Loe raamatut: «Sonntagsgeschirr»
Anita Obendrauf
Sonntagsgeschirr,
hin und wieder
Roman
Die Herausgabe dieses Buches wurde unterstützt durch: Kulturförderung Appenzell Ausserrhoden Gemeinde Schwellbrunn
© 2021 by orte Verlag, CH-9103 Schwellbrunn
Alle Rechte der Verbreitung, auch durch Film, Radio und Fernsehen,
fotomechanische Wiedergabe, Tonträger, elektronische Datenträger
und auszugsweisen Nachdruck, sind vorbehalten.
Umschlaggestaltung: Brigitte Knöpfel
Umschlagfoto: Carmen Wueest
Gesetzt in Arno Pro Regular
Herstellung: Verlagshaus Schwellbrunn
ISBN 978-3-85830-285-4
ISBN e-Book 978-3-85830-288-5
Für Elena
Inhalt
Die Wälder
Der Friedhof
Sonntagsgeschirr
Salat am Abend
Gravensteiner
An der Urnäsch
Grosser Bruder
Das Dorf
Bodensee
Das Fotoalbum
Lukas
Gübsensee
Der Altmann
Besuch
Landregen
Die lange Reise
Retour à la maison
Bonjour Jeanne
Weglaufen
Schlüsselstelle
Schlaflos
Le Coin de l’Espoir
Sternschnuppe
Die Entscheidung
Heimweh
Quiche Lorraine
Kurzhaar
Sonntagsbrunch
Die Mühle
Lungenentzündung
Dreilinden
Im Spital
Klinisch
Abgehauen
Sternenstaub
Abschied
Gleiten
Weisse Perlen
Gepinsel
Der Wald
Elisabeth
Trost
Das Seelenfenster
Suruggen
Mariette
Samtiger Wein
Herzlichen Dank
Die Wälder
Die Wälder meiner Kindheit haben sie abgeholzt, dachte Angelina. Ihr Blick schweifte über den Horizont. Auf der Veranda des alten Schuppens sitzend, liess sie die Beine in der Luft baumeln, wie sie es als Kinder immer getan hatten. Das Holz der Scheune war von Wind und Wetter gebleicht und schimmerte im Sonnenlicht leicht gräulich. Von hier hatte sie einen Ausblick weit übers Fürstenland. Es war heiss und schwül und Angelina dankbar für den Schatten, den das Dach spendete.
«Es wird wieder einen dieser Hitzesommer geben, in welchem das Gras vertrocknet und der Mais nicht wachsen will», hatte der Bauer prophezeit, mit dem sie auf einem Spaziergang ins Gespräch gekommen war. Dabei war es erst Frühling gewesen, und ein Regentag hatte sich an den anderen gereiht. Dieses Gespräch schien ihr Ewigkeiten her, als hätte es in einem anderen Leben stattgefunden.
Am Vortag hatte Angelina ihre Sachen gepackt, um an diesem Morgen den ersten Zug von Genève nach St. Gallen zu nehmen. Maurice hatte plötzlich in der Tür gestanden, war früher von der Arbeit gekommen. Als ob er etwas geahnt hätte. «Tu vas où?», hatte er gefragt und geschwiegen. Hätte er sie in den Arm genommen und geküsst, gehalten und gesagt «Bleib!», sie hätte nicht die Kraft gefunden zu gehen. Aber er hatte einfach schweigend dagestanden, im Türrahmen gelehnt und geschaut. Das Schweigen hatte sie gemocht, früher. Es hatte etwas Geheimnisvolles gehabt.
Angelina strich sich eine Haarsträhne aus dem Gesicht, als ob diese ihr die Sicht versperren würde. Intuitiv hatte es sie an diesen Ort gezogen. Ohne Ziel war sie gewesen. Und geradlinig etwas gefolgt, von dem sie nicht sagen konnte, ob es eine Flucht oder eine unwillkürliche Sehnsucht war. Unter ihr lag das Dorf ihrer Kindheit.
Hart tönte das Surren der Starkstromleitungen. Ihre Augen folgten den schwarzen Linien, die den Himmel zerschnitten und von einem übergrossen Stahlpfeiler zum nächsten führten. Waren sie schon früher dagewesen?
Im Dorf unten waren zwischen den Strommasten Wohnblöcke gebaut worden, die wie übergrosse Bauklötze wirkten. Ein Riese mit Ordnungssinn schien sie parallel und rechtwinklig zueinander hingelegt zu haben. Angelina suchte nach Vertrautem. Sie erkannte das graue Gebäude der Schule, nicht mehr so markant wie früher, eher zu klein geraten neben den wuchtigen Neubauten.
Auf der Strasse unter ihr rauschten Autos vorüber. Es war ein an- und abschwellender Singsang von Näherkommen und Sich-Entfernen. In der Ferne flimmerte die Autobahn in der Hitze, darauf die Autos als eine endlose Kette sich bewegender Punkte. Angelina schien es wie ein immerwährender Kreislauf, der nie innehielt und in dem die Menschen nie irgendwo ankamen.
Als Kinder hatten sie geglaubt, ihnen würde die ganze Welt gehören. Von der Bildkapelle waren sie quer übers Feld gerannt, über sumpfige und moosige Wiesen. Ein Sprung über den Bach und schon waren sie beim Wald gewesen. Und es hatte einen Fussballplatz mit ruppigem Rasen gegeben. Zu jener Zeit hatte er schon Gründenmoos geheissen. Dann wurde die Autobahn gebaut und das Land in zwei Teile zerschnitten. Die Allee beim Bildweier hatten sie damals bereits abgeholzt. Nun ragte dort auf hohen Stelzen ein Betonklotz heraus, das Fussballstadion.
Dies war der Ort, an dem sie gross geworden war. Den sie verlassen hatte, sobald die Schule abgeschlossen war. Und wohin es sie nun unweigerlich gezogen hatte. Angelina kniff die Augen zusammen. Die Hitze tauchte die Landschaft in verschwommene Farben: gräulich die Bauten, gelblich das vertrocknete Gras, grünlich dunkel die Wälder, dahinter ein weisslicher Horizont. Welche Farben würde sie für dieses Bild mischen?
Ihr Blick kehrte zurück zum Dorf, zur Kirche mit ihrem weissen Turm und dem geschwungenen Dach. Ein moderner Bau war es damals gewesen. Weiter links die Schule, die Wohnblöcke, dahinter der Wald.
Die Wälder waren keine Wälder mehr, nicht so wie früher. Schlanke Fichten standen um eine durch Holzschlag freigeräumte Fläche. Zwischen den Baumstrünken wuchsen dürre Bäumchen, die mit Drahtgitter, das von stämmigen Holzpfosten gehalten wurde, geschützt werden mussten.
Am Waldrand beim Geräteschuppen hatten sie sich als Pfadfinderinnen getroffen. Dort waren die Brennnesseln hüfthoch gewachsen. Tiefer im Wald hatten sie den breiten Weg verlassen, um eine nach der anderen dem Pfad durchs Dickicht zu folgen. Hinter der Kuppe, geschützt von mächtigen Fichten und alten Buchen, war ihr Lagerplatz gewesen. In der Mitte hatte die Feuerstelle gelegen, eine von Ästen und Tannennadeln befreite Vertiefung, umrandet von grossen Steinen, die sie vom nahen Bach herangeschleppt hatten. Das Holz hatten sie zu einem meterhohen Stapel geschichtet, bevor sie das trockene Reisig unten in der Mitte anzündeten. Das gab grosse Funken und später eine lang anhaltende Glut. Sie brieten Würste und Kartoffeln und wickelten Teig um dicke Äste, um Schlangenbrot zu backen. Sie warfen ihre Jacken, Kapute, günstig erstanden im Zeughaus, auf den Boden und machten es sich gemütlich. Als die Nacht hereinbrach und die Baumstämme im schwindenden Licht grösser und kräftiger wurden, rückten sie näher zusammen. Manchmal legte eine von ihnen Holz nach und es gab ein erneutes Aufflammen, eine starke, kurze Hitze, bevor das Scheit in glühende Stücke zerfiel. Welche Farbe hatte die Magie? Nachtblau, Saphirblau, Rubinrot?
Angelina holte eine Wasserflasche hervor und trank gierig. Dann öffnete sie die Riemen ihrer Sandalen und liess sie zu Boden fallen. Sie stemmte ihre Arme aufs Holz und glitt von der Veranda. Das Gras fühlte sich kühl an. Sie hängte die Tasche um, nahm die Sandalen in die Hand und ging los. Die spitzen Kiesel stachen an den Fusssohlen. Auf dem ehemaligen Bahntrassee fiel der Weg leicht ab. Sie stellte sich vor, wie die Dampflok stampfend, ächzend und fauchend in einem weiten Bogen vom Bahnhof Winkeln aus an Höhe gewann, auf einer leichten Krümmung den Wald durchfuhr, bevor sie den Tunnel passierte und auf gerader Linie Herisau erreichte. Bereits in ihrer Kindheit waren die Schienen verschwunden gewesen.
Im Tunnel war es düster und feucht. In der Mitte blieb Angelina stehen, sah die grob behauenen, grauschwarzen Steine, blickte zum Rundbogen über ihr und fragte sich, wieso die Steine hielten, so unverrückbar und fest über all die Jahre. Sie fröstelte. «Warum?», fragte sie zuerst zaghaft. Dann lauter und lauter: «Warum?» Es hallte, dunkel und dumpf.
Obwohl ihre Fusssohlen schmerzten, ging Angelina barfuss weiter. Es tat gut, Schmerzen zu spüren. Irgendetwas Handfestes, von dem sie wusste, es würde vorübergehen. Die Wasseroberfläche des Gübsensees glänzte grünlich in der Sonne. Grauoliv. Stockenten schwammen nahe am Ufer, und etwas entfernt erblickte sie Reiherenten. Als Kind hatte sie deren elegantes Schwarz-Weiss und die kecke Locke am Hinterkopf gemocht. Weiter vorne breitete ein Baum seine weiten Äste über dem Weg aus und spendete Schatten. Es gab sie also noch, die Mammuttanne. Meinhard und sie waren von Ast zu Ast den Stamm hinaufgeklettert. Wenn Spaziergänger unten durchgegangen waren, hatten sie mit verstellter Stimme gerufen: «Ich bin der Kobold!», oder «Sie sind zu spät!» Manchmal hatte Angelina einfach «Blauorange» gerufen. Dies war immer noch ihre Lieblingsfarbe. Obwohl der Zeichenlehrer der Meinung gewesen war, dass es die Farbe Blauorange nicht gebe. Nie war es Angelina gelungen, die Farbe in ihrem Malkasten so zu mischen, wie sie diese vor ihrem inneren Auge sah. Blauorange war ein kräftiges Orange mit einem tiefen Blau, so wie das letzte Licht beim Sonnenuntergang, bevor es dunkel wurde.
Angelina setzte sich auf einen Baumstrunk am schattigen Ufer und kühlte ihre Füsse im Wasser. Der Schmerz an den Fusssohlen liess nach. Auf der gegenüberliegenden Seite lag der Badeplatz, eine Wiese mit Bäumen. Manchmal war sie quer über den See geschwommen bis hierhin. Sie hatte nicht gut schwimmen können. Meinhard war der bessere Schwimmer gewesen. Meinhard war in allem besser gewesen. Er war eben älter. Sie war die kleine Schwester, die alles können wollte, was er tat.
Wie wäre es, ihm hier zu begegnen? Wenn er in diesem Augenblick daherkäme? Oder Vater? Ob er wohl noch so weit gehen konnte? Angelina hatte keine Ahnung. Jahre hatte sie ihn nicht besucht.
Hatte sie Sehnsucht nach Vater, nach Meinhard? Wären sie ihr nach all der Zeit auch wieder so vertraut wie dieser Ort?
Es war ein verzweifelter Entschluss gewesen am Nachmittag zuvor. Lange hatte sie geweint, war unfähig gewesen, den Text für das Bergmagazin zu übersetzen. Sie hätte den Auftrag bis am übernächsten Tag erledigen sollen. Sie hatte gewusst, es würde Schwierigkeiten geben, wenn sie nicht fristgemäss lieferte. Schliesslich hatte sie sich durchgerungen und Jeanne, die Chefin der Agentur, angerufen. Obwohl sie Jeanne seit Jahren kannte und sie mehr als nur ihre Auftraggeberin war, hatte sie sich kurzgefasst und erklärt, dass sie diesen Auftrag nicht zu Ende bringen könne. Es tue ihr leid. Sie hatte Jeanne versprochen, den Teil zu schicken, den sie bereits übersetzt hatte. Dann hatte sie sich verabschiedet. Sie hatte keinen Grund genannt und Jeanne keine Zeit für Fragen gelassen. Angelina hatte gewusst, so kurzfristig jemand anderen zu finden, würde für Jeanne Stress bedeuten. Über viele Jahre hatte sich Angelina ihre Stellung erarbeitet. Doch nun erschien es ihr bedeutungslos.
Nach dem Gespräch mit Jeanne wurde das Weinen noch heftiger und unkontrollierter, und als später das Schluchzen in ein lautloses Wehklagen überging, wusste sie, sie musste etwas tun. Nach dem zweiten Klingeln hatte Leni das Telefon abgenommen. Angelina war sofort zur Sache gekommen und hatte gefragt, ob sie ein paar Tage bei ihr übernachten dürfe.
Trotz des sonnigen Wetters war Angelina die Einzige, die an der Haltestelle Gübsensee einstieg. Im Zug war es heiss und stickig. Sie blieb bei der Tür stehen und blickte hinunter, als der Zug über die hohe Brücke fuhr. Die Urnäsch mündete an dieser Stelle in die Sitter und führte kaum Wasser. Am Hauptbahnhof holte Angelina ihre Reisetasche aus dem Schliessfach und ging hinüber zum Bus. Ihre Kleider waren verschwitzt und ihre nackten Füsse in den Sandalen staubig. Mit den Fingern kämmte sie sich die langen braunen Haare, fasste sie mit der einen Hand im Nacken zusammen, während sie mit der anderen das Gummiband überstreifte. Mit nach hinten gebundenen Haaren wirkte ihr Gesicht schmal und ernsthaft.
Wie Leni wohl aussah? Ob sie ihr langes, schwarz gewelltes Haar noch hatte? Angelina war eifersüchtig gewesen auf diese Locken, die Leni, wie sie fand, ein hübsches Gesicht gegeben hatten.
Beim Müleggweier verliess Angelina den Bus. Ein Schwanenpaar schwamm auf dem Wasser und tauchte abwechslungsweise die langen Hälse ein. Angelina blieb kurz stehen. Der Weiher hatte eine ganz andere Farbe als der Gübsensee. Blaugrün, Schwarzgrün oder Moosfarben?
Völlig ausser Atem kam Angelina vor Lenis Wohnung im dritten Stock an. Die Tasche wog schwer. Sie hatte zwei Flaschen Wein in Kleider eingewickelt, einen Roten und einen Weissen aus dem Lavaux, etwas anderes war ihr spontan nicht eingefallen. Angelina zögerte. Mochte Leni Wein? Trank sie überhaupt Alkohol? War es der richtige Entscheid gewesen, hierherzukommen?
Angelina atmete tief ein, zählte bis drei und klingelte.
«Angelina! Schön dich zu sehen.» Lenis Arme umschlossen ihre Schultern, ihren Rücken, drückten sie gegen ihre warme Brust.
«Leni, du hast dich überhaupt nicht verändert.»
«Ist das ein Kompliment?»
«Ja sicher.»
Der Friedhof
Zuerst die Toten, dann die Lebenden, dachte Angelina. Am Abend zuvor hatte sie mit Vater telefoniert und ihren Besuch angekündigt. Aber zuerst wollte sie zum Friedhof. Sie wollte Mutter erzählen, was geschehen war. Mutter würde zuhören. Vielleicht war es einfacher, Verstorbenen Dinge zu erzählen.
Das eiserne Friedhofstor quietschte und fiel mit einem metallischen Klacken wieder ins Schloss. Ein breiter Weg, eine Allee aus mächtigen Thujen empfing sie. Der Kies knirschte unter ihren Füssen. Obwohl der Strassenlärm bis hierher drang, war es Angelina, als würde sie bei jedem Schritt die Ruhe stören. Sie kam an schmale Gräber, auf denen neben Blumen kleine Spielsachen lagen. Es waren die Gräber von Kindern, Bébés, die nicht einmal ein Jahr alt geworden waren. Angelina spürte eine verzweifelte Schwere. Schnell ging sie weiter.
Kein Unkraut fand sich auf den Kieswegen. Die Gräber waren in Reih und Glied angeordnet, die Grabsteine individuell und doch konform, nicht zu wuchtig. Es gab auch einfache Holzkreuze mit Namen.
Als Kind hatten Mutter und Vater sie nie mitgenommen zu Beerdigungen. Angelina erinnerte sich, wie sie im Stillen geweint hatte, als Grossvater gestorben war. Trauer hatte keinen Platz gehabt. Sie hatte Grossvater nie vergessen. Damals hatte sie noch an Gott geglaubt, gehofft, dass er ihre Einsamkeit schmälern und so etwas wie Trost spenden würde. Sie hatte sich vorgestellt, dass Grossvater nun bei ihm wäre und zu ihr herunter lächelte, und sich gefragt: Warum gab er ihr nicht ein Zeichen? Ein Einziges hätte genügt. Doch Grossvater gab keinen Wink und Gott sass still auf seinen Wolken, schaute, was die Menschen so trieben und füllte seine Listen mit guten und bösen Taten.
Wäre sie ruhiger, wenn sie immer noch an den lieben Gott glauben würde? Wenn sie vertrauen würde, dass er mit weiser Vorsehung alles zum Guten lenkte. Sie haderte. Er war nicht der, als den sie ihn anpriesen. Er lenkte nicht, zum Guten nicht und zum Bösen nicht. Wenn er wirklich existierte, dann waren ihm die Menschen egal. Er liess sie gewähren.
Wann begann das Leben? Mit der Zeugung oder erst mit der Geburt? Und wann der Tod, der unwiderrufliche? Wo war Gott? Gab es einen Anfang und ein Ende?
Angelina fand das Grab nicht auf Anhieb. Seit der Beerdigung vor sieben Jahren war sie nicht mehr da gewesen. Warum hatte sie sich nicht gekümmert all diese Jahre? Wie oft hatte sie sich vorgenommen, nach St. Gallen zu reisen, um es dann wieder fallen zu lassen? Immer hatte sie gedacht, sie hätte noch Zeit. Zwanzig Jahre liess man die Toten ruhen, dann wurden die Gräber aufgehoben. Nicht einmal ein halbes Menschenleben dauerte die Grabesruhe. Der Platz war eng für die Toten. Wenigstens hatte Mutter ein Grab. Nicht so, wie ihr Kind.
Früher hatte das Grab am Rande gelegen, nun war es mittendrin. Stiefmütterchen, gelb und violett, in einer Vase ein Bund roter Rosen, etwas welk in der Hitze. Die mussten von Vater sein. Angelina ging zur halbhohen Steinsäule, einem Grabstein ähnlich, mit einem Wasserhahn. Sie nahm die metallene Giesskanne und drehte den Hahn auf. Es klang hohl und dumpf, als das Wasser aufs Blech aufschlug. Sie trug die Giesskanne zum Grab und goss. Immer wenn sie Gräber von Menschen besuchte, die sie gekannt hatte, goss sie. Auch im strömenden Regen goss sie. Sie fand es beruhigend, etwas für Menschen zu tun, die sie vermisste. Wahrscheinlich tue ich es nur für mich selbst, dachte sie. Um in Bewegung zu bleiben und die Gefühle in Schach zu halten.
Sie holte noch einmal Wasser, goss abermals, sorgfältig darauf achtend, die Stiefmütterchen nur bei den Wurzeln zu giessen und Blüten und Blätter nicht nass zu machen, damit die Sonne sie nicht versengte. Es war halb zehn Uhr am Morgen und bereits heiss. Nun nahm Angelina die Blumenvase mit den Rosen und trug sie zum Wasserhahn. Sie legte die Rosen sorgsam in den Schatten, spülte die Vase aus, reinigte mit den Fingern den oberen Rand, spülte sie nochmals aus und füllte sie mit frischem Wasser. Bedächtig nahm sie eine Rose nach der anderen in die Hand, zupfte vereinzelt welke Blätter von den Stängeln und ordnete sie in der Vase neu an. Sie dachte an Mutters vierzigsten Geburtstag, als sie ihr damals einen Bund mit vierzig Rosen geschenkt hatten. Rote, gelbe und dazwischen ein paar weisse.
Hatte sie Mutter vermisst in diesen sieben Jahren? Und davor? Natürlich hatte sie Mutter vermisst. Aber hatte sie ihre Mutter vermisst? Ja, aber nicht nur. Sie hatte auch Sehnsucht gehabt nach einer Mutter, die sie gar nie gehabt hatte. Sie erinnerte sich daran, wie Mutter jeden Frühling die Blumenkistchen auf dem Balkon bepflanzt hatte. Sorgfältig hatte sie die Setzlinge aus den kleinen Töpfen gehoben, in den länglichen Kisten angeordnet, eine Handvoll Erde genommen und sie neben den Setzlingen in die Kiste gleiten lassen, um sie daraufhin sanft festzudrücken. Bald hatten die Blumen üppig und bunt gesprossen. Petunien in den Farben Rosa, Gelb, Violett und Weiss. Es war, als hatte Mutter damit farbenfrohes Leben verbreiten wollen.
Eine fröhliche und unbeschwerte Mutter hatte sich Angelina gewünscht. Oft war sie jedoch still und gedankenverloren gewesen. Und es gab diese Unerbittlichkeit und Strenge. Erst spät hatte Angelina die leise Traurigkeit und Wehmut bemerkt, die sich dahinter verborgen hatten.
Angelina ordnete die Rosen nochmals neu an und trug die Vase, mit beiden Händen haltend, zurück zum Grab.
In der Fremde war sie oft auf Friedhöfe gegangen. Sie hatten sie ruhig werden lassen und demütig. Die Gräber hatten Geschichten erzählt von langen Leben und frühen Toden, von Kriegen und Tragödien. Sie erinnerte sich an einen Besuch am Rand einer grossen Stadt. Kreuze ohne Namen waren aufgereiht gewesen. So mussten die Soldaten gestanden haben beim Appell. Sie waren gefallen im Kampf und namenlos begraben. Dahinter die Toten, an deren Namen man sich erinnerte, ganze Familien vereint. Grabsteine standen schief, und auf den Gräbern wuchsen Bäume und Büsche. Verschlungene Pfade führten kreuz und quer hindurch, mystisch und zauberhaft zugleich. Es hatte kleine Bänke, und an Allerheiligen kamen die Lebenden und liessen sich nieder zum Picknicken bei den Toten. An solchen Orten blieben die Gräber auf ewig. Es waren Oasen der Stille inmitten einer ihr in jenem Augenblick sinnlos erscheinenden Geschäftigkeit.
Angelina spürte die Hitze. Gerne hätte sie sich auf eine kleine Bank beim Grab oder unter einen schattigen Baum gesetzt. Obwohl der Friedhof voller Birken, Buchen und Nadelhölzer war, konnte sie in der Nähe keine Bank entdecken. So liess sie sich auf dem schmalen Streifen Kies vor dem Grab nieder. Flüsternd begann sie Mutter zu erzählen. Sie suchte für das Unfassbare Worte, stockte nach wenigen Sätzen und verharrte in Sprachlosigkeit. Zusammengekauert sass sie in der sengenden Sonne. Einzelne Tränen malten dunkle Punkte auf den hellen Kies.