Loe raamatut: «Johann Albrecht von Reiswitz (1899–1962)», lehekülg 7

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Reiswitz’ Briefe geben einen guten Hinweis auf den Stand seiner damaligen Englischkenntnisse, welche nach heutigen Maßstäben wohl mit B2 beurteilt werden können. Er bat Jeanne immer wieder, seine Fehler zu korrigieren und die Korrekturen ihm zu übersenden. Jeanne kam dieser Bitte oft auch nach. Da zeitgleich die Beziehung zu Vida Davidović bestand, ist vielleicht nicht ganz von der Hand zu weisen, dass Reiswitz’ Korrespondenz mit Jeanne Doe nicht ohne eigennützige Hintergedanken war.

In Oxford lernte Reiswitz noch eine weitere junge Dame kennen, über die nur wenig bekannt ist. Ihr Name ist Helen Yee bzw. Yii. Dass sie ebenfalls eine romantische Beziehung zu Reiswitz unterhielt, geht daraus hervor, dass sie ihn bat, ihre Briefe an ihn zu verbrennen: „I have decided that we should never [dreimal unterstrichen] meet again. I am not staying at Paris at all. It is dangerous and it will mean a lot of harm to both of us.“220 Es war aber dennoch Helen Yee, welche Reiswitz das Hotel de Familles in Paris empfahl, welches er im Oktober 1925 mit Vida Davidović belegte.221

In Paris hielt sich Reiswitz im September und Oktober 1925 auf, ebenfalls, um seine Sprachkenntnisse zu erweitern. Seiner „landlady“ diente er dabei gelegentlich als kulturdiplomatischer Vermittler: „It is very comical how many times I am asked to arrange German-English-French differences and difficulties. There was yesterday an [sic] German who ‚has taken a lady with up stairs’; ‚certainly a German old-officer’; she was so excited (my landlady). She has asked me to arrange; and to tell the ‚German’ that it is not allowed in her house to bringe strange ‚ladies’ from the street. I have spoken to the ‚German’ but – the German was nothing less than a German but an Austrian-Jew, a dreadful durty [sic] Austrian Jew. I was so glad to percieve [sic] it and after I have said to my landlady: that never a German would do ‚such things’. Now she loves me.“222 Ganz aufrichtig war Reiswitz hier wohl nicht gegenüber Jeanne Doe, da er selbst ja ebenfalls eine Dame „upstairs“ brachte – Vida Davidović.

Im Jahre 1925, als Reiswitz sowohl zu Vida Davidović, Jeanne Doe, Helen Yee, Paula Fresenius und Sabine Lepisus romantische Beziehungen unterhielt, lernte er auch seine Ehefrau kennen. Erna Bocks (1906–1988) war die Tochter des Fabrikanten Rudolf Bocks (1875–1942), der in München-Pasing wohnte und die „Peco-Schweißmaschinenfabrik“ betrieb.223 Ihre Mutter, Ella Leitz (1876–1965), war die Tochter des Gründers der Wetzlarer Leitz-Werke. 224 Die Hochzeit von Johann Albrecht von Reiswitz und Erna Bocks fand am 28.08.1926 statt. Die anschließende Hochzeitsreise führte die beiden in die Schweiz. Am 08.09.26 begann Reiswitz nach längerer Pause wieder mit der Tagebuchführung, im Schlafzimmer der Ferienvilla in Vico Morcote am offenen Fenster sitzend, zum Luganer See hinausschauend: „Ja, ich bin also verheiratet. Und meine Frau heißt Erna, geb. Bocks-Leitz. Eben wacht das Böckschen auf und macht große, runde, schwarze Pechschusterkugelaugen.“225 Am 12.09.26 war er wieder in Berlin.

Das Interesse von Reiswitz am Balkan war von Beginn an sowohl ein wissenschaftliches, als auch ein sehr persönliches. Zentral war dabei seine Liebesbeziehung zu Vida Davidović. Nachdem Reiswitz sie in Dubrovnik kennengelernt hatte, arbeitete er zielstrebig, aber letzten Endes erfolglos daran, Diplomat zu werden, wobei im Vorbereitungsprozess die Erweiterung seiner Sprachkenntnisse im Vordergrund standen. Wenn also nicht über das Auswärtige Amt – wie sonst konnte er seine berufliche Zukunft auf den Balkan abstellen?

2. Auf dem Weg in die Südosteuropaforschung
2.1. Der Autodidakt

Reiswitz’ Angaben im Briefentwurf an den Historiker und Russlandexperten Otto Hoetzsch (1876–1946) vom 10.01.34 zufolge, welcher zu diesem Zeitpunkt als außerordentlicher Professor für Osteuropäische Geschichte in Berlin lehrte, begann zwei Jahre nach seiner ersten Jugoslawienreise sein vornehmlich autodidaktisch betriebenes Zweitstudium: „Oktober 1926 bis März 1928 erarbeitete ich mir die wissenschaftlichen Grundlagen meines Studiums der Geschichte des so widerspruchsvollen Donauraumes und der Balkan-Halbinsel“. Der Anlass für Reiswitz’ Schreiben an Hoetzsch stand wohl im Zusammenhang mit dem Abschluss seiner Habilitationsschrift über die preußisch-serbischen Beziehungen 1867 bis 1871, für die er am 16.07.34 einen Druckkostenzuschuss von der Notgemeinschaft der deutschen Wissenschaft, der Vorgängerorganisation der Deutschen Forschungsgemeinschaft, beantragen sollte.226 Der zuständige Fachausschussvorsitzende der Notgemeinschaft, Professor Albert Brackmann (1871–1952)227 hatte Hoetzsch gebeten, ein Gutachten im Zusammenhang mit Reiswitz’ Antrag anzufertigen. Hoetzschs Antwortschreiben auf diese Bitte hin bestätigte Reiswitz’ autodidaktische Vorgehensweise: „Herr v. Reiswitz hat … jahrelang diese Arbeit durchgeführt, die er aus eigener Initiative begonnen und angelegt hatte. Da er mein Seminar besucht hatte, kannte er mich und hat mich in gelegentlichen Besuchen über die Arbeit und ihren Fortgang orientiert, ohne dass damit ein Verhältnis wie zwischen Lehrer und Schüler vorhanden gewesen wäre.“228 Wahrscheinlich war es für Reiswitz nicht nachteilig, dass Hoetzsch ihn nicht als seinen Schüler ansah, da es nach der Zwangsemeritierung von Hoetzsch am 14.05.35 „für die Schüler und Mitarbeiter in seinem Umkreis keine Arbeits-, bald auch keine Lebensmöglichkeit mehr gab“229. Hoetzschs Zwangsemeritierung erfolgte nach § 5 des sogenannten Gesetzes zur Wiederherstellung des Berufsbeamtentums, wonach „zur Vereinfachung der Verwaltung Beamte in den Ruhestand versetzt werden können.“230 Die neuen Machthaber warfen ihm vor, dass er dem „deutschen Salonbolschewismus, Kulturbolschewismus und Nationalbolschewismus … Tür und Tor geöffnet“231 habe. Ganz abgebrochen hat Reiswitz den Kontakt zu Hoetzsch in der Folgezeit nicht. Noch am 03.04.41 besuchte er Hoetzsch in Berlin und schrieb darüber am selben Tag, dass Hoetzsch nicht an „den Russlandkrieg glaubt, von dem hier jeder kleinste Mann etwas wissen will. Hoffentlich hat er Recht.“232 Hier irrte Hoetzsch. Am 22.06.1941 griff Hitler die Sowjetunion an.

Welche „wissenschaftlichen Grundlagen“ aber eignete sich Reiswitz an? Seiner Monatsübersicht zufolge verbrachte Reiswitz gut die Hälfte die Zeit seines Selbststudiums in Berlin, fünf Monate in Lugano, zwei in München und den Rest der Zeit in St. Anton, Genua und im Engadin. Einen hilfreichen Einblick in diese achtzehn Monate gewährt die Korrespondenz Reiswitz’ mit Hermann Wendel aus dem Nachlass, welche 21 Briefe umfasst, zehn von Reiswitz an Wendel und 11 in umgekehrter Richtung. Sie umfasst den Zeitraum vom 04.02.27 bis zum 22.03.1930. Am 24.08.27 bedankte sich Reiswitz für „Ihren Dragutin Dimitrijewitsch“, der ihn „sehr interessiert“ habe. Mit „Dragutin Dimitrijevitsch“ ist Apis gemeint, der umstrittene serbische Offizier, welcher mit der Ermordung des österreichischen Thronfolgers, des Erzherzogs Franz Ferdinand, am 18.06.14 in Sarajevo in Verbindung gebracht wird. Es ist allerdings nicht klar, welchen Text genau Reiswitz hier meinte, da Wendel bis zu diesem Zeitpunkt mehrere Bücher veröffentlicht hatte, die diese Thematik berührten. Es könnte sich um „Das Attentat von Sarajevo. Eine historisch-kritische Untersuchung von Hermann Wendel“, erschienen 1925, handeln oder aber auch um „Die Habsburger und die Südslawenfrage“ aus dem Jahre 1924. Die letztere Schrift ist das Sachverständigengutachten Wendels, das er am 11. und 12.05.1923 vor dem parlamentarischen Untersuchungsausschuss des deutschen Reichstages zur Erforschung der Kriegsursachen ablieferte. Das nur knapp 130 Seiten umfassende Buch erschien im Verlag von Geza Kohn [Geca Kon] in Belgrad und Leipzig. Das ein Jahr später erschienene Werk über das Sarajevo-Attentat ist nur 21 Seiten stark und stellt einen Sonderabdruck von vier Artikeln Wendels in der in Leipzig erscheinenden sozialdemokratischen Tageszeitung „Volkstimme“ dar.233

Als dritte Möglichkeit bietet sich noch an, dass mit dem „Dragutin Dimitrijewitsch“ Wendels 66-seitige Übersetzung des Bändchens „Die Ermordung des Erzherzogs Franz Ferdinand: ein Beitrag zur Entstehungsgeschichte des Weltkriegs“ des serbischen Historikers Stanoje Stanojević (1874–1937) gemeint war, welches 1923 in Frankfurt erschienen war.234 Das Interesse an Apis sollte während Reiswitz’ Kunstschutzzeit in Belgrad wieder virulent werden, als deutscherseits alles daran gesetzt wurde, die Akten des sogenanntenn Saloniki-Prozesses aufzuspüren und auszuwerten, in welchem Apis 1917 durch ein serbisches Militärgericht zum Tode verurteilt worden war wegen seiner Einbindung in ein Mordkomplott gegen den späteren König Aleksandar Karađorđević.235

Im selben Brief vom 24.08.27 teilte Reiswitz mit, dass er seine Jugoslawienreise für dieses Jahr zu seiner „großen Trauer“ ausfallen lassen musste, da er „nicht mehr genug Geld übrig habe.“ Er wollte aber „mit 90% Gewissheit“ von April bis Oktober 1928 „nach dem Balkan gehen“. Darüber hinaus ersuchte er Wendel um dessen Rat hinsichtlich der geplanten Fahrt. Am 25.08.27 lud Wendel Reiswitz zu sich nach Frankfurt ein, er möge ihn nur drei Tage vor Ankunft informieren. Zu dieser ersten persönlichen Zusammenkunft sollte es dann im Oktober 1927 in Frankfurt kommen.

In seinem Brief vom 08.12.27 sprach Reiswitz zum ersten Mal zwei Themen an, welche ihm in den Folgejahren keine Ruhe lassen sollten: Zum einen sind dies die Bogumilen, zum anderen die preußisch-serbischen Beziehungen in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Er suchte nach einem geeigneten Stoff für seine Habilitation und vertraute Wendel an, dass „das Thema der bosnischen Bogumilen mich sehr lockt“ und bat ihn darum, die ihm bei dem Treffen in Frankfurt in Aussicht gestellten Quellenhinweise zu schicken. Gleichzeitig aber wollte Reiswitz, dass Wendel ihm nochmal das „andere Thema“ nannte, welches er ihm in Frankfurt gegenüber empfohlen hatte, das sich „auf diplomatische Akten“ beziehe. Er gab zu, dass es ihm „entfallen“ sei.

Es steht vom Kontext her außer Frage, um welche „Akten“ es sich hier handelte. Wendel hatte 1927 seine Monographie „Bismarck und Serbien im Jahre 1866. Auf Grund der Akten des Auswärtigen Amts zu Berlin, des Haus- Hof- und Staatsarchivs zu Wien und des Serbischen Staatsarchivs zu Belgrad“ herausgebracht, welches eine gemischte Aufnahme in der Kritik fand. Wendels Mikrostudie belegte, dass Bismarck kurzzeitig den Gedanken erwog, in der drohenden Auseinandersetzung mit den Österreichern diesen nicht nur – so Wendel – „mit einem ungarischen Feuerchen einzuheizen“236, sondern auch Serbien auf die preußische Seite zu ziehen. Letztlich kam dieser Destabilisierungsplan aber nicht zustande. Während R.W. Seton-Watson das Buch als „admirable little monograph“ und „valuable footnote to his [Wendel] studies of Jugoslav history“237 lobte, nahm Erdmann Hanisch (1876–1953), seit 1927 Professor für Slawistik in Breslau, Anstoß daran, dass Wendel Bismarck als „Revolutionär“ bezeichnete. Für Hanisch „leuchtet … auch hier … die Tendenz“ – gemeint ist wohl auch Wendels Zugehörigkeit zum sozialdemokratischen Lager – des Verfassers durch, den er etwas geringschätzig als „bekannten serbophilen Schriftsteller“ abtat. Lob gebührte allerdings laut Hanisch Wendel dafür, dass er die von ihm untersuchten Archivalien beilegte, die serbischen davon sogar im Original und in Übersetzung.238 Die Quellenbeigabe macht in der Tat rund die Hälfte des 134-Seiten-Bandes aus. Wendel bedankte sich im Vorwort ausdrücklich für den ihm gewährten Archivzugang. Er hob dabei Slobodan Jovanović (1869–1958) hervor, „Professor an der Belgrader Universität, der sich um die Beschaffung der Schriftstücke aus dem Serbischen Staatsarchiv verdient machte und aus seiner tiefgründigen Kenntnis jenes Geschichtsabschnitts manches Licht aufsetzen half.“239 Es sollte nicht lange dauern, bevor auch Reiswitz Grund haben würde, in Jovanovićs Schuld zu stehen im Zusammenhang mit der Zugänglichmachung von Akten.

Reiswitz’ eigene 1936 erschienene Studie „Belgrad – Berlin. Berlin – Belgrad 1866–1871“ sollte in vieler Hinsicht die Fortsetzung der Arbeit Wendels über Bismarck und Serben werden. Noch war bei Reiswitz der Entschluss dazu, die preußisch-serbischen Beziehungen nach 1866 bis zur Reichsgründung hin zu untersuchen, nicht ganz ausgereift, aber am 06.03.28 erwähnte er schon Wendel gegenüber, dass Professor Hoetzsch ihm zu „Milan u. serbischen Akten“ rate. Gemeint ist Milan Obrenović, welcher als Fürst und später König von Serbien ab 1868 herrschte.

Reiswitz äußerte am Ende des Briefes vom 08.12.27 den Wunsch, Wendel bald wieder in Frankfurt zu besuchen, wo es das letzte Mal „sehr gemütlich“ gewesen sei. Es sollte sich herausstellen, dass das gemütliche Beisammensein im Oktober 1927 viel größere Tragweite haben sollte als vielleicht angenommen. Denn auch das zweite Thema, dessen sich Reiswitz in den Folgejahren annehmen sollte, tritt zu Tage in jenem Brief, die Bogumilenfrage.

Bei den Bogumien handelt es sich um eine im 10. Jahrhundert entstandene, ursprünglich aus Bulgarien stammende, dualistische Glaubensrichtung: „Gott herrsche über die himmlische Sphäre“, so predigte der Priester Bogumil, „wohingegen Satan der Schöpfer alles Irdischen und somit auch des Menschen sei.“240

Dieses Thema muss in der Tat lockend gewesen sein, da „die jugoslawische Geschichtswissenschaft … kaum ein Problem kennt, das in fast allen seinen Aspekten derart konträr beurteilt wird“241. Es wird für Reiswitz im Jahre 1927 so gut wie unmöglich gewesen sein, sich dem Thema ohne Kenntnisse des Serbokroatischen wissenschaftlich zu nähern. Die Kontroverse nahm ihren Ausgang damit, dass der kroatische Theologe, Historiker und später auch Politiker Franjo Rački (1828 oder 1829–1894) im Jahre 1870 die auf jahrelanger Archivrecherche in Rom aufbauende These vorlegte, dass die Bogumilen weder dem katholischen noch dem orthodoxen Kirchenkreis zuzuordnen, sondern Anhänger einer aus Bulgarien stammenden, dualistischen und aus Sicht der beiden genannten christlichen Kirchen häretischen Glaubenslehre seien.242 Diese Interpretation gefiel besonders muslimischen Bosniern, die so ihre vorislamische Geschichte aus einem nicht-christlichen Kern herzuleiten vermochten.243

Damit widersprach Rački den Thesen von Božidar Petranović (1809–1874), welche dieser promovierte Anwalt aus Zadar und Mitherausgeber mehrerer Zeitschriften im Jahre 1867 veröffentlichte.244 Er stützte seine Arbeit, anders als Rački, nicht auf lateinische Quellen päpstlicher Provenienz, sondern auf lokale Überlieferung des Balkans und schlussfolgerte, dass der bosnischen Kirche nichts Häretisches anhafte, sondern das sie schlicht eine regionale Spielart der serbisch-orthodoxen Kirche sei. Die eigentlichen Bogumilen seien nur eine kleine Gruppe von Häretikern aus dem Ausland gewesen, die sich nur kurz und in geringer Zahl in bosnischen Klöstern aufhielten. Diese Sichtweise wiederum fand großen Anklang bei serbischen Intellektuellen.

Weder die Werke dieser beiden Hauptkontrahenten waren ins Deutsche übersetzt worden, noch die ihrer jeweiligen Epigonen, die bis zu diesem Zeitpunkt, vornehmlich in südslawischen Zeitschriften, erschienen waren. Unklar ist, woher Wendels Interesse an den Bogumilen rührte, da sie in seiner Reiseliteratur bis 1927 keinen Niederschlag gefunden haben.

Dennoch erinnerte ihn am 09.01.28 Reiswitz brieflich daran, ihm „jene Bogumilenliteraturangabe“ zukommen zu lassen. Am 06.03.28 dann ließ Reiswitz Wendel wissen, dass die Bogumilen „für eine Habilitations-Arbeit ausgeschaltet worden“ seien. Das Thema zog ihn allerdings weiterhin in seinen Bann. In einem Brief vom 25.07.29 an seine Frau beschrieb Reiswitz ein Abendessen bei dem Historiker und Orientalisten Franz Babinger (1891–1967)245, welcher zu dieser Zeit an der Friedrich-Wilhelms-Universität in Berlin lehrte. Dort lernte er einen „netten ganz verdrehten eingetrockneten schiefen schielenden bemähnten krummen lustigen und total vom Wissen zerfressenen Professor aus Athen“ kennen, bei dem es sich um Nikos Athanasiou Bees handelte. Bees sei „Spezialist für griechisch-slawische Kulturbeziehungen246. Infolgedessen kennt er eine Unmenge unbekannte Literatur über die Bogumilen.“

An verschiedenen Stellen im Nachlass ist erwähnt, dass Reiswitz sich mit der Zusammenstellung von Material über die Bogumilen, vornehmlich in Form einer Bibliographie, befasste, so in dem Brief an den namentlich nicht spezifizierten „Legationsrat“ im Auswärtigen Amt vom 17.06.34: „Seit 1929 stelle ich eine kritisch-systematische Sammlung aller erreichbarer Quellen über das Problem des Bogumilismus und seiner Auswirkungen auf West- und Mitteleuropa zusammen.“

In seinem Briefentwurf an Otto Hoetzsch vom 10.01.34 widmete sich Reiswitz ausführlich dieser Thematik: „Im Vordergrund steht für mich die soziale Bedeutung dieser Bewegung. Erst durch eine planmäßige Erforschung des Bogumilismus nicht nur in seiner schwer zu fassenden Dogmatik, sondern auch in seiner sozialen Auswirkung erscheint mir die mittelalterliche Geschichte der Balkanvölker verständlich. Die unendlich schwierigen sprachlichen Voraussetzungen und die ungemein verzweigten geistesgeschichtlichen Kenntnisse, die hierzu Voraussetzung sind, haben mich bewogen, zunächst nur alles erreichbare Material zu sammeln, während ich mir inzwischen jene Voraussetzungen anzueignen versuche. In etwa zwei Jahren glaube ich in der Lage zu sein, meine erste Veröffentlichung über die soziale Rolle des Bogumilismus in Bosnien um die Mitte des 15. Jahrhunderts herausgeben zu lassen.“

Zu dieser Publikation ist es allerdings nie gekommen. Reiswitz wäre mit einer derartigen Studie sicherlich seiner Zeit voraus gewesen, da die „soziale Rolle“ des Bogumilismus erst im sozialistischen Jugoslawien ernsthaft studiert wurde. Deutungen gingen dann soweit, die Bogumilen als eine „Klassenbewegung“ zu sehen, die „zum Vorreiter einer neuen Epoche der Bauernrevolutionen im mittelalterlichen Europa“ gerierte.247

Es ist mehr als unwahrscheinlich, dass Reiswitz eine derart marxistische Sichtweise vertrat. Möglich ist es allerdings, dass er sich zu den Bogumilen hingezogen fühlte als einer Bewegung, die aufgrund ihrer Alleinstellungsmerkmale gegenüber dem Katholizismus, der Orthodoxie und dem Islam einen transzendenten Anknüpfungspunkt bieten konnte zur Festigung einer jugoslawischen Identität. Dies wäre einer Erweiterung der Versuche des ehemalischen österreichisch-ungarischen Gouverneurs in Bosnien-Herzegowina, Benjamin Kallay (1839–1903) gleichgekommen, welcher die Bogumilen zur Schaffung einer „überkonfessionell konzipierten bosnischen Nation“248 instrumentalisieren wollte.249

Reiswitz’ Bogumileninteresse wies allerdings noch eine weitere Komponente auf. Neun Jahre nach dem Hoetzsch-Brief, in einer Kunstschutz-Aktennotiz vom 20.07.43, legte Reiswitz dar, dass er sich schon seit 1924 mit dem Bogumilismus befasse. In dieser Aktennotiz strich Reiswitz eine vermeintliche Verbindung zwischen Bogumilen und Goten heraus: „Ein Zusammenhang zwischen der Sekte der Bogumilen und der gotischen Besiedlung besteht insofern, als die Religion der Bogumilen überall dort auftauchte, wo einmal gotische Besiedlung stattgefunden hat. Diese Verbindung besteht aber auch schon in prähistorischer Zeit, sodass das Auftauchen gleicher Motive bei den Goten und auf den Bogumilengrabsteinen nur ein Glied in der Kette der Verbindungen zwischen Schweden und der Sar [Šar] Planina darstellt.“ Offenbar war während des Zweiten Weltkriegs das SS-Ahnenerbe und die Division „Prinz Eugen“ an einer Erforschung der Beziehungen von Goten und Bogumilen interessiert.250

Auch wird es kein Zufall sein, dass Reiswitz’ engste Mitarbeiterin – und Geliebte – in Belgrad während des Zweiten Weltkriegs, Sabine Lauterbach (geb. 1919), ihre Dissertation über einen Teilaspekt des Bogumilismus bzw. der „Bosnischen Kirche“ schrieb.251 Lauterbach unternahm im ersten Teil der Dissertation eine sprachliche Analyse des 1446 erstmalig niedergeschriebenen Testaments, welches ein seltenes Beispiel eines bogumilischen Selbstzeugnisses ist. Wiederentdeckt worden war der Text von Ćiro Truhelka (1865–1962) im Archiv von Dubrovnik. Im zweiten Teil der Arbeit analysierte Lauterbach die Rolle der Bogumilen auf dem Balkan und die sogenannte „Bosnische Kirche“, die sie als Ausprägung des Bogumilismus einordnete und in ihr den „spiritus agens“252 der bosnischen Staatsbildung im Mittelalter sah. Für Lauterbach stellte die „Bosnische Kirche“ eine eigenständige Häresie dar, und keine lokale Spielart etwa des Katholizismus oder der Orthodoxie.

Am 01.07.44 gratulierte Reiswitz ihr brieflich zum am 28.06.44 mit magna cum laude bestandenen Examen.253 Sein eigener Beitrag zur Recherche von Lauterbach ist indirekt ablesbar an einer Bemerkung, die Reiswitz in einem Brief an Elisabeth Heckelmann („Hindukind“) aus dem Juli 1944 fallen ließ, als er mit Blick auf Lauterbachs bestandene mündliche Prüfung von „ihrem-meinem Doktor“ sprach.254 Auch seiner Frau hatte er über Lauterbachs Vorankommen berichtet, wie zum Beispiel am 20.03.43: „Sabinchen arbeitet fleißig an Dissertation.“ Reiswitz unterstützte sie dabei, wo er konnte. Am 13.06.43 teilte er brieflich dem Direktor des Deutschen Wissenschaftlichen Instituts (DWI) in Belgrad, Alois Schmaus (1901–1970), mit, dass Lauterbach weiter die Bibliothek des DWI benutzen dürfen soll.255 Kurioserweise war es dann Schmaus, der Reiswitz’ Projekt einer Bogumilenbiographie in die Tat umsetzten sollte, allerdings erst nach dem Zweiten Weltkrieg. Ob Reiswitz’ Vorarbeiten Schmaus vonnutzen waren, ist unklar. Dessen Dank gilt lediglich den Historikern Franz Babinger und Franz Dölger (1891–1961).256 Auch eine Monographie über die Bogumilen schrieb Reiswitz nicht. Hier liefen ihm zwei englischsprachige Historiker den Rang ab – sowohl der russische Emigrant Dmitri Obolensky (1918–2001) als auch der für seine „History of the Crusades“ bekannt gewordene Steven Runciman (1903–2000) legen kurz nach dem Krieg Monographien über die Bogumilen vor.257

In der oben erwähnten Kunstschutz-Aktennotiz vom 20.07.44 sah Reiswitz die Bogumilen als „ein Glied in der Kette der Verbindungen zwischen Schweden und der Šar Planina“.258 Hier ist – neben den Bogumilen und der Geschichte der preußischserbischen Beziehungen – eindeutig Reiswitz’ drittes auf den Balkan bezogenes Interessensgebiet erkennbar, die Archäologie. Sein ganz konkretes Engagement dafür sollte sich erst im Laufe des mehrmonatigen Jugoslawienaufenthaltes von April bis Dezember 1928 herausbilden. Doch bereits kurz vor Antritt der Fahrt weisen die in seinem Brief an Wendel vom 06.03.28 verwendeten Metaphern auf sein zukünftiges Hauptinteressensfeld hin. Im Hinblick auf die – aus Reiswitz’ Sicht bedauerliche – Ausrichtung deutschen wissenschaftlichen Interesses am ehemaligen Weltkriegsverbündeten Bulgarien, dessen territoriale Ansprüche auf Mazedonien die deutsche hohe Politik unterstütze, beklagte er, dass „in der reinen Wissenschaft [in Deutschland] nach wie vor noch die kühle Luft der Eiszeit“ herrsche und, dass aus „paläolithischen Gründen“ die Bulgaren weiterhin unsere „alten Verbündeten“ seien.

Im selben Brief zog Reiswitz eine Zwischenbilanz seines bisherigen Selbststudiums. Den Winter 1926/27 habe er „Ungarische, Rumänische, Bulgarische, Griechische, Kroatische, Bosnische, Albanische und Venezianische Geschichte … bis ins Einzelne sehr ausführlich durchgearbeitet, denn es fehlte mir noch jede gründliche Fundamentierung.“ Lediglich die serbische Sprache beherrsche er noch nicht ausreichend. Abhilfe sollte der Aufenthalt in situ schaffen: „Ich will möglichst 6 Monate in Südslawien sein u. nicht eher fortgehen, als bis ich serbisch lesen und möglichst auch sprechen kann“.

Eineinhalb Jahre später hatte er sein Ziel erreicht. In einem „Politika“ Artikel über seinen Aufenthalt in Belgrad heißt es unter der Überschrift „Reise des deutschen Wissenschaftlers“: „Baron Dr. Reiswitz [im Original: „Рајслиц“], ein junger deutscher Wissenschaftler, der sich mit der Erforschung der jugoslawischen Geschichte befasst, hält sich einige Tage in Belgrad auf. Er hat einige Male mit seiner Gattin unser Land bereist und unsere Sprache erlernt“. Wie aus einem Brief an seine Frau vom 15.09.29 hervorgeht, wurde der in Druckform nicht signierte Beitrag von dem Journalisten und späteren Schriftsteller und Diplomaten Milan Jovanović Stojimirović verfasst (1898–1968) und erschien auch wortgleich am selben Tag in der Tageszeitung „Vreme“. Jovanović Stojimirović sollte 1941 mit Reiswitz’ Hilfe zum Direktor des serbischen Staatsarchivs ernannt werden.

Seinen Artikel setzte Jovanović Stojimirović wie folgt fort: „Im Moment erforscht er die bogumilische Bewegung in unserer Geschichte. Er hat einen Teil von Jovan Cvijićs ‚Péninsule` Balkanique‘ ins Deutsche übersetzt. Er bewirbt sich für einen Lehrauftrag an der Universität Berlin. Baron Dr. Reiswitz [Рајслиц] reist nun ab, um wissenschaftliche Untersuchungen im Süden Serbiens [Mazedonien] durchzuführen.“259

Kaum zwei Jahre nach seinem Entschluss, sich voll und ganz der Balkangeschichte zuzuwenden, schien seine Mission insofern von Erfolg gekrönt zu sein, als dass sein Aufenthalt in Belgrad zwei der wichtigsten Presseorgane zumindest eine vierzehnzeilige Notiz wert war. Wie war ihm dies im „Selbststudium“ so schnell gelungen?