im Wasserdampf, die Auslagen in den Schaufenstern, die Plakate an der Brand-mauer gegenüber, alles schien hinter einer Schicht aus Glas zu verschwinden. Beim Näherkommen erkannte er einen verblichenen Anschlag, der Das indische Grabmal annoncierte.
Ella mochte exotische Monumentalfilme. Zum Glück fand sie wenigstens an den gemeinsamen Kinobesuchen Gefallen, auch wenn sie sich ansonsten weigerte, mit ihm in das Berliner Nachtleben einzutauchen. Für ihn war es unbegreiflich, wie man den Verlockungen der Varietés oder dem Rausch eines Sechstagerennens widerstehen konnte, wenn sich alles in der Ewigkeit des Augenblicks drehte, bis man am Ende der Nacht auf die seltsamsten Geschichten stieß, die britische Leser interessieren mussten. Ella wollte nichts davon wissen. Sie bestand darauf, mit ihm allein zu sein, wozu auch intime Essen oder die Abende im Lichtspieltheater zählten. Vor allem aber wollte sie reden. Doch was sie zu sagen hatte, kreiste zunehmend um Verlobung, Heirat und Kinder, und vermutlich waren es genau diese Themen, denen Dolphin immer häufiger ausweichen wollte.
Er kam am Milchladen vorbei, sah das Licht durch die Fenster schimmern und freute sich an der Tautologie der Milchglasscheiben. Auf einer war ein Strichmännchen aufgemalt mit der Aufschrift Trink Milch, du Knilch. Und dann hörte er tief in seinem Innern die Stimme des Milchmanns und das Scheppern der Flaschen, wie er es zum ersten Mal vernommen hatte, als er endlich, ein Jahr vor Kriegsende, mit seinen Eltern nach England ausreisen durfte. Die Londoner Geräusche kamen ihm damals, nach all den Kriegsjahren als feindliche Ausländer in Berlin, so unendlich fremd und zivilisiert vor.
Mit einem Mal verlangte ihn nach einem Glas Milch, das er, kaum dass es vor ihm auf der Theke abgestellt worden war, in der atemlosen Art eines Jugendlichen leer trank.
Wie so oft ging Dolphin zum Kiosk am Savignyplatz, wo er die Mittagsblätter kaufte. Sie kamen noch feucht aus der Druckerpresse und rochen nach Petroleum und Neuigkeiten. Mit dem Zeigefinger strich er über eine Schlagzeile und verwischte die Blockbuchstaben. Er konnte nicht sagen, warum er das tat, vielleicht, um sich in einem magischen Akt die Druckerschwärze einzuverleiben, vielleicht war es auch eine Kampfansage an die Konkurrenz.
Er griff in seine Manteltasche, holte ein paar Münzen heraus und bezahlte. Er achtete stets darauf, Kleingeld für den Kriegsinvaliden übrig zu haben, der ein paar Meter weiter auf dem Boden saß und mit dem Rücken am Sockel eines Hauses lehnte. Seinen Beinstumpf hatte er auf die Holzleisten seiner Krücke gelegt, daneben waren auf einer Decke Heftpflaster, Bindfäden, Reißverschlüsse und Sicherheitsnadeln ausgebreitet. Aus Verlegenheit kaufte Dolphin eine weitere Packung Sicherheitsnadeln, die sich nutzlos mit den anderen in der Nachttischschublade stapeln würde.
2
Am Nachmittag fuhr er ins Büro und versuchte Lord Bakerfield zu erreichen. Die Sekretärin in London richtete ihm in ziemlich hochnäsigem Ton aus, der Verleger sei nicht zu sprechen. Ob es Sinn habe, es heute nochmals zu probieren, wollte Dolphin wissen. Sie fürchte nein, sagte sie in einer Weise, in der wenig Furcht, aber viel Schadenfreude durchklang. Wusste sie von jenem katastrophalen Telefonat, das mit einem Ultimatum geendet hatte?
Er ließ sich eine Kanne Kaffee bringen und schaute auf die Uhr an der Wand gegenüber. In London war es jetzt 16.23 Uhr. Keinesfalls wollte er Parlamentskorrespondent in Westminster werden. Er wollte nicht analysieren und kommentieren, sondern aufdecken und verändern. In England war alles viel zu festgefahren, um als Journalist Karriere machen zu können. Die Langeweile verregneter Nachmittage im Commonwealth Club, die verstaubten Rituale im Oberhaus.
Dolphin verstand den Lord nicht. Nie zuvor in der Geschichte des Standard hatte die Berichterstattung aus der Reichshauptstadt einen so breiten Raum eingenommen. Darüber hinaus war es allein dem Spürsinn des gebürtigen Berliners und seines mühsam aufgebauten Netzes aus Informanten zu verdanken, dass er die exklusiven Reportagen, oftmals lange vor der Konkurrenz, platzieren konnte. Und war es nicht die Londoner Zentralredaktion, die immer wieder anrief, wenn sonst nichts los war und eine schlagzeilenträchtige Geschichte gebraucht wurde und der Chef vom Dienst fragte, ob er eine Story liefern könne? Wie sollte ein Doktor aus Oxford sein Nachfolger werden, der weder die Sprache richtig beherrschte noch die hiesigen Verhältnisse kannte?
Dolphin trank einen Schluck Kaffee. Erst neulich hatte er wieder einen scoop gelandet, als er an vorderster Front über die Gefechte zwischen SA und Kommunisten berichtete. Mit Fotoapparat und Notizblock bewaffnet, vertauschte er Tweedanzug und maßgefertigte Full Brogues mit seiner Kampfmontur aus Lederjoppe, Kniebundhosen und Schnürstiefeln und raste von einem Unruheherd zum anderen, um zwischen den Kämpfen seine Artikel durchzugeben, und nur mit sehr viel Glück war er damals einer Schießerei entkommen.
Er rief Ella an. Als sie sich meldete, musste er lächeln. Aus ihrer Stimme klang unverkennbar der Stolz der Fremdsprachensekretärin, die für eine große Aktiengesellschaft arbeitet. Doch sogleich wurde ihr geschäftlicher Ton weicher, als er vorschlug, sich später im Ambassadeur zu treffen.
Er nahm das Kinoprogramm zur Hand und blätterte darin. Im UFA-Theater zeigten sie wieder alte Stummfilme. Der zweite Teil des Indischen Grabmals war für die Spätvorstellung angekündigt. Mit Ella hatte er kürzlich Folge eins gesehen, die ihr offenbar auch wegen des
Dieners des Maharadschas gefallen hatte, ein düsterer, groß gewachsener Schwarzer, der aus den Kolonien nach Berlin gekommen war. Auch im letzten Teil spielte er mit, und das könnte ein Argument sein, um sie nach dem Abendessen ins Kino zu locken.
Mit einem Mal fühlte er sich müde und leer. Draußen regnete es. Er griff zum Regenschirm und ging zum Savignyplatz, wo es ihm nur mit Mühe gelang, ein Taxi anzuhalten. Er stieg ein und nahm den feuchten Hut vom Kopf. Dann drängte er den Chauffeur zur Eile, vielleicht aus Gewohnheit, vielleicht aber auch, um die eigene Antriebslosigkeit zu verscheuchen. Der Fahrer schwieg, wischte mit einem Tuch über die beschlagene Frontscheibe und zeigte auf die Wagen vor ihm. Heck an Heck standen sie auf dem glitzernden Asphalt, klebrig wie die Schnecken.
In der Friedrichstraße schließlich ein Stau vor dem Film-theater. Säulen aus Glühbirnen wuchsen an dem Palast empor, gekrönt von der funkelnden Raute der UFA. Der Himmel darüber war von Wolken gefleckt. Streifen und Zacken unterschiedlicher Helligkeiten, Camouflagemuster, als wolle die Nacht sich tarnen.
Alles in dieser Stadt war Inszenierung: das Lichtspiel am Himmel, die Bewegungen der Kinogänger, die, einer geheimen Dramaturgie folgend, ihre Regenschirme ausschüttelten, bevor sie das Kino betraten. Selbst die Wassertropfen schienen aus Glas, das lautlos auf dem Trottoir zersprang.
Er ging hinein und kaufte zwei Karten für die Spätvorstellung, was überhaupt nicht notwendig sei, wie die grauhaarige Billettverkäuferin versicherte. Der Film laufe schon so lange, das sei nur noch etwas für Schlaflose und Verliebte. Nach dem Essen schmiegte Ella sich an ihn, als sie im Taxi in die Friedrichstraße fuhren. Kerzen, Burgunderwein, das Parfüm, das er im Kaufhaus Wertheim extra in kornblumenblaues Papier hatte schlagen lassen, das alles schien jenes Fluidum zu erzeugen, das sie von einem Abend zu zweit ersehnte. Sie hatte nicht einmal den Umstand zur Sprache gebracht, dass sie sich bald ein Jahr kannten und noch immer nicht verlobt waren.
Im Kino saß nur eine Handvoll Zuschauer. Sie lehnte sich in ihrer üppigen Blondheit zu ihm herüber und verstand es, ihr Madonnengesicht so ins Bild zu rücken, dass Dolphin das Geschehen auf der Leinwand nur noch aus den Augenwinkeln verfolgen konnte. Er vertiefte sich in das Dreieck aus Ellas Engelshaar, ihren blauen Augen und dem vielleicht etwas zu kleinen Mund. Wenn sie zuschaute und schwieg, konnte er sich darin versenken. Sie schien es zu mögen, wenn er die Linien ihres Gesichts studierte. Eigentlich konnte man gar nicht von Geometrie sprechen, es hatte, zu seinem leisen Bedauern, eher etwas Daunenweiches, das wenig Widerstände bot.
Plötzlich richtete sie sich auf. Dolphin sah, wie sich der Diener des Maharadschas seinem Herrn näherte. Der Mann mit dem mächtigen Oberkörper beugte sich zu seinem Gebieter hinab. Er flüsterte in dessen Ohr, finster dreinblickend, verstärkt noch durch den Kontrast zwischen tiefschwarzem Gesicht und blendend weißem Turban. Etwas Undurchdringliches ging von ihm aus, ein Gesicht wie eine Maske, mit polierten Wangenknochen, um die sich sichelförmig Lichtpunkte verteilten, Reflexe von Härte, von Stolz, der sich nicht brechen ließ, auch wenn er nun den indischen Domestiken gab.
Es entging Dolphin nicht, wie sich ihre Pupillen weiteten, als sie den Schauspieler betrachtete. Er tippte sie an. »Wer ist das?«
»Louis Brody«, wisperte sie ihm ins Ohr, »das müsstest du eigentlich wissen.«
Dolphin lachte. »Mich interessiert eher die indische Tänzerin. Gefällt er dir?« Über Conrad Veidt, den Hauptdarsteller mit den ebenmäßigen Zügen, die in einem edlen Bronzeton geschminkt waren, hatte sie noch nie ein Wort verloren.
»Aber nein«, protestierte sie und boxte gegen seinen Arm. Ihr gefielen doch keine Afrikaner! Aber gut spielen könne er. So groß, so schaurig, er mache einfach Effekt.
Es war sehr spät, als sie in die Knesebeckstraße kamen. Ella bestand darauf, noch ein Bad zu nehmen. Und dann weckte sie ihn, mit einer Leidenschaft, die er so nicht von ihr kannte. Wie immer blieb sie stumm, aber ihr Keuchen verriet eine Erregung, die Dolphin, obgleich er über einen Meter achtzig maß und die Schultern eines Sportruderers besaß, nicht vollständig auf sich beziehen konnte. Das Feuer flammte nur kurz auf, dann lag sie erschöpft neben ihm und schlief sofort ein. Er roch das Parfüm, das er ihr geschenkt hatte. Es hieß Tabu. Ein Duft mit einer orientalischen Note, hatte die Verkäuferin im Wertheim gesagt und ihm den Flakon überreicht, verpackt in Ellas Lieblingsfarbe. Er schien so schnell zu verfliegen wie ihr nächtlicher Rausch.
3
Als er am nächsten Morgen ins Büro kam, versuchte er es erneut bei Lord Bakerfield. Der Verleger, so wurde ihm knapp beschieden, habe sich in Klausur begeben und wünsche keinesfalls gestört zu werden.
Auch beim Kaiser-Wilhelm-Institut hatte er kein Glück. Professor Fischer sei leider noch immer auf Reisen, beschied ihm dessen Vorzimmerdame und riet dazu, es nächste Woche wieder zu probieren.
Um auf andere Gedanken zu kommen, ließ er sich aus dem Zeitungsarchiv die Filmrezensionen kommen. Mit schüchternem Stolz verkündete seine Sekretärin, dass sie auch Material über den Schauspieler aus dem früheren deutschen Schutzgebiet gefunden habe. Dolphin blätterte in den vergilbten Seiten und stellte fest, dass er mal Lovis, dann Lewis, schließlich Louis Brody geschrieben wurde, was sich allmählich durchzusetzen begann. Fest stand, dass er in der deutschen Kolonie Kamerun als Ludwig M’bebe Mpessa geboren und mit fünfzehn Jahren ins Reich gekommen war, wo er sich offenbar überraschend schnell als Sänger, Musiker, Tänzer und Boxer etablieren konnte. Seine erste Rolle als riesenhafter Schwarzer, der im Namen der Blutrache einen Weißen tötet, erhielt er in dem Kriminalfilm Das Gesetz der Mine. Und nach Kriegsende tauchte er dann regelmäßig in großen Produktionen wie Die Herrin der Welt, Der kleine Muck oder Die Boxerbraut auf, dass sogar in Filmkritiken seine schauspielerische Leistung gewürdigt wurde.
Er war so in seine Lektüre vertieft, dass er zusammenzuckte, als das Telefon klingelte. Der Chef vom Dienst fragte nach, ob Berlin nicht etwas für ihn habe. Vielleicht ein follow-up zur letzten Schießerei? Dolphin versprach, darüber nachzudenken und sich bald zu melden.
Er hatte sich in vorderster Linie befunden und unentwegt fotografiert, bis er plötzlich zwischen die Fronten geraten war. Auf der einen Seite verschanzten sich SA-Trupps hinter einem umgekippten Lastwagen, auf der anderen lagen Rotfrontkämpfer hinter Barrikaden aus Leitern und Gerüsten, die Bauarbeiter in voller Absicht hatten liegen lassen. Plötzlich wurde es ganz still, und er spürte jenes Vibrieren in der Lendengegend, das Angst und Lust verheißt. Der Kitzel schien ihm Konturen zu verleihen, die bislang verborgen geblieben waren. Er fühlte seinen Brustkorb anschwellen, den Rücken breiter werden, fühlte den Nacken, wo Nervenstränge hervortraten. Er zog ihn ein, als erwarte er einen Hieb, spürte die Schweißperlen auf seiner Stirn, wenn sich der Körper gegen die Auslöschung aufbäumt und sich gegen fremde Kräfte stemmt, die im Kopf schon zu wirken beginnen. Und dann hörte er das Sirren einer Kugel, die knapp an seiner Schläfe vorbeistrich. Er warf sich auf den Boden, rappelte sich auf und konnte sich im Kugelhagel in einen Hinterhof retten, wenn Rettung auch bedeutet, dass man in einer Ecke mit einer Eisenstange niedergeschlagen wird und bewusstlos liegen bleibt, bis der Schmerz sich meldet, sobald man erwacht. Später gelang es ihm, sich in die Notaufnahme zu schleppen. Zum Glück, sagte der diensthabende Arzt, habe er einen Dickschädel und eine Konstitution wie ein Pferd.
Der Zwischenfall hatte ihn nicht davon abgehalten, einen zweiseitigen Artikel mit einzigartigen Fotos von der Bürgerkriegsfront zu publizieren, der auch in anderen englischen Zeitungen nachgedruckt wurde. Der Chef vom Dienst hatte ihn eigens angerufen und zu der Reportage gratuliert. Es galt nun, die Geschichte weiterzudrehen. Vielleicht könnte Professor Borsig helfen. Er kannte den Pathologen, einen profunden Gin-Trinker und Liebhaber alles Britischen, aus der Bristol Bar. Der war sichtlich bemüht, seine Freude über Dolphins Anruf zu dämpfen, und brummte, er habe etwas für ihn, um der Story, und hier ließ er ein fast akzentfreies Oxford English hören, den nötigen background zu verschaffen. Die letzte Straßenschlacht hätte ihm jedenfalls neue Kundschaft beschert.
Als er die Leichenhalle im Neuköllner Bezirkskrankenhaus betrat, winkte der Professor ihn herbei. Dann schlug er die Decke um und enthüllte einen grauenhaft zugerichteten Körper. Dolphin spürte, wie sein Gegenüber ihn beobachtete. Er musste sich beherrschen, als er ein amüsiertes Zucken der Mundwinkel zu sehen glaubte, und rettete sich mit der Frage, wie es passiert sei.
Borsig erklärte in leierndem Tonfall, der Nachwuchskommunist sei auf dem Nachhauseweg zunächst mit einem Faustschlag gegen das Kinn niedergestreckt worden, rückwärts auf das Straßenpflaster gefallen, vom Angreifer mehrfach mit den Stiefeln ins Gesicht getreten, dann in Hüfthöhe wiederholt aufgehoben und fallen gelassen worden. Das ergäbe das typische Bild: schwere Schürfungen am Unterkieferwinkel und am Hinterhaupt mit Blutunterlaufung in der Hirnschwarte, dazu grobfleckige und flächig angeordnete Hämatome, die für Faustschläge und Tritte mit dem beschuhten Fuß sprächen.
Dolphin musste sich zwingen, die Leica hervorzuholen, um das zerstörte Antlitz zu fotografieren. Borsig kam langsam in Fahrt. Die Aussicht, in der meistgelesenen Zeitung des Empire zitiert zu werden, schien ihn zu beflügeln. Er zog die nächste Decke beiseite. »Oder hier, ein SA-Mann im gleichen Alter«, kommentierte er, und bei diesem Anblick musste Dolphin sich abwenden, »ein typischer Fall von Enthirnung samt scharnierartigem Aufklaffen des Schädels in der Bruchlinie.«
Er verspürte einen Brechreiz. Der Pathologe musterte ihn. Es gelang ihm gerade noch, sich zu beherrschen, was Borsig nicht entgangen war. Auf seinen knappen Dank hin erwiderte der Professor: »Das kostet Sie einen Tanqueray.«
Als er im Freien war, ließ Dolphin sich auf eine Bank sinken und zündete sich eine Zigarette an. Er brauchte lange, seine gewölbte Hand vermochte die Flamme nicht vor dem Wind zu schützen, mehrere Versuche schlugen fehl, sodass er schon aufgeben wollte. Als er schließlich das Nikotin einsog, war der Ekel einer tiefen Traurigkeit gewichen. Was sollte er noch tun, um den Lord umzustimmen? Die Zentralredaktion, das wusste er, war von der Qualität des Berliner Büroleiters überzeugt. Konnte der Verleger nicht begreifen, dass er keine Karriere in London anstrebte?
Es kam ihm vor, als ob er das zweite Mal aus seiner Geburtsstadt vertrieben wurde, wenn auch unter gänzlich anderen Vorzeichen. Gegen Ende des Kriegs hatte er sich nach dem fremden England und seiner unfassbaren Zivilität gesehnt. Doch dieses Mal war er kein Jugendlicher mehr, sondern ein gestandener Reporter, der in der aufregendsten Metropole Europas, wenn nicht der ganzen Welt, arbeitete. Vielleicht fühlten Kriegsberichterstatter wie er, wenn er in seiner Kampfmontur ins Ungewisse aufbrach. Diese seltsame Mischung aus Erregung und Bedrohung. Wenn er sich dann im Getümmel befand, zog sich in seinem Kopf ein dunkler Raum zusammen, zu einem Netz aus Farben, Schreien, Schüssen, Schweiß, Blut, es war, als würde das eigene Ich sich auflösen und in Wellen wilder Euphorie treiben. Doch wenn er es recht bedachte, waren es nicht nur die Gefahren des Straßenkampfes, die ihn mitrissen, sondern die immer neuen Geschichten, die diese Stadt hervorbrachte. Die Tatsache, dass er seine Reportagen für eine britische Zeitung schrieb, schärfte sein Bewusstsein für die Einzigartigkeit der deutschen Hauptstadt. Sie injizierte eine Energie in seinen Körper, die kein Benzedrin mobilisieren konnte. So staunte er selbst darüber, dass er, wann immer es ging, sein Rudertraining auf dem Wannsee absolvierte. Neulich hatte er sogar einen Boxclub aufgesucht, um wie in Studententagen den Sandsack mit einer Kombination aus Jab und Uppercut zu traktieren, und wie damals floss der Schweiß über seine behaarte Brust, in der sich die Silberkette verfangen hatte. Sie glitzerte rhythmisch im Scheinwerferlicht, als sende sie Morsezeichen.
Ohne Zweifel befand er sich hier am richtigen Ort zur richtigen Zeit, ob er sich nun in spektakuläre Betrugsprozesse vertiefte oder den Forschungen des Kaiser-Wilhelm-Instituts auf der Spur war. Seine Neugierde trieb ihn voran, und er war fest entschlossen, diese atemlose Epoche in einem Buch zu verewigen, das er für sich das Berlin-Buch nannte.
Als er in das Büro kam, beauftragte er seine Sekretärin, den Film entwickeln zu lassen. Und nachdem er telefonisch weitere Auskünfte von einem Polizeispitzel, der ebenfalls auf seiner Gehaltsliste stand, und einem Informanten aus dem Innenministerium eingeholt hatte, setzte er sich an die Schreibmaschine und begann verschiedene Anfänge auszuprobieren, um nicht nur die britschen Leser, sondern auch den Herausgeber vom ersten Satz an zu fesseln.
Stunden später goss er sich ein Glas Whisky ein und schaute in die Nacht hinaus. Alles war dunkel, nur die Schreibtischlampe brannte. Er hatte gerade erst seinen Artikel nach London durchgegeben und im Anschluss wieder versucht, den Verleger zu erreichen. Es sei sehr dringend, sagte er dessen Privatsekretär. Doch offenbar war die Sache für den Lord längst erledigt. Aus Ärger schüttete er den Whisky in den Papierkorb, wo sich dunkle Lachen auf dem zusammengeknüllten Manuskriptpapier bildeten.
Er überlegte, Ella anzurufen. Dann fiel sein Blick auf die Einladungskarten, die er Woche für Woche um den Fuß der Schreibtischlampe gruppierte. Botschaften luden ein, Indus-trieverbände, Parteien, Sportveranstalter oder Börsenspekulanten. Dolphin sortierte sie nach Wochentagen, und siehe da, heute hatte der Finanzmagnat Hugo von Ernst geladen.
Einen Moment lang dachte er daran, einfach bei Ella vorbeizufahren und sie zu überraschen, doch sie würde sowieso ablehnen. Festivitäten dieser Extravaganz, das wusste er, kamen auf keinen Fall infrage. Egal, was er tun würde, sie wäre verstimmt. Schließlich verschwand er im Badezimmer, wo neben der Dusche auch ein Kleiderschrank Platz fand. Nachdem er die Haare gekämmt, mit einem Hauch Pomade geglättet und aus Zeitgründen auf eine Rasur verzichtet hatte, zog er ein frisches Hemd an, band sich eine Fliege um, und nach und nach komplettierte sich das Bild mit Frack, Zylinder und Abendcape. Er verscheuchte die Gedanken an Ella und schwang den Gehstock mit dem Derby-griff. Zum Teufel mit Lord Bakerfield! Noch war er in Berlin. Dolphin tänzelte die Stufen hinab, zum berühmtesten aller Gastgeber in der Tiergartenstraße.
Als er am nächsten Morgen erwachte, war es halb elf. Er hatte den Wecker nicht gehört. War das alles tatsächlich passiert? Er suchte nach verdächtigen Spuren. Keine Scherben, keine fremden Gegenstände. Dann sah er das Taschentuch voller Blut auf dem Nachttisch liegen. Und offene Sicherheitsnadeln, die so verstreut waren, als kämpften sie mit erhobener Klinge.
Nach einer eiskalten Dusche und einem viel zu heißen Schluck Kaffee, den er fluchend in das Spülbecken spuckte, knallte er die Wohnungstür zu.
In der Knesebeckstraße suchte er eine Weile nach seinem Cabriolet. Womöglich hatte er es eine Straße weiter geparkt, und tatsächlich, es stand vor dem Milchladen. Er ging hinein und bestellte ein Glas.
So langsam beruhigte er sich. Let the past be the past, hörte er seinen verstorbenen Vater sagen, wie damals, als sie nach England gekommen waren.
Dolphin zwängte sich in seinen BMW. Als er auf die Potsdamer Straße fuhr, waren die Trottoirs voller Fußgänger, auf der Straße drängelten sich Radfahrer zwischen Lastwagen und Automobilen. Er verfluchte den Verkehr. Jetzt kam er nicht einmal mehr schrittweise voran.
Sein Kopf schmerzte. Er öffnete das Handschuhfach, fand unter den Wagenpapieren eine an den Rändern gelblich verfärbte Benzedrintablette, würgte sie hinunter, öffnete das Fenster und spürte die kalte Luft in seinem Gesicht.
Woran er sich erinnern konnte: