Reform oder Blockade

Tekst
Loe katkendit
Märgi loetuks
Kuidas lugeda raamatut pärast ostmist
Reform oder Blockade
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Andreas Zumach

Reform oder Blockade

Welche Zukunft hat die UNO?


Für Kristin Flory

Der Rotpunktverlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2021–2024 unterstützt.

© 2021 Rotpunktverlag, Zürich

www.rotpunktverlag.ch

eISBN978-3-85869-912-1

1. Auflage 2021

Inhalt

Die Vision bleibt

»Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechte für alle« – die überfällige Reform der UNO

»In größerer Freiheit. Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle«

Agenda 2030, mehr Geld und eine ständige UNO-Truppe

Zu wenig Geld für immer mehr Aufgaben

Corona und Klimawandel – größte Herausforderungen für die Weltgemeinschaft

Von globaler Verflechtung zu globalen Bedrohungen

Corona, Ebola – Gesundheit als Ware statt öffentliches Gemeingut

Die Ebola-Epidemie als Warnsignal

Einfluss von Bill Gates bei der WHO – Verschwörungsmythen und Wahrheit

Von Woodrow Wilson zu Joe Biden – das Ende des amerikanischen Jahrhunderts und seine Konsequenzen für die UNO

»America First« – vier Jahre erklärte Feindschaft gegen die UNO

UNO-Gründer USA – zwischen Altruismus und Eigeninteressen

Globale Dominanz und Kontrolle der UNO

Täuschung über Trump sollte zu Vorsicht bei Prognosen über Biden führen

Mögliche Veränderungen der US-Außen-, Sicherheits- und Militärpolitik ab 2021

Im Einzelnen

Globaler Führungsanspruch oder Anerkennung der multipolaren Realität

Syrien, Ukraine, Israel und Palästina – das Scheitern der UNO-Mitgliedstaaten in den aktuellen Krisen und Konflikten

Syrien – die Dauerblockade des UNO-Sicherheitsrats

Krieg gegen den Terrorismus – kurzfristige Erfolge, aber langfristiges Scheitern

Ukraine – politische Vermittlung der UNO nicht erwünscht, doch dringend notwendig

Israel und Palästina – politische Rolle der UNO jahrzehntelang verhindert

Erosion des Völkerrechts – UNO-Charta und Menschenrechtsnormen werden zu Makulatur

Verstöße gegen das Völkerrecht seit Ende des Kalten Krieges gravierender

Irakkrieg 2003 – der bislang schwerste Anschlag auf das Völkerrecht

Kosovokrieg 1999 – der Präzedenzfall für die Missachtung des Völkerrechts

Der 11. September 2001 und seine gravierenden Folgen für das Völkerrecht

Vom Kosovokrieg zu den Drohnenmorden – das Völkerrecht wird obsolet

Ted Turner, Bill Gates, Nestlé und der Global Compact – die neoliberale Privatisierung der UNO und der wachsende Einfluss von Wirtschaftsunternehmen

Ted Turners »harmlose« Milliardenspende

Verbindliche Regeln für Wirtschaftsunternehmen oder freiwillige Verantwortung?

Konzernkampagnen gegen Regulierungspläne

Die Global-Compact-Partnerschaft auf schiefer Ebene

Imageproblem für die Vereinten Nationen

Vom Global Compact zu den Ruggie-Leitprinzipien – ein Fortschritt?

TTIP, CETA, TPP und TISA bedrohen existierende Normen und Standards

Staaten haben extraterritoriale Verantwortung – die Maastricht-Prinzipien

UNO und die Wirtschafts-, Finanz- und Währungspolitik

Rüstungskontrolle und Abrüstung im Rahmen der UNO – gefährdete Erfolge, unzulängliche Abkommen, häufiges Scheitern und ein historischer Durchbruch

Rüstungsregelung statt Abrüstungsverpflichtung

Atomwaffenverbotsvertrag der UNO gegen massive Widerstände

Der Atomwaffensperrvertrag

Atomarer Teststopp – was lange währt, ist immer noch nicht gut

Chemiewaffen – Verbotsbemühungen seit 1899

Biowaffen – Verbot ohne ausreichende Überwachung

Konventionelle Waffen – weitgehend außer Kontrolle der UNO

Von Rom nach New York – kleine Geschichte der UNO

Ideengeschichtliche Vorläufer des Völkerbundes

Der UNO-Vorgänger Völkerbund

1945 – der Neubeginn

Anhang

Fünf Schritte zur Reform der globalen Gesundheitspolitik

Wie lässt sich eine weitere Finanzkrise vermeiden?

Nichtregierungsorganisationen bei der UNO

Abkürzungen

Einleitung
Die Vision bleibt

Runde Geburtstage sind in der Regel ein Grund zum Feiern, zumal im höheren Alter. Doch im 75. Gründungsjahr der UNO gab es zum Feiern wenig Lust und kaum Möglichkeiten. 2020 war bestimmt durch die Corona-Pandemie und dramatisch eskalierende humanitäre Katastrophen, durch die seit vier Jahren ständig verschärfte UNO-Feindschaft der USA unter Donald Trump und durch das Scheitern aller Bemühungen, laufende Kriege zu beenden und neue Gewaltkonflikte zu verhindern. Ende Dezember überstieg die weltweite Zahl der von der UNO registrierten Flüchtlinge und Vertriebenen die traurige Rekordmarke von 80 Millionen. Zudem blieben dringend erforderliche Reformen des UNO-Systems, für die den Mitgliedstaaten seit 2005 detaillierte Vorschläge vorliegen, weiterhin aus. Einziger Lichtblick war die im Oktober 2020 erfolgte 50. Ratifikation des UNO-Abkommens zum Verbot von Atomwaffen, damit das völkerrechtliche Verbot derartiger Massenmordinstrumente über 75 Jahre nach ihrem Einsatz in Hiroshima und Nagasaki am 22. Januar 2021 endlich in Kraft treten konnte.

 

Wegen der Corona-Pandemie war 2020 für viele Menschen auf der Erde das schlimmste Krisenjahr seit dem Zweiten Weltkrieg. Bis Mitte Januar 2021 registrierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO) bereits über 100 Millionen Infizierte und fast 2,2 Millionen Tote. Betroffen waren Menschen in sämtlichen 193 UNO-Mitgliedsländern sowie in weiteren 20 Territorien und Gebieten. Damit hatte die Pandemie bereits nach nur zwölf Monaten noch globalere Auswirkungen als der Klimawandel, über dessen Bekämpfung die UNO-Staaten bereits seit den achtziger Jahren verhandeln. Wird sich die Corona-Pandemie 2021 noch weiter verschärfen und in den Kriegs- und Notstandsgebieten dieser Welt zur größten humanitären Katastrophe seit dem Zweiten Weltkrieg führen, wie UNO-Generalsekretär Antonio Guterres im Dezember 2020 befürchtete? Oder wird es gelingen, diese Pandemie durch Impfprogramme und andere Maßnahmen einzudämmen oder gar ganz zu überwinden? Und dies nicht nur in den reichen Industrieländern, sondern überall auf der Welt? Das hängt ganz wesentlich davon ab, ob die Industriestaaten Solidarität mit den ärmeren Ländern und gerechte Kooperation im Rahmen der WHO nicht nur ankündigen, sondern endlich auch umsetzen. Und ob alle Mitgliedstaaten bereit sind, die seit den achtziger Jahren betriebenen neoliberalen Fehlentwicklungen in der globalen und in den nationalen Gesundheitspolitiken zu korrigieren und die WHO wie auch die eigenen Gesundheitssysteme bei der Prävention und Bekämpfung von Pandemien wieder handlungsfähig oder handlungsfähiger zu machen.

Die Reform der WHO war einer von über 100 Vorschlägen zur Stärkung des UNO-Systems, die Generalsekretär Kofi Annan den Mitgliedstaaten zum 60. Geburtstag im Jahr 2005 vorgelegt hatte. Unter dem prophetischen Titel »In größerer Freiheit: auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit und Menschenrechten für alle« machte Annan detaillierte Vorschläge für politische, strukturelle und finanzielle Reformen, um die Handlungsfähigkeit der UNO zur Bewältigung der globalen Herausforderungen sowie zur Eindämmung zwischen- und innerstaatlicher Gewaltkonflikte zu stärken. Damals herrschte noch eine gewisse Aufbruchstimmung. Die Generalversammlung im Herbst 2005 nahm Annans Reformvorschläge zustimmend zur Kenntnis. Über 90 Prozent von Annans Vorschlägen harren allerdings weiterhin der Umsetzung.

Auch zum 70. UNO-Geburtstag im Jahr 2015 bekundeten die Mitgliedstaaten noch einmal den Willen zu gemeinsamen Fortschritten. Die Generalversammlung verabschiedete nach zweijährigen intensiven Verhandlungen die ambitionierte Agenda 2030 mit Zielen für eine nachhaltige Entwicklung, die die Mitgliedstaaten bis zum Jahr 2030 erreichen wollen. Die erste, Ende 2020 vorgelegte Zwischenbilanz fiel allerdings enttäuschend aus. Die meisten Staaten sind bei der Umsetzung ihrer Agendaverpflichtungen zum Teil erheblich im Verzug. Ähnliches lässt sich für die Umsetzung des Pariser Klimaabkommens feststellen, das im November 2016 in Kraft trat.

Nach vier Jahren UNO-Feindschaft der USA

Am 20. Januar 2021 endeten vier Jahre, in denen die USA, das seit 1945 gewichtigste Mitglied der UNO, stärker als je zuvor auf Konfrontationskurs gingen gegen die Weltorganisation, das Völkerrecht und andere multilaterale Institutionen, Verträge und Normen. Seinen ersten Auftritt vor der UNO-Generalversammlung im September 2017 missbrauchte Präsident Donald Trump für eine völkerrechtswidrige Vernichtungsdrohung mit »atomarem Feuer« gegen Nordkorea. Danach vollzogen die USA den Austritt aus der UNO-Organisation für Erziehung, Wissenschaft und Kultur (UNESCO), aus der WHO und aus dem Pariser Klimaabkommen. Die USA kündigten das vom UNO-Sicherheitsrat einstimmig abgesegnete Abkommen über das iranische Nuklearprogramm, den wichtigsten außenpolitischen Erfolg von Trumps Vorgänger Barack Obama. Zudem verhängte die Trump-Administration völkerrechtswidrige Sekundärsanktionen gegen ausländische Banken und Unternehmen, um diese zum Abbruch von Wirtschaftsbeziehungen mit Iran zu nötigen. Mit ebenfalls völkerrechtswidrigen Sanktionen und der Festnahme bedrohte die Trump-Administration auch die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Internationalen Strafgerichtshofs (IStGH), um sie von Ermittlungen wegen mutmaßlicher Kriegsverbrechen von US-Soldaten in Afghanistan und Irak abzuhalten.

Der neue Präsident Joe Biden hat mit der Rückkehr der USA in die WHO und in das Pariser Klimaabkommen zwar erste Korrekturen der verheerenden Politik seines Vorgängers vollzogen und zudem die Bereitschaft seiner Administration zu »multilateraler Kooperation« versprochen. Zugleich erheben Biden und andere Mitglieder seiner Regierung aber sehr deutlich den Anspruch auf eine »globale Führungsrolle« der USA. Wie wird sich diese widersprüchliche Zielformulierung in der künftigen praktischen Politik der USA auswirken? Ist eine unipolare Führungsrolle der USA, die sich bereits seit den neunziger Jahren zumindest ökonomisch in einem relativen Machtabstieg befinden, in einer inzwischen multipolaren Welt mit mehreren anderen Global Players – China, Russland, EU, bald auch Indien und andere – überhaupt möglich? Wie sich die USA und – zum Teil in Reaktion auf die Politik Washingtons – die anderen Global Players künftig verhalten, wird ganz entscheidend die Handlungsfähigkeit des UNO-Sicherheitsrats und anderer Institutionen des UNO-Systems bestimmen. Das Worst-Case-Szenario wäre, die USA entscheiden sich für einen harten, auch militärisch unterfütterten Konfrontationskurs gegen Peking und versuchen die EU sowie ihre pazifischen Verbündeten, Japan, Australien und andere, einzubinden in eine Allianz gegen China, mit dem sich dann wahrscheinlich Russland verbünden wird. Und beide Allianzen bemühen sich, Indien auf ihre Seite zu ziehen. Das würde zu einem neuen globalen Kalten Krieg und einer Totalblockade des Sicherheitsrats führen.

Neben den USA lieferten auch andere Global Players in den letzten fünf Jahren besorgniserregende Beispiele für die Missachtung völkerrechtlicher Normen, internationaler Institutionen sowie humanitärer Grundprinzipien und Verpflichtungen. Die Regierung Chinas warf das Urteil in den Papierkorb, mit dem der internationale Ständige Schiedshof in Den Haag 2016 auf eine Klage der Philippinen hin Pekings Hoheitsansprüche auf weite Teile des Südchinesischen Meers als Verstoß gegen das UNO-Seerechtsabkommen verurteilte. Russland verfestigte seine Kontrolle über die 2014 völkerrechtswidrig annektierte Krim – unter anderem mit dem Bau der Brücke über das Asowsche Meer – und setzt die Unterstützung der Sezessionskrieger in der Ostukraine fort. Gemeinsam erzwangen Russland und China 2020 im UNO-Sicherheitsrat mit ihrem Veto, dass drei von ursprünglich vier offenen Grenzübergängen für die Lieferung humanitärer Überlebensgüter an die notleidende syrische Bevölkerung geschlossen werden mussten. Und die EU-Staaten verstoßen nach einer Ende Januar 2021 veröffentlichten Analyse des UNO-Hochkommissariats für Flüchtlinge (UNHCR) mit ihrer Behandlung und Zurückweisung von Geflüchteten an den Außengrenzen der EU in immer stärkerem Maße gegen die Genfer Flüchtlingskonvention der UNO von 1951.

Das Verhalten der Global Players lässt die Aussicht, regionale Kriege und Spannungen sowie innerstaatliche Gewaltkonflikte durch Vermittlung oder Friedensmissionen der UNO zu beenden und politische Lösungen herbeizuführen, noch geringer werden. Bereits die letzten fünf Jahre waren in dieser Hinsicht sehr enttäuschend. Die im Januar 2016 begonnenen Genfer UNO-Verhandlungen über eine Nachkriegsordnung in Syrien verliefen auch in ihrer inzwischen neunten Runde im Januar 2021 erfolglos. Ähnliches gilt für die Bemühungen der UNO im Libyenkonflikt. Im opferreichen Jemenkrieg ist die UNO darauf beschränkt, eine der schlimmsten humanitären Krisen und Hungerkatastrophen seit dem Zweiten Weltkrieg mit völlig unzureichenden Mitteln wenigstens etwas abzumildern. Im anhaltenden Sezessionskrieg in der Ostukraine und im Konflikt um die von Russland völkerrechtswidrig annektierte Krim ist die UNO weiterhin zur Untätigkeit verdammt. Dasselbe galt für den Krieg, der im Herbst 2020 zwischen Armenien und Aserbeidschan stattfand. Die Türkei erhielt für ihren im Oktober 2019 begonnenen Krieg gegen die Kurden in Nordsyrien sogar grünes Licht von den USA und von Russland, zwei ständigen Mitgliedern des Sicherheitsrats, dessen vorrangige Verantwortung »die Bewahrung des Friedens und der internationalen Sicherheit« ist. Und im israelischpalästinensischen Konflikt hat Donald Trump unter mehrfacher Missachtung des Völkerrechts Fakten geschaffen, die den Konflikt nicht befrieden, sondern weiter anheizen werden. Zumal es bislang keine Anzeichen dafür gibt, dass Präsident Biden vorhat, diese völkerrechtswidrigen Akte seines Vorgängers wieder zu korrigieren. Im seit 2002 geführten »Krieg gegen den Terrorismus« unter Führung der USA, der von fast allen UNO-Staaten mehr oder weniger unterstützt wird, gab es mit der Vertreibung der meisten Kämpfer des »Islamischen Staats« (IS) aus Syrien und Irak lediglich einen Etappenerfolg. Dieser ist nicht nachhaltig, und keine der Ursachen für islamistisch gerechtfertigten Terrorismus wurde bislang überwunden.

Schon seit 2014 – lange vor der Corona-Pandemie und vor Beginn der UNO-feindlichen und völkerrechtswidrigen Politik der Trump-Administration ab Januar 2017 – hatten die Ausbreitung und Eskalation von scheinbar unkontrollierbaren Epidemien (Ebola) und Gewaltkonflikten (Ukraine/Krim, Irak, Syrien, Gazastreifen) und die dadurch ausgelösten humanitären Krisen und Flüchtlingsbewegungen nach Europa bei vielen Menschen den Eindruck von einem »globalen Chaos« erzeugt. Noch verstärkt wurden dieser Eindruck und die damit verbundenen Bedrohungsgefühle durch den schnellen erfolgreichen Eroberungsfeldzug des IS im Irak und in Syrien sowie die spektakulären und opferreichen islamistischen Terroranschläge der Jahre 2015 bis 2017 in Paris, Nizza, Berlin, Manchester und anderen europäischen Städten.

Die UNO ist mit ihren Bemühungen zur Eindämmung und Beendigung dieser Krisen und Gewaltkonflikte entweder gescheitert, oder sie hat erst gar keine unternommen. Das hatte den Eindruck vom »globalen Chaos« und von einer »aus den Fugen geratenen Welt« noch verstärkt und zu der Meinung geführt, die 1945 gegründete UNO sei inzwischen überflüssig geworden.

Doch anders als die Rede vom »globalen Chaos« nahelegt, sind Kriege und Krisen, die die letzten Jahre seit 2014 geprägt haben, weder ein unausweichliches Schicksal noch eine Naturkatastrophe oder gar göttlicher Wille. Das gilt auch für all die anderen opferreichen Gewaltkonflikte und Krisen vor allem auf dem afrikanischen Kontinent, die weitgehend durch das Raster der Wahrnehmung westlicher Medien fallen. Für sämtliche dieser Gewaltkonflikte und Krisen existieren analysierbare und benennbare kurz-, mittel- und langfristige Ursachen, seien es absichtsvolle Handlungen oder Fehler und Versäumnisse. Und es gibt Täter und Verantwortliche für diese Handlungen, Fehler und Versäumnisse.

Für all die genannten Krisen und Gewaltkonflikte lässt sich auch erklären, warum die UNO mit ihren Vermittlungs- und Eindämmungsbemühungen gescheitert ist oder warum sie derartige Bemühungen erst gar nicht unternommen hat. Und es lässt sich auch beschreiben, was geschehen müsste und welche Reformen erforderlich sind, damit die UNO künftig wieder handlungsfähiger wird sowohl in inner- und zwischenstaatlichen Konflikten als auch gegenüber globalen Herausforderungen wie der Corona-Pandemie und dem Klimawandel, der Finanzkrise oder dem islamistisch gerechtfertigten Terrorismus.

»Die UNO«

Die Zweifel an der UNO und an ihrer weiteren Nützlichkeit sind allerdings nicht erst 2014 und in der Folge entstanden. Sie wurden bereits im ersten Jahrzehnt nach dem Ende des Kalten Krieges genährt. Dieses Ende war zunächst mit großen Hoffnungen auf eine Weltorganisation verbunden, die, befreit von der Blockade der Ost-West-Konfrontation, nun endlich uneingeschränkt handlungsfähig sei und den Blick frei auf alle Ziele und Aufgaben richten könne, die in der Gründungscharta von 1945 definiert worden waren. Warum hat die UNO die Völkermorde von Ruanda und Srebrenica nicht verhindert? Wieso tut die UNO nichts gegen die völkerrechtswidrige Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel? Was ist das Völkerrecht noch wert, nachdem es vor allem vom gewichtigsten UNO-Mitglied USA seit Ende der neunziger Jahre immer häufiger gebrochen wurde? Warum tut die UNO nicht mehr, um verbindliche Arbeits-, Sozial- und Umweltnormen auch gegenüber großen Konzernen durchzusetzen? Wieso halten sich die fünf Vetomächte des UNO-Sicherheitsrats nicht an ihre Verpflichtungen zur Abrüstung von Atomwaffen? Warum kommen die Bemühungen der UNO um das Verbot von Kleinwaffen, Uranmunition und anderen grausamen Rüstungsgütern nicht voran? Wieso hat die UNO nicht auf die globale Finanzkrise von 2008 und ihre Folgen reagiert?

 

Auf all diese Fragen will dieses Buch versuchen, detaillierte Antworten zu liefern. Wobei sich all diese Antworten auf eine oftmals übersehene Tatsache gründen: »Die UNO« als ein eigenständig handlungsfähiges Subjekt existiert nicht, sondern die UNO ist ein kompliziertes Netzwerk von inzwischen 193 souveränen Nationalstaaten mit oftmals sehr unterschiedlichen Interessen. Dieser Satz ist zwar banal, aber man muss ihn sich immer wieder in Erinnerung rufen. In der Alltagssprache von Medien und Politik taucht »die UNO« alltäglich als Subjekt auf, das »beschließt, fordert, verurteilt, handelt, untersucht, scheitert« und so weiter. Durch diese undifferenzierte Sprache von Politik und Medien wird in der Wahrnehmung der Öffentlichkeit immer wieder neu die Vorstellung genährt, es gebe »die UNO« als eigenständiges Subjekt, das uneigennützig und nach objektiven Maßstäben zur Schlichtung und Lösung von Konflikten wie ein unabhängiger Richter eingreifen könne. Jedes Mal, wenn sich diese Vorstellung dann als Illusion erweist, entsteht Enttäuschung über die Weltorganisation.

Tatsächlich bestimmen die Mitgliedstaaten das Handeln der UNO. Ob sich die UNO überhaupt um ein Problem kümmert oder nicht, ob sie dabei erfolgreich ist oder scheitert – das ist immer das Ergebnis der Interessen von Mitgliedstaaten, die sich bei den Entscheidungen des Sicherheitsrats, der Generalversammlung oder anderer Gremien und Institutionen des UNO-Systems entweder durchsetzen oder nicht. Allerdings setzen sich die Mitgliedstaaten mit hohem politischem, wirtschaftlichem und militärischem Gewicht besonders häufig durch und bestimmen das Handeln der UNO. Diese Tatsache sowie der Umstand, dass einige dieser übergewichtigen Mitgliedstaaten, insbesondere die USA, die UNO-Charta und andere Bestimmungen des Völkerrechts in den letzten Jahren in besonders eklatanter Weise gebrochen haben, ohne dass diese Verstöße irgendwelche Folgen hätten, haben inzwischen selbst bei vielen langjährigen Befürwortern der UNO zur resignativen bis zynischen Abkehr von der Weltorganisation geführt.

Diese Haltung ist zwar verständlich, aber sie übersieht, dass die UNO trotz aller auch in diesem Buch beschriebenen Unzulänglichkeiten und Widersprüche in den letzten 75 Jahren viel erreicht hat. Und diese Haltung der Abkehr von der UNO gibt auch keine Antwort auf die Frage, was denn die Alternative wäre.