Verhüllung

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Verhüllung

Der Verlag Hier und Jetzt wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

Mit weiteren Beiträgen haben das Buchprojekt unterstützt:

Gerhard E. Schmid


Dieses Buch ist nach den aktuellen Rechtschreibregeln verfasst. Quellenzitate werden jedoch in originaler Schreibweise wiedergegeben. Hinzufügungen sind in [eckigen Klammern] eingeschlossen, Auslassungen mit […] gekennzeichnet.

Lektorat: Rachel Camina, Hier und Jetzt Gestaltung: Simone Farner, Naima Schalcher,

Zürich

Satz und Bildbearbeitung: Benjamin Roffler,

Hier und Jetzt

Druck und Bindung: CPI books GmbH, Ulm

ISBN Druckausgabe 978-3-03919-530-5

ISBN E-Book 978-3-03919-976-1

E-Book-Herstellung und Auslieferung:

Brockhaus Commission, Kornwestheim

www.brocom.de

© 2020 Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, Schweiz

www.hierundjetzt.ch


«Wenn man mit ihnen gesprochen hat,

merken die meisten Leute: Da drunter [unter dem Nikab]

ist einfach ein ganz normaler Mensch,

dann fällt dieser Schleier des Befremdens.»

Aus dem Gespräch mit einer Nikab-Trägerin

Inhalt

Einleitung

Kurze Geschichte des Gesichtsschleiers

Bedeckung in antiken Kulturen

Christliche Aneignung

Islamische Aneignung

Verengung in der Moderne

Forschungsstand

Munaqqabāt in Westeuropa

Europäische Debatten zur Vollverhüllung

Forschung zur Schweiz

Die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz

Wie viele Nikab-Trägerinnen gibt es in der Schweiz?

Stimmen von Nikab-Trägerinnen

Auskünfte einer munaqqaba

Haltungen zur Vollverhüllung und zur Volksinitiative

Die politische Debatte um ein Verhüllungsverbot in der Schweiz

Der Vorbote: Die Interpellation Darbellay 2006

Die erste Kampagne: Die Minarettverbots-Initiative

Parlamentarische Vorstösse

Gescheiterte Versuche und partielle Verbote

Volksabstimmung zum Ersten: Tessin

Volksabstimmung zum Zweiten: Glarus

Volksabstimmung zum Dritten: St. Gallen

Die eidgenössische Volksinitiative

Zwischenbilanz

Der Mediendiskurs um Vollverhüllung

Untersuchungsgegenstand

Materialgrundlage

Strukturanalyse

Feinanalyse typischer Diskursfragmente

Übergreifende Analyse

Die jüngsten Entwicklungen

Fazit und Ausblick

Anhang

Einleitung

Die Schweiz – und die übrige Welt – staunte nicht schlecht, als am Nachmittag des 29. November 2009 feststand: Die Schweizer Verfassung wird in Artikel 72 um ein Verbot ergänzt, Minarette zu bauen. Eine Mehrheit von 57,5 Prozent der Stimmenden hatte es so gewollt, entgegen der Empfehlung von Bundesrat, Parlament und einer breiten Front von Parteien, Verbänden, Religionsgemeinschaften und zivilgesellschaftlichen Organisationen.

Vorausgegangen waren allerdings bereits dreissig Jahre, in denen westliche Öffentlichkeiten mit wechselnder Staffage über «den Islam» debattierten. Markante Punkte in dieser Geschichte waren die Islamische Revolution in Iran 1978/79, die Proteste muslimischer Akteure gegen den Roman «Die satanischen Verse» des britischen Schriftstellers Salman Rushdie 1989, die Terroranschläge vom 11. September 2001 in den USA sowie 2004 in Madrid und 2005 in London, und 2006 die Kontroverse um die in Dänemark publizierten Karikaturen über den Propheten Muhammad. Das Schweizer Minarettverbot ist Teil dieser Reihe und keineswegs ihr Schlusspunkt. Zahlreiche Aspekte dieser Abfolge von Debatten mit Bezug zum Islam waren schon Gegenstand wissenschaftlicher Forschung.1

Auch das Kopftuch muslimischer Schülerinnen in staatlichen Schulen sorgte für Diskussionen, die in Frankreich 2004 zu einem Verbot und andernorts zu Gerichtsentscheiden führten. Im Anschluss daran diskutierte die Öffentlichkeit in mehreren europäischen Ländern, ob muslimischen Frauen das Tragen des Gesichtsschleiers verboten werden soll.

Da auch in der Schweiz politische Akteure schon bald nach der Minarettabstimmung immer wieder die Idee eines «Burka-Verbots» ins Spiel brachten, kündigte sich ein weiterer Akt der nationalen «Islam-Debatte» an. Dieser versprach wissenschaftlich ebenso interessant zu werden wie die Minarettdebatte: Was würde gleich, was anders ablaufen? Welche Kontextfaktoren hatten sich seit damals verändert? Wie würden sie sich diesmal auf die Debatte und das Ergebnis einer Volksabstimmung auswirken? Vor allem aber: Warum hatte «die Schweiz» mit dem Minarettverbot nicht genug?

Fragen dieser Art standen am Beginn einer Lehrveranstaltung im Frühjahrssemester 2020. Damals stand bereits fest, dass spätestens 2021 über die eidgenössische Volksinitiative «Ja zum Verhüllungsverbot» abgestimmt werden würde. Medien und Politik hatten das Thema seit 2009 immer wieder öffentlich diskutiert, nicht zuletzt anlässlich von Volksabstimmungen in drei Kantonen. Genügend Stoff für Untersuchungen war also vorhanden. Zugleich bestand die Möglichkeit, Ergebnisse dieser Untersuchungen an ein interessiertes Publikum zurückzuspielen.

Fragen zur Verhüllungsdebatte lassen sich von verschiedener Seite her angehen. Unternommen hat dies bisher vor allem die Politikwissenschaft (siehe Kapitel «Forschungsstand»). Denkbar ist auch ein Zugang aus der Sozialpsychologie oder aus der Linguistik. Unsere Studie geht von der Religions- und der Islamwissenschaft aus. Diese Disziplinen befassen sich nicht nur damit, wie Menschen eigene religiöse Vorstellungen artikulieren und leben, sondern auch, wie Religion von Dritten oder in der Öffentlichkeit verhandelt wird.

Wir beschränkten uns auf zwei Themenbereiche: Zum einen wollten wir genauer wissen, wie viele Musliminnen in der Schweiz den Gesichtsschleier tragen und was sie dazu bewegt. Den grösseren Teil der Zeit widmeten wir danach der Analyse des Diskurses zur Vollverhüllung. Wir – das sind fünf Studentinnen der Religionswissenschaft und des Studiengangs Gesellschaft und Kommunikation sowie der Dozent.

Bei einem emotional und politisch so kontroversen Thema wie im vorliegenden Fall stellt sich die Frage, wie die Verfasserinnen und der Verfasser selbst zu einem Verhüllungsverbot stehen. Wir haben diese Frage diskutiert. Es zeigte sich, dass wir unterschiedliche Argumente für besonders gewichtig oder gar ausschlaggebend halten. Unter dem Strich stehen wir dem vorgeschlagenen Verbot eher skeptisch bis ablehnend gegenüber. Dies ist eine Frage der persönlichen Bewertung, die aber im Hintergrund bleiben muss. Wir wollen darlegen, was wir mit welchem Ergebnis untersucht haben. Das Vorgehen und die Ergebnisse sollen – soweit es der Quellenschutz zulässt – nachvollziehbar und die Interpretation der Befunde plausibel sein.

 

Hier die Praxis des Gesichtsschleiers in der Schweiz, dort die «Burka-Debatte»: Es gäbe gute Gründe, jedem Thema eine eigene Publikation zu widmen. Denn jedes der beiden Phänomene kennt seine eigenen Akteure und Dynamiken. Doch die Berührungspunkte rechtfertigen es aus unserer Sicht, beides in derselben Publikation zu behandeln: Vereinzelt fragt eine Stimme in der «Burka-Debatte» nach den Motiven und der Meinung einer Frau mit Gesichtsschleier. Umgekehrt haben die «Burka-Debatte» und ein allfälliges Ja zum Verhüllungsverbot in der Volksabstimmung sehr konkrete Auswirkungen auf Frauen, die den Gesichtsschleier tragen.

Freilich können wir hier nicht alle Aspekte beider Themen umfassend beleuchten. Wir möchten die grossen Entwicklungslinien zeichnen und geben Interessierten Hinweise auf weiterführende Literatur. Einen eigenständigen neuen Forschungsbeitrag leisten wir mit unserer Recherche zur Anzahl der Frauen, die den Gesichtsschleier tragen und durch die Auswertung eines Interviews mit einer Nikab-Trägerin.

Auch eine Diskursanalyse zur Vollverhüllungsdebatte in der Schweiz hat, soweit wir sehen, noch niemand in dieser Form versucht. Dabei möchten wir betonen, dass unsere Darstellung nur eine erste Annäherung ist. Anleiten liessen wir uns dabei von Siegfried Jägers «Kritischer Diskursanalyse».2 Sie schien uns für unsere Zwecke dank ihrer konkreten Vorschläge geeignet, die aber auch Jäger immer nur als Vorschläge verstanden wissen möchte.

Unvergesslich wird uns die Beschäftigung mit dem Thema nicht zuletzt deshalb bleiben, weil während der ersten Monate die Coronavirus-Pandemie begann. Dass wir uns ab Mitte März nur noch per Videokonferenz austauschen konnten, war dabei für den Arbeitsinhalt weniger einschneidend als andere Auswirkungen: Immer häufiger waren Gesichter im öffentlichen Raum nicht mehr ganz zu sehen, sondern zur Hälfte mit Hygienemasken bedeckt. Auf Geheiss des Bundesrates vermieden die Menschen bei Begrüssungen den Handschlag und gingen auch sonst auf Distanz. In den Medien war kaum mehr ein Beitrag ohne das Wort «Corona» zu finden. Da sich abzeichnete, dass all dies länger dauern und tief in den Alltag aller eingreifen würde, fragten wir uns bald, inwiefern es sich auf den Diskurs über Frauen mit Gesichtsschleier und den Vorschlag zu dessen Verbot auswirken würde.

Eine ähnliche Frage warf Ende März der Tod Nora Illis auf, der einzigen Schweizer Nikab-Trägerin, die bis dahin öffentlich über ihre Praxis Auskunft gegeben und sich politisch geäussert hatte. Dass dies die Dinge verändern würde, war klar – aber wie?

Wir entschieden uns, die beiden Fragen im Sinn eines Ausblicks zum Thema zu machen und sie bis kurz vor der Publikation zu aktualisieren. Die eigentliche Diskursanalyse widmet sich zwar explizit nur dem Diskurs bis unmittelbar vor der Coronakrise, wird aber durch die eben genannten Ereignisse nicht wertlos. Die Diskursforschung weiss, dass Diskurse sich zwar dauernd verändern, aber nicht einfach abbrechen. So ist anzunehmen, dass auch der Diskurs zur Vollverhüllung seit der Coronakrise weiterhin an Mustern und Motiven anknüpft, die wir hier erörtern, wenn auch in gewandelter Form.

Kennzeichnend für die Burka- beziehungsweise Verhüllungsdebatte ist eine gewisse Unsicherheit im Sprachgebrauch. Bezogen auf das eigentliche Kleidungsstück sprechen wir in dieser Studie hauptsächlich vom Nikab (arab. niqāb) oder vom Gesichtsschleier. Diese Form der weitgehenden Gesichtsbedeckung aus religiösen Gründen ist in der Schweiz als einzige anzutreffen, wenn auch nur vereinzelt. Der Nikab ist ein frei herabhängendes Stück Stoff, das um den Kopf gebunden wird und das Gesicht unterhalb der Augen bedeckt. Herkunftsgebiet dieser Kleidungspraxis sind städtische Gebiete der östlichen arabischen Welt.

Im Unterschied dazu ist die Burka (Urdu burqa) ein den ganzen Kopf und Körper bedeckender Umhang, in den für die Sicht ein Stoffgitter eingearbeitet ist. Sie ist im Wesentlichen in Afghanistan und Pakistan anzutreffen. Im Westen wurde die Burka erst mit der Medienberichterstattung über den Subkontinent allmählich ein Begriff. Zum Sinnbild unterdrückter muslimischer Frauen, die es zu befreien gelte, wurde die Burka im Zuge der US-Invasion in Afghanistan 2001.3

Obwohl inzwischen der Unterschied zwischen Nikab und Burka auch im Westen bekannt und hier, wenn überhaupt, der Nikab anzutreffen ist, bleibt die Burka in Begriffen wie «Burka-Verbot» oder «Burka-Debatte» weiterhin präsent. Musliminnen, die selbst den Nikab tragen, sprechen oft von Gesichtsschleier.

Islamische Kulturen kennen darüber hinaus eine Vielzahl von Schleierformen, die das Gesicht frei lassen und weitaus gebräuchlicher sind als der Gesichtsschleier.4 Als allgemeinster Ausdruck kann hierbei der Hijab (arab. ḥiǧāb) gelten. Während das Wort im Koran eher in der Bedeutung von «Vorhang» oder «Trennwand» vorkommt, bezeichnet es heute im Feld muslimischer Frauenbekleidung ein Kopftuch und steht dabei auch für Varianten, die eigene Bezeichnungen wie «Khimar» oder «Tschador» haben.

Das Kleidungsstück ist das eine, die Kleidungspraxis etwas anderes. Im deutschsprachigen Raum ist bald von «Verhüllung» oder «Vollverhüllung» die Rede, bald von «Verschleierung» oder «Vollverschleierung», von «Gesichtsverschleierung» oder «Vermummung», von muslimischer Seite gerne auch von «Bedeckung». Jede dieser Bezeichnungen hat ihre Unschärfen und enthält mehr oder weniger deutliche Wertungen. Der Titel der eidgenössischen Volksinitiative spricht von «Verhüllung» beziehungsweise vom «Verhüllungsverbot». Nicht zufällig widerspiegelt der vergleichsweise nüchterne Begriff die Unklarheit der Forderung, wer oder was denn nicht verhüllt sein darf. Zumindest die Begründungen des Initiativkomitees erwähnen dann und wann auch die «Vermummung» von Demonstranten mit Gewaltabsichten als Phänomen, das man ausdrücklich ebenfalls abstellen wolle. Die öffentliche Debatte freilich befasst sich dann fast ausschliesslich mit religiös motivierter muslimischer Frauenbekleidung.

Im Rahmen dieser Studie bemühen wir uns, die Begriffe möglichst genau zu verwenden und auf Wertungen zu verzichten. Dies gilt auch für die Frage der Geschlechter. Wo es um unterschiedliche Geschlechter im gängigen Sinn geht, benennen wir sie in aller Regel, sprechen also zum Beispiel von «Musliminnen und Muslimen». Ist hingegen nur von Frauen oder nur von Männern die Rede, nennen wir nur das tatsächlich behandelte Geschlecht. Ein anderer Fall sind Rollen oder Funktionen (Sprecher, Akteur usw.), insbesondere im Rahmen der Diskursanalyse. Hier verwenden wir das generische Maskulinum. Im Zusammenhang mit einer konkreten Person erhält die Funktionsbezeichnung die passende Geschlechterform.

Kurze Geschichte des Gesichtsschleiers

29. April 2011, London, Westminster Abbey: Die Hochzeit des englischen Thronfolgers Prinz William mit Catherine Middleton, bis ins kleinste Detail durchgeplant, liefert hübschen Stoff für die Geschichte des Schleiers: Die Braut trägt einen durchsichtigen Gesichtsschleier, als ihr Vater Michael Middleton sie hinter dem Dean of Westminster vor den Altar führt, wo der Bräutigam und sein jüngerer Bruder bereits warten. Während die Gemeinde das Lied «Guide Me, O Thou Great Redeemer» singt, lüftet der Brautvater den Schleier. Kaum hat der Erzbischof von Canterbury den Brautleuten das Eheversprechen abgenommen, legt der Brautvater die rechte Hand seiner Tochter in die Hand des Erzbischofs, der sie weiterreicht in die Hand des Ehemannes.5

Im geschilderten Vorgang hat der Vater als der bisher zuständige Mann mit der Hilfestellung der geistlichen Macht die Tochter dem künftig zuständigen Ehemann übergeben. In jedem Moment aber ist die Frau im Verfügungsbereich eines Mannes. Der Vorgang in der Kathedrale von Westminster aktualisiert offensichtlich eine zutiefst patriarchalische Norm. Was aber hat es dabei und in anderen Zusammenhängen mit den verschiedenen Formen des Schleiers auf sich? Dieses Kapitel skizziert die wichtigsten Zusammenhänge, soweit sie für den heutigen islamischen Gesichtsschleier von Belang sind.

Bedeckung in antiken Kulturen

Im Kulturraum vom westlichen Mittelmeer bis zum Himalaya besteht die Tradition des Schleiertragens schon seit Tausenden von Jahren. In den verschiedenen Kulturen und Epochen waren die Art der Schleier und die damit verbundene Bedeutung jedoch höchst unterschiedlich und lassen sich auf keinen gemeinsamen Nenner bringen. Schleier kommen bei Frauen wie bei Männern vor; sie bedecken bald das Gesicht oder aber nur die Haare oder sitzen lediglich als Kopfbedeckung auf dem Haupthaar; sie markieren einen sozialen Stand oder einen Zivilstand oder auch eine berufliche Rolle. Das deutsche Wort «Schleier» trägt dieser Fülle möglicher Zusammenhänge nicht Rechnung, sondern deutet lediglich an, dass von einem Stück Stoff die Rede ist, das am Kopf getragen wird oder aber einen Gegenstand abdeckt. Die folgenden Beispiele werfen hierauf einige Schlaglichter.

Die Vorstellung des Brautschleiers ist indirekt bereits im 4. Jahrtausend v. Chr. in der Kultur Sumers (heutiger südlicher Irak) belegt: Die Nacht wird in einer Quelle als «verschleierte Braut» umschrieben.6

Im Nachfolgereich Assur (ca. 1800–600 v. Chr.) galt: «Verheiratete Frauen und unverheiratete Töchter freier Bürger mussten sich in der Öffentlichkeit ebenso verschleiern wie Konkubinen, die verheiratet waren oder mit der Hauptfrau ausgingen, und verheiratete […] Frauen.» Andere Frauen hingegen, insbesondere Sklavinnen und Prostituierte, durften sich nicht verschleiern.7

Wiederholt begegnet uns der Schleier bei Gottheiten oder dann, wenn Menschen, insbesondere Priesterinnen oder Priester, dem Göttlichen begegnen. Oft findet sich etwa in der griechischen Antike die Göttin Hera, die «Göttermutter» und Gattin des höchsten Gottes Zeus, mit Schleier dargestellt. Ihr werden Schleier und andere Kleidungsstücke als sogenannte Gewandopfer dargebracht. Darstellungen der Hera mit Schleier nehmen im Lauf der Zeit ab, während die Frauen auf der Strasse immer öfter den Schleier tragen.8

Priester und Priesterinnen verschleiern sich in den Kulturen der Antike insbesondere beim Opfern. Die Priesterinnen der Isis und auch jene der Demeter trugen Schleier bei bestimmten Ritualen.9 Auch Moses, der Anführer des Volkes Israel beim Auszug aus Ägypten, verhüllt zum eigenen Schutz sein Gesicht, als er Gott begegnet (Altes Testament, Buch Exodus, Kap. 3, V. 6). Doch auch der Brautschleier taucht in der hebräischen Bibel wieder auf: Die Braut wird dem Gatten offenbar vollverhüllt zugeführt. Deshalb entdeckt Jakob zu spät, dass sein Schwiegervater Laban ihm nicht wie vereinbart die schöne Rahel, sondern deren ältere Schwester Lea zur Frau gegeben hat (Altes Testament, Buch Genesis, Kap. 29).

Schleier schützen also in den alten Kulturen die Person in kritischen Situationen oder markieren einen sozialen Status. Sie tauchen insbesondere im Zusammenhang mit dem Statuswechsel der Heirat immer wieder auf. Früh ist auch die Rede vom Schleier im übertragenen Sinn fassbar: Die Überwirklichkeit ist durch den Weltenschleier verhüllt. Mit der Nacktheit einer Person ist zugleich ihre Heiligkeit verbunden, die es deshalb zu schützen gilt.

Christliche Aneignung

Wenn die Umwelt des entstehenden Christentums den Schleier in unterschiedlichen Formen und Kontexten bereits kannte, so ist klar, dass sich auch die Anhängerinnen und Anhänger der neuen Religion früher oder später dazu positionieren mussten. Den nachhaltigsten Orientierungspunkt hierzu setzte Apostel Paulus, als er an die Gemeinde in Korinth schrieb: «4 Ein Mann, der im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn er dabei seinen Kopf bedeckt. 5 Eine Frau, die im Gottesdienst öffentlich betet oder Weisungen Gottes verkündet, entehrt sich selbst, wenn sie dabei ihren Kopf nicht bedeckt. Es ist genauso, als ob sie kahl geschoren wäre. 6 Wenn sie keine Kopfbedeckung trägt, kann sie sich gleich die Haare abschneiden lassen. Es ist doch eine Schande für eine Frau, sich die Haare abschneiden oder den Kopf kahl scheren zu lassen. Dann soll sie auch ihren Kopf verhüllen. […] 9 Der Mann wurde auch nicht für die Frau geschaffen, wohl aber die Frau für den Mann. 10 Deshalb muss die Frau ein Zeichen der Unterordnung und zugleich der Bevollmächtigung auf dem Kopf tragen. […] 14 Schon die Natur lehrt euch, dass langes Haar für den Mann eine Schande ist, 15 aber eine Ehre für die Frau. Die Frau hat langes Haar erhalten, um sich zu verhüllen. 16 Falls aber jemand mit mir darüber streiten möchte, kann ich nur eines sagen: Weder ich noch die Gemeinden Gottes kennen eine andere Sitte im Gottesdienst.»10

 

Paulus argumentiert hier für heutige Ohren recht wirr: Mal geht es um Tradition, dann um die «Natur», um Geschlechterrollen gemäss der Schöpfung. Max Küchler, Professor für Neues Testament, frühjüdische Literatur und biblische Umwelt, hat die Paulus-Passage sowie weitere frauenfeindliche Stellen des Neuen Testaments ausführlich seziert und gezeigt, dass sie für die Zuhörerschaft ihrer Entstehungszeit durchaus argumentative Überzeugungskraft besassen; diese Kraft stamme allerdings, wie er ebenfalls minutiös zeigt, «aus jener von Männern für Männer geschaffenen Exegese, in welcher selbstverständlich die Bibel zu ungunsten der Frauen ausgelegt und nacherzählt wurde».11 In dieser Tradition erstaunte es im ersten christlichen Jahrhundert niemanden, wenn Paulus anmahnt, dass Frauen sich den Kopf bedecken sollen. Gut passt hierzu im Übrigen der Umstand, dass Paulus als Jude in Tarsus (heutige Südtürkei) aufwuchs, wo die Verhüllung der Frauen strikter als andernorts Brauch war.12

Kirchenväter wie Clemens aus Alexandria (ca. 150–215 n. Chr.) und Tertullian von Karthago (ca. 150/160–222 n. Chr.) haben Paulus’ Position zur Kopfbedeckung der christlichen Frau aufgenommen und ausgebaut. Nach Clemens’ Vorstellung soll sich die Frau verhüllen, um durch ihre Schönheit niemanden zur Sünde zu verleiten. Tertullian, der nach längerer Karriere in Rom als vermögender Privatier in Karthago nahe dem heutigen Tunis lebte und selbst nicht Priester war, legte gar in einem eigenen Traktat dar, «Warum die Jungfrauen verschleiert sein sollten». Seiner Meinung nach sollen die Christinnen, ob verheiratet oder nicht, auf hübsche Kleidung und Schmuck verzichten und sich beim Verlassen des Hauses verschleiern: «[…] Sie sollten wissen, dass ihr ganzer Kopf ein Weiberkopf ist, seine Grenzen und Enden erstrecken sich bis dahin, wo das Kleid anfängt. So weit als sich das aufgelöste Haar erstreckt, so weit geht das Gebiet des Schleiers, so dass auch der Nacken umhüllt wird. Denn dieser ist es, der unterwürfig sein soll, um dessentwillen das Weib auch eine Gewalt über seinem Haupte haben muss. Der Schleier ist also das Joch für ihn. Es werden Euch die heidnischen Frauen Arabiens beschämen, welche nicht bloss ihr Haupt, sondern auch das ganze Gesicht derart verhüllen, dass es ihnen genügt, wenn sie ein einziges Auge frei haben und die lieber das Licht nur halb geniessen, als ihr ganzes Antlitz prostituieren. Die Frau will lieber sehen, als gesehen werden.»13

Bereits um das Jahr 200 n. Chr. vertritt hier also einer der Kirchenväter normative Positionen, wie man sie heute im Westen üblicherweise nur bei besonders rigorosen Salafis vermuten würde. Wenn Tertullian dabei seinem Publikum die Frauen der weit entfernten Arabischen Halbinsel als Vorbild hinstellt, wird deutlich, dass das weitgehende Verhüllen des Gesichts offenbar als dortige lokale Sitte international bekannt war – vierhundert Jahre vor der Entstehung des Islams. Dass sich auch auf der Arabischen Halbinsel längst nicht alle Frauen so umfassend verhüllten, unterschlägt der Kirchenvater.14 Zugleich lässt sich aus der energischen Predigt dieses und anderer Kirchenväter ablesen, dass die Christinnen in ihrem Umfeld es mit der Kleidung offenbar ebenfalls nicht durchweg so streng nahmen wie angemahnt, denn sonst wäre diese Art von Traktaten nicht nötig gewesen.

Eine Kopfbedeckung zu tragen – egal ob Schleier, Kopftuch, Haube oder Hut –, war dennoch für viele Frauen in christlichen Kontexten bis ins frühe 20. Jahrhundert gängige Praxis. Bekannt ist auch, dass der Schleier seit je zum Habit von Schwestern in christlichen Orden und Kongregationen gehört. Mit dem Eintritt in die Gemeinschaft wird die Schwester nach der gängigen Metaphorik eine «Braut Christi», ihr Schleier ist somit ein Brautschleier im übertragenen Sinn.

Je nach Gemeinschaft hat der Schleier wieder eine andere Form, bedeckt teils das ganze Haar oder wird zur aufgesteckten kleinen Haube.15 Die Schwestern mancher Gemeinschaften tragen den Habit samt Schleier bis heute. Doch seit den Reformen im Gefolge des Zweiten Vatikanischen Konzils verzichten manche Gemeinschaften auf das Tragen im öffentlichen Raum oder lassen ihren Mitgliedern die Wahl.

Die weibliche Kopfbedeckung unter christlichen Vorzeichen ist nicht auf die römisch-katholische Kirche beschränkt. Unter den aus der Reformation hervorgegangenen Traditionen tragen beispielsweise die Frauen bestimmter Mennonitengruppen, der Amish People oder der Hutterer noch heute das bonnet, eine das Haar weitgehend bedeckende Haube.