Grundlagenforschung

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Grundlagenforschung
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Schnell gehen sie vorbei, die Sekunden der Erkenntnis. Sie müssen festgehalten werden! Oder erst erzeugt anhand von Figuren, Beziehungen, außerordentlichen Begebenheiten. Das Leben ist undurchsichtig und erzählenswert. Und es gilt, in diesem Leben vorzukommen, zwischen all den Wünschen und Enttäuschungen, den gesellschaftlichen Normen und alltäglichen Herausforderungen. Wer bin ich denn hier überhaupt? Wer könnte ich sein?

Die nervöse Zwanzigjährige, die hofft, dass ihr Freund anruft. Die hoffnungsvolle Dreißigjährige, die glaubt, dass bei ihr alles anders wird. Anders zumindest als bei der ätzenden Ex, die doch hätte wissen müssen, dass Kinderkriegen auch keinen Ausweg darstellt. Oder bin ich vielleicht sogar die? Es ist gut, ein paar Erzählungen als Wegweiser zu haben. Für jetzt – und für später. Sag nicht, du hättest’s nicht gewusst! Hier steht’s doch, schwarz auf weiß, und Spaß macht es auch noch.

In diesem Erzählungsband vermag man sämtliche Motive, Themen, ja geradezu die gesamte literarische Welt Anke Stellings zu entdecken – und diese Erforschung ist nicht nur für Stelling-Fans faszinierend.

Anke Stelling, 1971 in Ulm geboren, absolvierte ein Studium am Deutschen Literaturinstitut Leipzig. Die Prosa-, Drehbuch- und Kinderbuchautorin wurde 2015 mit ihrem Roman Bodentiefe Fenster für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zudem wurde der Roman mit dem Melusine-Huss-Preis 2015 ausgezeichnet. 2017 erschien ihr Roman Fürsorge. Für den Roman Schäfchen im Trockenen erhielt sie 2019 den Preis der Leipziger Buchmesse und den Friedrich-Hölderlin-Preis der Stadt Bad Homburg.

Anke Stelling

Grundlagenforschung

Erzählungen


»Grundlagenforschung« ist der 1. Band der Reihe

»kurze form«, die mit je einem Band pro Programm

im Verbrecher Verlag erscheint.

1. Auflage

Verbrecher Verlag Berlin 2020

www.verbrecherei.de

© Verbrecher Verlag 2020

ISBN 978-3-95732-447-4

eISBN 978-3-95732-466-5

Der Verlag dankt Nora Gerken

und Johanna Seyfried.

INHALT

FELDSALAT

BEI DEN WÖLFEN

LEIDER NEIN

DIE STELLE

WAS, WENN NICHT DAS

GLÜCKLICHE FÜGUNG

SCHLIMMSTENFALLS

UNBESTÄNDIG UND KALT

RAUS

GRANDEZZA II

HEILSVERSPRECHEN

SOWOHL ALS AUCH

RANUNKELN

VORBEI

Editorische Notiz

FELDSALAT

Nehmen wir das Leben und teilen es in drei Bereiche: Liebe, Arbeit, Essen & Trinken. Wobei Essen & Trinken auch Trinken & Rauchen heißen könnte, Arbeit auch Kunst und Liebe vielleicht Freizeitvergnügen. Irgendwelche Einwände?

Liebe: Es ist inzwischen ungefähr klar, was zu kriegen ist und was nicht. Vorlieben sind manifestiert; bei wem sie sich mit dem Erreichbaren decken, hat Glück gehabt. Wer überhaupt jemanden abgekriegt hat, hat Glück gehabt, denn die Zeit der Suche ist ein für alle Mal vorbei. Wer von sich behaupten kann, eine Liebe aus erster Hand zu besitzen, ist beneidenswert. Oder zurückgeblieben. Wer eine aus zweiter Hand besitzt, hat Ärger mit psychotischen Ex-Frauen, Unterhaltszahlungen, Echtheitsnachweisen – dafür aber viel zu erzählen.

Arbeit: Das hier. Was will sie denn nun schon wieder, sagst du, ich sage: Es ist der Dienstag nach Pfingsten, fünf vor halb zwei, und es gibt keine Ausrede, den Rechner geschlossen zu halten. Oder wenn, dann findet sie sich hier, in diesen Zeilen, also müssen sie geschrieben werden. Gemäß des Kirchenjahres ist der Geist nun ausgeschüttet und hat sich zu zeigen. Du kannst ja harken gehen, wenn du möchtest.

Essen & Trinken: Wer sät, der erntet. Wer trinkt, muss weitertrinken, sonst zittern die Hände. Auch hier sind die Vorlieben manifestiert; bei wem sie sich mit den Empfehlungen der Krankenkassen decken, bleibt schlank und gesund. Die andern versuchen, philosophisch zu werden. Oder Kenner! Das ergibt dann diese ermüdenden Tischgespräche, unter denen wir einst so gelitten haben.

Das Feld ist abgesteckt, im Text wie im Leben. Wer weiterblättern will, soll das tun; wer meint, die mittleren Jahre erreichten ihn nicht, hat sich getäuscht. Sie kommen. Sie bestimmen dein Handeln, sie beherrschen dein Denken; du bist nicht mehr, wer du mal warst. Warst du jung? Schön für dich. Ich dachte ja, ich sei’s nie gewesen, aber ich war’s auch, rückblickend. Und jetzt wirst du langsam alt, genauso zwangsläufig, wie ich einstmals jung war. Es gibt eben doch noch das eine oder andere, das wir nicht entscheiden.

Heiner und Claudia. Typischer Fall einer Liebe aus zweiter Hand. Jetzt!, haben sie sich gesagt, jetzt oder nie! Und sind zusammengekommen.

Waren schöne acht Wochen.

Claudia legte die alten Michael-Jackson-Platten auf und fühlte sich wieder wie zwölf, nur mit mehr Busen, was das Ganze noch besser machte. Heiner fickte sie wie ein Verrückter, auch etwas, das er sich mit zwölf gewünscht und damals noch nicht hat verwirklichen können. Keine Klagen also! Endlich das Zeug, die Umstände und die Freiheit dazu. Nur, dass sie nicht mehr zwölf waren.

Heiner ging die Puste aus. Musste auch irgendwie das Geld ranschaffen für die Kinder aus erster Ehe. Die psychotische Ex. Das mach mal, wenn du nicht zum Schlafen kommst! Und Claudia hatte ihrerseits nach acht Wochen das Gefühl, die Sache auf eine solidere Grundlage stellen zu müssen. Schließlich war sie jetzt endlich da, die Gelegenheit! Das Husband Material Heiner. Er sollte doch wissen, wie es ging, wo er die erste Runde schon hinter sich hatte. Und tatsächlich wurde Claudia umgehend schwanger, und Heiner sagte, wenn du Pickel kriegst, wird’s ein Mädchen.

Wie aufregend. Oder nicht?

Ein völlig neues Körpergefühl für Claudia, den Bauch endlich mal rausstrecken zu dürfen. Das genügte für die nächsten neun Monate.

Und Heiner? Mal kurz ein paar Worte zu Heiner, damit du dir das Ganze besser vorstellen kannst: Heiner ist wahrhaft lässig. Ein Szene-Mensch, aber auf die angenehme Art. Begabt. Immer freundlich.

Haarscharf ist er dran vorbeigeschrammt, so richtig berühmt zu werden – wäre er Brite, wäre er’s. Hätte er’s geschafft, sich auf eine Sache zu konzentrieren, wäre er’s auch. So ist er aus Hannover und macht alles gleichzeitig: singen, malen, Gitarre spielen, Bühnenbild, kurze Fernsehauftritte, Filmscripts, Plena organisieren, Häuser besetzen, Reden halten, kellnern, kochen, Leute zusammenbringen, Bücher schreiben.

Jeder kennt ihn, und Heiner kennt sich aus. Claudia kann stolz sein, ihn abgekriegt zu haben, und gut aussehen tut er auch. Also, so mittel. Irgendwie britisch.

Heiner ist keiner, mit dem das Familienleben vorgezeichnet erscheint. Keiner wie dein eigener Vater, obwohl du ehrlich gesagt auch keine Ahnung hast, was der für einer war. Der hatte nämlich auch nicht vor, so zu enden, wie du ihn jetzt enden siehst, aber egal. Heiner jedenfalls, um das noch mal zu betonen, ist echt lässig. Seine Kinder wachsen zwischen Gigs und HMI-Scheinwerfern und ausgeweideten Autowracks und weiblichen Fans mit riesigen Sonnenbrillen beziehungsweise Pressedamen und Kuratorinnen auf, die sie zu sich herzulocken versuchen, als seien sie Hundewelpen. Heiners Kinder sitzen bei ihm im Babybjörn vor dem Bauch, egal, was er gerade zu tun hat. Heiners Kinder fahren auf selbstgebastelten Laufrädern rum, nicht auf solchen von Puky. Wer wollte nicht Heiners Kind sein?

Kein Grund also für Claudia, sich zu fürchten vor dem, was kommen sollte. Der Abschied von der Jugend, ganz klar, aber der stand ohnehin bevor. War in diesem Fall nicht gleichbedeutend mit dem Abschied von Spaß, Lässigkeit und gutem Aussehen. Im Gegenteil. Toll sah sie aus, mit der Kugel statt des Bauchs, und Heiner erst, wie er das Neugeborene lässig auf dem linken Unterarm ruhen ließ, während er mit der rechten Hand einer seiner zahlreichen Tätigkeiten nachging.

Claudia ging zur Rückbildungsgymnastik.

Becken heben, Beckenboden anspannen, absenken. Die Matten im Rückbildungskurs rochen, wie Turnmatten überall riechen: nach Schweiß. Die Hebamme gab sich alle Mühe und zündete ein Räucherstäbchen an; die Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien, hatten die Babys dabei, welche brüllten. Keine redete mit Claudia.

 

Müde war sie. Unsagbar müde.

Der Weg zur Rückbildungsgymnastik war weit, eine Rückbildung nicht wirklich in Sicht. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Ohne Rückbildung kein guter Sex, so die Hebamme. Becken heben, anspannen. Die Mitmütter kicherten. Claudia schlief ein.

Kann sein, dass es immer noch Eisenmangel war, Claudia brauchte Feldsalat, Feldsalat und Schlaf, Feldsalat und rote Bete. Feldsalat mit Kürbiskernen.

Heiner wusch Feldsalat. Das war nichts, das man einhändig tun konnte, einhändig gewaschener Feldsalat knirscht zwischen den Zähnen, Heiner knirschte sowieso schon, trug beim Schlafen eine Knirschschiene. Keiner würde vermuten, dass Knirschschienen im Heinerschen Haushalt eine Rolle spielten, auch Claudia nicht – doch längst war die Knirschschiene zum Symbol geworden, teuflisches Zeichen, ob nachts noch was laufen würde. Denn wenn Heiner die Knirschschiene einsetzte, war Schicht. Licht aus. Ende. Heiner schlief –

Claudia lag wach. Becken heben, Beckenboden anspannen, nachlassen. Entspann dich, Claudia! Es ist noch nicht aller Tage Abend, auch wenn er längst die Knirschschiene trägt.

Der Zauber der Fortpflanzung half ihr durch den Alltag, und hatte sie es nicht selbst so gewollt? Leise, schnorchelnde Atemzüge. Und Feldsalat.

Irgendwo in ihrem traumhaften Garten lauerte die alte Gotel und wollte Claudia das Kind wegnehmen, denn Claudia war hochmütig gewesen. Hatte geglaubt, dass bei ihr alles anders sein würde. Und Heiner hatte nicht widersprochen. Hatte Feldsalat aus Gotels Garten geholt – ein unheilvoller Akt. Claudia hatte auf ihn gebaut, wo sie doch misstrauisch hätte sein müssen, schließlich hatte er schon zwei Kinder und eine psychotische Ex noch dazu, hätte ihr das nicht eine Warnung sein sollen? Nein. Denn Claudia war selbst ganz anders.

Apropos, wer ist eigentlich Claudia?

Was die Liebe betrifft, hat sie vielleicht in den frühen Jahren ein bisschen Pech gehabt, aber mit Heiner dann eindeutig hochgeheiratet. Also Glück!

Die Kuratorinnen und weiblichen Fans wunderten sich. Claudia? Ach so, ja. Arbeit war ihr Stichwort, sie hat immer viel gearbeitet. Einen IQ von erstaunlicher Zahl.

Ach, weißt du was, der Einfachheit halber bin ich mal die Claudia. Mit mir kenn ich mich aus. Hab viel gearbeitet, irgendwas, das Heiner aufhorchen ließ. Blondes, schulterlanges Haar, durchdringende Stimme. Siebenunddreißigtausend Treffer bei Google! Wer würde da widerstehen können?

Heiner hat gedacht, bei dem IQ würde aus mir bestimmt nicht noch eine psychotische Ex-Frau werden. Denn ich weiß, wie die Dinge laufen. Zum Beispiel bei Claudia! Natürlich hat sie sich verkalkuliert. Und aus Trotz dann trotzdem noch ein Zweites gekriegt. Diesmal ohne Pickel in der Schwangerschaft, ein Junge also.

Ein Mädchen und ein Junge. Süß wie die Hundewelpen, ein bisschen dreckig – man soll sie bloß nicht zu viel waschen, die Käseschmiere einziehen lassen und dann nichts als den natürlichen Säureschutzmantel der Haut. Die alte Gotel nickte bestätigend und schwenkte ihren Zauberstab. Schutzmäntel und Schutzzonen waren ihr Spezialgebiet! Wehe dem, der eine solche betrat … Schmutzig blieben sie, die Kleinen, was nichts an ihrer Attraktivität änderte – hübsche, zum Stil der Eltern passende Accessoires. Die jeden Morgen um halb sechs Uhr aufstanden.

Heiner war auf Tournee. Oder auf Tour. Unterwegs jedenfalls, knatternder Kleinbus – und eine Menge Essen & Trinken, wobei das in dem Fall gleichbedeutend war mit Trinken & Rauchen. Bei Claudia die psychotische Ex auf dem Anrufbeantworter: Wann kommt er wieder? Ja. Ganz genau. Das war ganz genau das, was Claudia auch wissen wollte. Morgens. Um halb sechs.

Bis halb neun waren schon drei Stunden vergangen, Stunden, die in Claudias bisherigem Leben nicht vorgekommen waren und die sich hinzogen, als zählte ihr jemand die Sekunden einzeln auf. Das Kaffeehaus, wo sie ihren Kaffee trinken wollte, öffnete um zehn. Claudia ging nicht mehr hin, sie aß das, was die Kinder übrigließen – löchrige Eiswaffeln, abgeschnittene Brotrinden, das Braune der Banane. Wenn kein Mülleimer oder Papiertaschentuch zur Hand war, auch Ausgespucktes. Die Kinder waren Teil von ihr, also war das, was aus ihren Mündern kam, nicht unappetitlich, sondern lecker. Claudia leckte den Kindern die Gesichter sauber. Sie hatte enormen Appetit.

Am Abend klingelte die Gotel. Ob Claudia vielleicht ein paar Kürbiskerne zur Hand habe, Kürbiskerne zum Anrösten, zum Anrichten der Kürbiscremesuppe? Sie erwarte nämlich Gäste.

Nein, sagte Claudia und stellte sich schützend vor die Kinderzimmertür.

Keine Angst, sagte die Gotel, ich nehm sie dir nicht weg. Ich hör dich gar zu gerne singen, den ganzen Tag im Turm, nur bei den hohen Tönen musst du noch üben, sonst kommt er nicht zurück, dein königlicher Kerl. Sprach’s und verschwand im Treppenhaus.

Soviel zu Essen & Trinken. Beziehungsweise Trinken & Rauchen. Sobald die Kinder schliefen oder sich auch nur zehn Minuten am Stück mit sich selbst beschäftigten, musste Claudia sich eine anzünden. Um den Abstand zu sichern, die Erwachsenenwelt zu bewahren. Zwei Minuten Ruhe, zwanzig Züge Unabhängigkeit, Unverfügbarkeit, Selbstbestimmung. Warte, bis Mama die aufgeraucht hat! Die Zigarette gestattete es ihr stillzuhalten.

Sie genoss die mahnenden Blicke der Mitmütter, deren Familienleben vorgezeichnet schien. Oh ja, sie war anders. War schlecht und schlampig. Keine Sandelförmchen im Gepäck! Zigaretten! Und der Kerl ein Tunichtgut, einer, dem man’s nicht ansah, dass er ein Ernährer war. Kein Kombi, ein Tourbus! Gut gemacht, Claudia!

Röchelnder, rächender Raucherhusten. Die hohen Töne rückten in immer weitere Ferne, wurden ersetzt von schleimigem Auswurf. Die Kinder brachten seltene Grippeviren aus der Kita nach Hause, Claudia wurde krank. Vielleicht war’s auch weiterhin der Eisenmangel, Claudia aß Feldsalat, Feldsalat mit roten Beten, Feldsalat mit gerösteten Kürbiskernen, die sie der alten Gotel vorenthalten hatte. Die grüßte nicht mal mehr. War beleidigt. Claudia trank allein. Gläschen Wein am Abend, passend zur Zigarette.

Ja, ja, du hast Recht. Es gab auch andere Seiten. Den Anblick der Kinder, wenn sie schliefen. Die kurzen Phasen zwischen den Grippeviren, wenn Claudia sich stark fühlte wie ein Pferd. Diesen Karren würde sie allein aus dem Dreck ziehen! In zwanzig Minuten konnte sie die komplette Wohnung auf Hochglanz polieren, Trinken & Rauchen, Glasreiniger & Backofenspray. Claudia war high. Steckte die Nase ins Küchentuch und sank auf das Sofa.

Die alte Gotel, fragst du? Ja, das ist die, in deren Garten der Feldsalat wuchs. Die, die alles besser wusste, Claudias Nachbarin, Claudias Mutter, die Mitmütter, die Super-Nannies, die Kita-Tanten und so weiter. Eine, die die Kinder abholen würde, um dafür zu sorgen, dass sie nicht wurden wie Claudia, und nein, natürlich wünschte Claudia sich das nicht, Claudia würde nie im Leben auf ihre Kinder verzichten wollen. Ehrlich nicht. Ich muss es schließlich wissen.

Es gab keinen Ausweg.

Ohne Kinder hätte Claudia sich Kinder gewünscht. Mit Kindern wünschte sie sich den Tod.

Diesen Ort, an dem sie aufwachen würde mit nichts als dem sanften Grundrauschen im Ohr, das erklingt, wenn die Musik vorbei ist. Oder noch nicht eingesetzt hat. Heiner wäre da, aber unaufdringlich, eine Hand in ihrem Haar, die sich abschütteln ließ, falls nicht der richtige Zeitpunkt war. Noch nicht, mein Liebling, lieber schlafen. Sie wusste ja, dass es so nicht sein würde. Der Tod war genau so grausam und unerbittlich wie ein Zweijähriger am Sonntagmorgen. Aufstehn!

Sie fürchtete sich vor dem Tod. Was, wenn ihr alle Haare ausfielen? Die Parodontose fortschritt, das Hüftgelenk nicht mehr mitmachen wollte? Sie würde auf die mittleren Jahre zurückblicken wie auf eine besonders köstliche Zeit: junge Familie, die Kinder noch klein und unbeschwert. Nicht wirklich dank-, dafür aber noch formbar. Noch in dem Wunsch gefangen, ihre Freunde zu sein.

Apropos Freunde: Nehmen wir die Menschen und teilen sie in Gut und Böse. Wobei wir feststellen müssen: Nichts währt für ewig!

Heiner hat sich als Feind entpuppt, wohingegen die alte Gotel, unsympathische Vettel, mahnende Mitmutter dann doch noch ganz hilfreich war. Hat jeden Donnerstagabend die Kinder genommen, damit Claudia zu den Anonymen Alkoholikern gehen konnte, zur Gymnastik nach der Rückbildung, bei der die Hebamme dann schon ganz andere Töne anschlug. Wer jetzt nicht trainierte, würde inkontinent werden! Windeln tragen, wenn die Kinder längst aus den ihren hinaus wären! Beckenboden anspannen, absenken.

Die neue Hebamme war knapp über sechzig, aber hart und braun und biegsam wie ein Ast. Techno statt Harfenklängen, Peitschenhiebe statt Räucherstäbchen. Claudia wurde ihr hörig.

Anspannen! Absenken! Anspannen! Absenken!

Sie trainierte bis zum Umfallen. Lag dann da.

Die Hebamme drückte ihr die Hand in den Bauch. Was soll das sein, hä? Pudding oder Muskeln?

Heiner wollte betrogen werden, anders war seine Abwesenheit nicht zu erklären, also ging Claudia mit der Hebamme ins Bett. Und fand heraus, dass sie den Beckenboden bislang an völlig falscher Stelle vermutet hatte.

So, sagte die Hebamme und schüttelte die Laken auf. Claudia spürte in sich hinein. Dort? Oder dort? Was war das denn nun, was in ihrem Unterleib herumpolterte? Die Hebamme hob die Hände und sagte, na, was meinst du, wie viele Kinder hab ich damit schon zur Welt gebracht, hä? Tausend, über tausend, das letzte war Nummer Eintausendunddrei.

Claudia erschrak. Da waren sie, die späten Jahre, in Gestalt der Hebamme und ihrer holzharten Hände. Liebe? Ist gleich Macht. Und Arbeit? Durchzählen. Achtunddreißig Jahre Berufserfahrung, Eintausendunddrei! Essen & Trinken? Gar nichts mehr. Der Kühlschrank der Hebamme war leer, sie zehrte aus sich selbst, war ein Baum, ein Kamel mit Höckern voll Reserven – im Passgang walzte sie durch die Wüste, stetig und gleichgültig. Als sie endlich doch noch schlief, nahm Claudia ihre Trainingstasche und ging nach Hause.

Draußen nahte schon der Tag. Der Tourbus parkte vor dem Haus; Heiner hatte die Gotel, Gott sei Dank, längst abgelöst. Auf der Spüle welkte ein Häufchen Feldsalat in steifer Plastikschale vor sich hin, jene Sorte, die nie ein Feld gesehen hat und deshalb nicht gewaschen werden muss. Heiner war wieder da, und Claudia legte sich neben ihn, lauschte seinem knirschschienengedämpften Zähneknirschen, zählte die Sekunden, bis die Kinderzimmertür geöffnet wurde, pünktlich um halb sechs.

Da standen sie, ihre Sonnenscheinchen, und zogen ihr erbarmungslos die Bettdecke weg.

Was meinst du? Wie? Ich hab mich verfranzt?

Ja, ehrlich, das stimmt. Und Claudia erst!

Lange dauerten die Stunden von halb sechs bis halb neun, und schnell gingen sie vorbei, die Sekunden der Erkenntnis.

Heiner, die Hebamme, die Hundewelpen und das Harken – in späteren Jahren würde sie darauf zurückblicken, denn immerhin stand es jetzt hier, schwarz auf weiß in der Grausamen Chronik. Ob das half? Sie wusste es nicht. Aber ihr Stichwort war nun mal Arbeit, und die war hiermit erledigt.

Wenn du willst, kannst du weiterblättern.

BEI DEN WÖLFEN

Beim Holzholen ist Gunda heute Morgen ein großes Scheit auf den Handrücken gefallen. Jetzt hat sie einen Bluterguss mit einer kleinen, dunkelroten Blase obendrauf. Christian mag nicht hinsehen. Schon ohne Bluterguss nicht. Er sieht Gunda lieber als Ganzes. Einzeln betrachtet jagen ihre Körperteile ihm Angst ein, ganz besonders die Hände, trocken und fleckig; solche Hände haben alte Frauen, solche Blutergüsse auf dem Handrücken haben alte Frauen von den Infusionsnadeln, solche Hände mit solchen Blutergüssen werden über hellgelb bezogenen Krankenhausdecken gefaltet, wenn alte Frauen tot sind.

Christian fegt den Kamin in der Küche aus. Wenn die anderen vom Spaziergang kommen, muss das Feuer brennen. Im Schein des Feuers und als Ganzes betrachtet, sieht Gunda keinen Tag älter aus als vierzig.

Er knüllt Papier zum Anzünden zusammen. Hochglanzpapier brennt nicht gut, aber deutsche Zeitungen gibt es nicht im Supermarché in Gérardmer, nur den Stern und die Bunte. Vielleicht könnte er es morgen mit einer Libération versuchen, schließlich sind sie jetzt vier Tage hier und hören beim Autofahren immer französische Sender.

 

»Lass mich«, hat Gunda heute Morgen gesagt, als Christian in den Schuppen gelaufen kam, um zu sehen, was passiert war. Entweder sie weiß, wie viel Überwindung es ihn kostet, sie zu pflegen, oder sie hat irgendeine dumme Vermutung, was vergangene Nacht im linken Schlafzimmer vor sich gegangen sein könnte. Christian stochert in dem matt kokelnden Zeitschriftenpapier. Schwarze Flocken steigen hoch; natürlich ist nichts passiert, darum geht es auch nicht beim allabendlichen Auswürfeln der Schlafzimmer. Worum es geht, weiß Christian auch nicht. Es war Wolfgangs Idee, gleich nachdem sie angekommen waren.

»Du brauchst nicht glauben, dass Renate und ich wieder freiwillig ins Kuhstallzimmer ziehen«, hat Wolfgang gesagt und sein Gepäck im Flur stehen lassen.

Das Kuhstallzimmer ist das Schlafzimmer von Christians älterer Schwester und besonders unbeliebt bei seinen Freunden. Niemand will in den Zimmern der Geschwister wohnen, mit denen Christian sich das Ferienhaus im Elsass teilt, alle wollen am liebsten Christians und Gundas Schlafzimmer haben, das mit den Nesselvorhängen und Nussbaumbetten. Im Kuhstallzimmer gibt es Melkschemel als Nachttischchen, und im Zimmer von Christians Bruder Metallbetten vom Baumarkt und geblümte Stoffschränke.

»Ich kann nichts dafür«, sagt Christian jedes Mal, wenn er mit Wolfgang und Renate, Hans und Katrin herkommt, und sie kommen oft her, mindestens einmal im Jahr. Bisher hat es immer gereicht zu betonen, dass er selbst am meisten leide unter dem schlechten Geschmack seiner Geschwister, aber diesmal hat Wolfgang das nicht gelten lassen und ein Rotationssystem vorgeschlagen. Dass man dann nicht mal mehr als Paare, sondern jeder für sich allein würfeln sollte, klang nur logisch und modern, jedenfalls aus Wolfgangs Mund. Hans sah versonnen auf die Tischplatte und Katrin ungeduldig aufs Gepäck. Gunda war die einzige, die sich sichtbar gegen den Vorschlag sträubte: »Da können wir ja gleich Flaschendrehen spielen.«

»Mach schon«, hat Christian zu ihr gesagt, und dann haben sie beide für die erste Nacht ihr eigenes Schlafzimmer erwürfelt.

»Bist du jetzt enttäuscht?«, hat Gunda gefragt, als sie nebeneinander in den Nussbaumbetten lagen, und Christian war sicher, dass sie selbst enttäuscht war. »Ja«, sagte er. Aber da schlief sie schon.

Wenn die andern vom Spaziergang kommen, muss das Feuer brennen. Ohne das Feuer wäre der ganze Urlaub nichts wert. Christian versucht es mit den Resten des Osterstraußes, den seine Schwester zum Vertrocknen auf dem Küchentisch hat stehen lassen.

»All die Gräser und Zweige, die man hier finden kann.« – Was für ihn das Feuermachen ist, ist für seine Schwester sorgfältige Landhausdekoration. Sie plündert die Antiquitätenläden an der Route Nationale und holzt ganze Sträucher ab, um das Ferienhaus damit vollzustopfen. Schon lange kommen sie nicht mehr gemeinsam her, auch sein Bruder nimmt lieber Freunde mit, anstatt mit Christian oder der Schwester Urlaub zu machen.

»Wilder Thymian, hier Christian, riech mal!« – Sie ist acht Jahre älter als er und war noch nie im Krankenhaus. All die Gräser und Zweige, dazu Blutreinigungstee und Bernsteinketten, keine Zigarette, nicht mal ein Feuer in der Küche des Ferienhauses.

»Was heizt ihr denn die ganze Zeit bis in den Hochsommer?« – Der Bruder hat den französischen Nachbarn dazu abgestellt, das Holzlager regelmäßig aufzufüllen, »Dreißig Francs billiger der Kubikmeter, Christian, also hör mal …«

Als die Neffen noch klein waren, ist Christian gern mit seinem Bruder hier gewesen. Da ließ sich alles als Kinderprogramm behaupten: Feuermachen und Nutella-Baguette, Nachtwanderung und Spinnenjagd. Jetzt muss er aufpassen, nicht entlarvt zu werden: In Wahrheit hat er das immer schon zu seinem eigenen Vergnügen gemacht.

Christian schiebt Stücke von Eierkarton zwischen die Weidenkätzchen.

So ein Feuer ist besser als Fernsehen. Man guckt rein und kann an alles Mögliche denken, hier und da legt man nach und bläst und schließt mit sich selbst kleine Wetten ab, welches Ende des dicken Astes zuerst Feuer fängt. Es brennt jetzt. Er hat es zum Brennen gebracht. Es geht erst wieder aus, wenn er es nicht mehr beachtet.

»Hier waren doch irgendwo Schnapsgläser?« Gunda hat Schlüsselblumen vom Spaziergang mitgebracht.

Christian schneidet Salami, während Hans und Katrin den Tisch fürs Abendessen decken.

»Schönes Feuer«, sagt Wolfgang und wirft seine Jacke auf die Bank am Kamin. »Hunger hab ich.«

Gunda legt das Schlüsselblumensträußchen vor Christian auf den Tisch.

»Keine Gräser und Zweige auf meinem Abendbrottisch!«, sagt Christian und hält Gunda die Salami hin. »Hier, riech mal.«

Gunda verzieht das Gesicht. »Riecht nach Sperma. Wo sind die Schnapsgläser?«

Christian zuckt die Achseln. »Hat jemand von den anderen weggeworfen. Außer uns trinkt hier keiner Schnaps.«

»Ich trink keinen Schnaps, ich brauch eine Vase.« Gunda rückt einen Stuhl vors Buffet, um hinter die nicht benutzten Teekannen sehen zu können.

Christian grinst. Die Vasen hat er selbst weggeworfen, ein halbes Dutzend winziger Zinnvasen, die das Fenstersims in der Küche zierten. An Schlüsselblumensträußchen hat er nicht mal gedacht dabei, sondern an seine Urlaubskrimisammlung, die letztes Mal, als er hier war, nicht mehr im Wohnzimmerregal, sondern in einem Karton in der Scheune gestanden hatte.

»Guck in der Scheune nach«, sagt er zu Gunda, »und nimm diese hässlichen Kannen mit.«

Wolfgang macht die erste Flasche Wein auf.

»Wir haben Wildschweinspuren gesehen«, erzählt Katrin mit Salami im Mund.

»Die sind vom letzten Jahr«, sagt Christian.

»Woher willst du das wissen? Du warst doch gar nicht dabei.« Wahrscheinlich hat Wolfgang sich auf dem Spaziergang wieder als Wildkenner aufgespielt.

»Das sagt man so zur Beruhigung«, sagt Christian und fixiert ihn. »Und weil hier noch nie jemand ein lebendes Wildschwein getroffen hat.«

Katrin zuckt die Schultern. »Ich steh morgen ganz früh auf und geh noch mal hin. Wenn man Tiere sieht, dann morgens.«

Das Baguette ist zäh. Katrin sollte morgens lieber Brot holen gehen, statt auf Wildschweine zu warten, die nicht kommen werden. Christian sieht Hans auf die Zahnhälse, die die Parodontose freigelegt hat. Vorgestern ist er mit ihm im Kuhstallzimmer gelandet und weiß deshalb jetzt auch, was für Pyjamas Hans trägt. Solche aus dehnbarem Stoff, mit V-Ausschnitt und kleinen stilisierten Kronen auf dem Oberteil. Christian musste die Augen schließen und sich auf alles konzentrieren, was er an Hans mag, wofür er ihn schätzt oder gar bewundert: seine Großzügigkeit und Ruhe, sein lückenloses Wissen über die k.u.k.-Monarchie, seinen Eifer beim Holzhacken. Er hat versucht, sich Katrin vorzustellen, wie sie ihre Nase in die grauen Haare wühlt, die aus dem V-Ausschnitt vorschauen, dann tief einatmet und erregt die Decke wegstrampelt. Es half; als Christian die Augen wieder aufmachte, mochte er Hans auch im Pyjama und konnte beruhigt einschlafen. Die Zähne allerdings sind nicht zum Aushalten. Hans’ Zähne, Gundas Handrücken – die Versehrtheit, die schleichend Einzug gehalten hat.

Christian weicht mit den Augen auf Wolfgang aus, der hebt sein Glas. Wolfgang hat keinen Körper, der ihm bei irgendwas im Weg sein könnte, Wolfgang ist trinkfest und integer.

»Prost!«, sagt er. Und: »Habt ihr schon mal daran gedacht, einen Pool anzulegen?«

»Pool?«, quietschen Renate und Gunda gleichzeitig.

»Man könnte die Scheune ausschachten, das wäre doch großartig.«

»Du spinnst«, sagt Christian, »was meinst du, was das kostet.«

»Ach je«, sagt Wolfgang, »seit wann ist das das Problem?«

»Hier immer«, sagt Christian, »hier geht schließlich alles durch drei.«

Wolfgang kennt Christians Geschwisterstreitigkeiten seit zwanzig Jahren. Genau wie alle anderen am Tisch.

»Geld haben heißt nicht, Geld ausgeben können«, sagt Gunda weise. »Im Gegenteil.«

»Inwiefern Gegenteil?« Katrin ist sich nie zu schade, das auszusprechen, was alle wissen und auf keinen Fall mehr diskutieren wollen. »Wachsam bleiben« nennt sie das oder »Hinsehen«. Christian fixiert sie über sein erhobenes Glas hinweg, damit sie wenigstens einmal den Mund hält. Es nützt nichts.

»Hat das Haus ohne Pool etwa nichts gekostet?«, fragt sie spitz.

Alle hier haben Geld, auch wenn Christian nicht genau weiß, wie viel. Vielleicht hat er selbst am meisten, und sicher ist, dass seine Geschwister noch mehr haben.

»So ein Pool wäre auch nicht teurer als der Terrakottaboden hier.« Katrin stampft unter dem Tisch auf. »Aber geht natürlich nicht. Pool! Wie neureich!«

Christian hofft, dass niemand in die Diskussion einsteigt.

Es steigt niemand ein.

Ein Feuer ist besser als ein Pool. Drumrumsitzen und trinken kann man auch, muss sich aber nicht ausziehen dafür. Christian steht auf und legt Holz nach, während die anderen die Teller zusammenstellen und beschließen, heute nicht mehr abzuwaschen.