Loe raamatut: «Kleine Gespenster»

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Anna Siebenstein

Kleine Gespenster

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Prolog

Erster Teil

Zweiter Teil

Dritter Teil

Epilog

Impressum neobooks

Prolog

Prolog

Simon sitzt auf der schäbigen Bank vor der "Arche Noah" und blinzelt in die Sonne.

Er denkt an seine Frau und daran, dass sie eigentlich schon lange nicht mehr fehlt. Er denkt an Bilder, die sprechen, und an tote Zwillinge. An Lissa und Maik. Und er denkt darüber nach, was er mit alledem zu tun hat. Aber er kommt nicht darauf.

Alles löst sich auf in seinem Kopf, und jeder Gedanke, den er zu halten versucht, verliert sich ins Nichts.

Es macht alles keinen Sinn, denkt Simon. Alles keinen Sinn.

Und er überlegt, ob er aufstehen und irgendwo hin gehen soll, aber er weiß nicht, wohin. Also bleibt er sitzen, und die Sonne wandert weiter.

Erster Teil

1.

Noch 6 Kilometer, zeigt das Navigationsgerät an. Leos Bus wackelt und röhrt und holpert durch einen Nachmittag, der gar keiner ist, und es würde mich nicht wundern, wenn er kurz vorm Ziel doch noch den Geist aufgeben würde.

Es ist, obwohl Spätsommer, so dunkel draußen, dass Leo das Licht angeschaltet hat. Regen peitscht die Straße und hämmert auf die Windschutzscheibe.

Wie gut, dass ich so wenig Dinge besitze. Sonst müssten wir den ganzen Krempel durch das Wetter da draußen schleppen.

Dieses Auto konnte mich noch nie leiden, da bin ich mir sicher. Wann immer Leo dabei war, war es lammfromm und beugte sich zahm meinem Willen, wenn ich mich hinter das riesige, von buntem Plüsch umhüllte Lenkrad klemmte. Aber kaum hatte er uns den Rücken zugewandt, kaum war er außer Sicht- und Hörweite – da versagte mit einem genüsslichen Gurgeln der Motor, entledigte sich der Wagen mit großer Selbstverständlichkeit seines Auspuffs, versank das Fenster auf der Fahrerseite mit einem kleinen, ärgerlichen Geräusch komplett in der Tür. Letzteres geschah selbstverständlich im Winter.

Ich rief Leo an und petzte, was dem Bus vollkommen klar sein musste. Leo eilte pflichtschuldigst herbei, um nach seinen Streithähnen zu schauen.

Deine Aura, sagte er dann immer, küsste mich und tätschelte den Bus, zu dem er ein sehr persönliches Verhältnis pflegte.

Deine alte Scheißkarre, hielt ich ihm entgegen. Aber eigentlich glaube ich auch, dass es meine Aura ist. Die hat so einiges auf dem Kerbholz.

Ich merke plötzlich, wie müde ich bin nach den letzten Tagen. Leo wirft mir immer wieder Blicke von der Seite zu. Je weiter wir aus der Stadt herausfahren, desto öfter. Ich schließe die Augen, aber der Satz kommt trotzdem, als es noch 3 Kilometer sind bis zu dem Haus, in das ich mich unsterblich verliebt habe:

"Lissa, wir haben es noch nicht ausgesprochen."

"Was?", murmle ich. Ich bin müde, signalisiere ich. Totmüde. Es ist nicht der richtige Zeitpunkt für solche Gespräche.

Aber eigentlich wissen wir beide sehr gut, dass es keinen richtigen Zeitpunkt für solche Gespräche gibt. Vor allem nicht mit mir. Ich weiß das am allerbesten. Ich habe Erfahrung in solchen Dingen. Ich habe das alles schon sehr oft erlebt, aber einen richtigen Zeitpunkt hat es irgendwie noch nie gegeben ...

"Schau mich an."

"Du musst auf die Straße sehen", sage ich und füge hinzu: "Du hast schließlich äußerst wertvolle Fracht an Bord", aber meine Ironie versandet irgendwo zwischen mir und ihm, und er sagt unbeirrt:

"Das ist eine Trennung, nicht wahr?"

Ich schweige. Ich zünde mir eine Zigarette an. Ich bin eine Meisterin in so etwas. Im Hinauszögern von Antworten. Im Winden und Selbst-nicht-wissen und Offen-lassen.

"Wir werden es sehen, Leo. Vielleicht tut uns die Distanz ganz gut."

"Ich hätte keine Distanz gebraucht, Lissa. Das weißt du."

Nun sieht er mich doch an, und ich starre demonstrativ auf die Straße und rufe "Vorsicht", als dreihundert Meter von uns ein müder alter Hund entlangschlurft.

"Ich fahre dich hier in die letzte Ecke dieser verdammten Stadt, weil du das so willst, aber ich hätte keine Distanz gebraucht."

Ich rauche.

"Ich liebe dich, Lissa. Und ich habe mir immer gewünscht, dass du mich brauchst. Aber ich glaube, du brauchst niemanden auf der Welt."

Warum tut er das jetzt? Eben haben wir noch einhellig über Musik geplaudert! Jetzt geht es plötzlich so pathetisch zu. Und dann diese kleine, wütende Bewegung, Handrücken auf Wange, dazu einmal kurz und scharf die Nase hochgezogen. Ich kenne das alles.

Er hat recht. Ich brauche niemanden. Niemanden, der hier auf dieser Welt ist.

Schade, dass Leo so nett ist. Das tut mir leid.

Noch 200 Meter. Am Ende der Straße tauchen die Giebel meiner neuen Heimat auf: Kapellengässchen 23. Ich drücke die Zigarette aus und beuge mich nach vorne, um dieses Auftauchen voll auszukosten.

Ich weiß nicht so genau, was es ist, aber noch bevor ich meine zukünftige Wohnung das erste Mal betreten habe, dachte ich: Das ist es. Das ist das Haus. Da will ich leben.

Das hatte ich noch nie vorher. Der Mietvertrag war praktisch unterschrieben, bevor ich einen Fuß hineingesetzt hatte.

Ich war gar nicht so aktiv auf der Suche. Das hatte auch nichts mit Leo zu tun. Ich habe hin und wieder mal Anzeigen studiert, eher als Hobby, und diese klang toll, und das war es dann.

"Das letzte? Auf der linken Seite?", fragt Leo, aber ich antworte ihm nicht. Ich starre noch. "Riesiger Kasten, was?", sagt er.

Ja, es ist groß. Und total verspielt. Hier mal einen Erker angebaut, da mal ein Türmchen, da einen Balkon. Ganz oben habe ich beides: Einen Turm und einen Balkon. Das alles zu einem Mietpreis, der sich eher liest wie ein Garagenstellplatz – in der Innenstadt, zugegeben. Aber trotzdem.

"Ziemlich verfallen, Liss", murmelt Leo mit belegter Stimme. Passt doch zu mir, will ich sagen, aber ich spar mir das. Er ist niemand, den man ärgern möchte. Warum sollte ich ihm so etwas sagen. Ich lächle bloß auf eine Art und Weise, von der ich vage hoffe, dass sie zuversichtlich wirkt.

In der Tat mache ich mir keine Sorgen über solche Dinge. Dieses Haus und ich – das war klar. Das war einfach klar. Und ja, es ist ziemlich heruntergekommen. Aber es gibt wenigstens nichts anderes vor.

"Es ist ein ehrliches Haus", versuche ich es, aber Leo schaut mich bloß an, als ob ich nicht mehr alle Tassen im Schrank hätte.

Und auch das stimmt ja nun. Leo ist ein kluger Junge. Und schleppen kann er wie ein Maultier.

Die Wohnung ringt ihm dann doch Respekt ab. Sie ist groß. Sie wäre hell, wenn es draußen hell wäre. Und überall liegt schöner Holzfußboden, dunkelbraun und warm.

Zugegeben, die Wände brauchen einen Anstrich – aber das ist kein Problem. Ich habe ja nur drei Möbel, ungefähr. Die kann ich ein bisschen herumrücken beim Streichen. Und auch Bad und Küche müssen gründlich in die Mangel genommen werden. Aber ich habe alle Zeit der Welt.

Ein Neuanfang. Ich fange ganz langsam an. Ich bin nicht unbegabt in diesen handwerklichen Dingen, und manchmal mache ich sie gern. Gerade habe ich Lust darauf.

"Du wirst Hilfe brauchen", sagt Leo, gebückt, weil beladen mit meinen Dingen. Ich winke ab.

"Du musst nicht immer so hilfsbereit sein", möchte ich ihm sagen, er soll mal an sich denken, ich zum Beispiel denke unentwegt an mich – aber ich sage nichts.

Er fragt sich natürlich, was ich mit all dem Platz will. Schließlich sind wir nur dreimal nach oben gestapft, und jetzt ist alles wirklich wichtige hier. Aber auch dazu äußere ich mich nicht. Ich möchte die Rücklichter seines Busses im Regen verschwinden sehen. Dann schau ich in aller Ruhe weiter.

Der Flur riecht, wie ein Hausflur riechen muss: nach Holz, nach Staub, nach dem Essen, das meine neuen Nachbarn sich gekocht haben. Die Treppe wird nach oben hin immer schmaler, in meinen höchsten Stock hinauf windet sich nur noch eine knarrende Holzstiege. Der Hausflur ist durchbrochen von großen halbrunden Fenstern und von kleinen, runden Mosaikfensterchen, und im vierten Stock, kurz vor dem letzten Absatz, thront ein kleiner Erker, den allerdings ein staubig-trauriger Birkenfeigenbaum vollkommen in Beschlag genommen hat. Er starrt nach draußen, und ich fühle mitleidig seine Erde und bringe ihm Wasser.

Ich habe Leo meine Pflanzen geschenkt – sie mögen keine Umzüge. Ich überlege, welche Pflanzen ich brauche. Birkenfeigenbäume sind immer gut, denke ich.

Als erstes schließe ich meine Stereoanlage an. Abends zünde ich ein paar Kerzen an und schalte die Lampen aus, die mein Vormieter hinterlassen hat. Ich lege mich in meinem Türmchen auf die Erde und starre durch das Fenster nach draußen in den Nachthimmel. Mittlerweile ist es aufgeklart, und ein paar schüchterne Sterne blinken.

Ich bin glücklich. Ich bin voller guter Vorsätze. Ich werde mein Abitur nachmachen, und dann werde ich studieren – auf Lehramt, vielleicht, Lehrer suchen sie doch gerade wie bescheuert. Sprachen. Am liebsten Literatur. Oder Musik, oder Kunst. Ich werde tagsüber arbeiten und abends die Schulbank drücken, und ich werde nicht mehr von Leo abhängig sein und auch von keinem anderen.

Ich lausche auf die leisen Klänge, die sich aus dem Alltag der Menschen unter mir hinaufschummeln. Ein Fernseher. Ein Kinderlachen. Ein Knall – was auch immer. Ich lächle bei dem Gedanken, dass sich meine Alltagsgeräusche nun unter die der anderen mischen. Mit ihnen eine Alltagsmelodie ergeben, die für keinerlei Ohren gedacht ist, die keinen weiteren Sinn erfüllt.

Vielleicht bringe ich ein Schild mit meinem Namen unten an – dann werden sie neugierig darauf lugen und einen Moment hoffen, dass ihnen mein Name etwas darüber sagt, wer ich bin. Vielleicht werde ich aber auch eine ganze Weile keinen Namen unten anbringen. Eigentlich gefällt mit der Gedanke viel besser.

Ich fange gerne neu an. Ich mag es, wenn mein Leben in Bewegung ist.

Was Leo betrifft: Er konnte nicht ernsthaft damit rechnen, dass das lange hält zwischen uns. Ich meine, ich habe ihm nie etwas vorgemacht. Er kennt mein bisheriges Leben – den Flickenteppich, der sich so nennt. Als ich ihn kennen gelernt habe, hatte ich nicht mal eine Wohnung.

Menschen, die Anspruch auf Stabilität erheben, machen mich nervös. Ich wundere mich immer ein wenig darüber, mit welcher Selbstverständlichkeit sie ausgerechnet auf ihre Mitmenschen bauen wollen. Als ob es das alles nicht gäbe: Gefühle, die sich ändern, Krankheiten, Tode. Und trotzdem versuchen sie es immer wieder.

Ich habe Leo gesagt, dass ich immer einsam sein werde. Wenigstens bin ich mir darüber im Klaren.

Die Maschine gurgelt und schmatzt und weiht meine neue Küche mit dem Geruch nach frischem Kaffee ein. Ich habe kaum geschlafen und mir aus dem Schlafzimmerfenster den Sonnenaufgang angeschaut. Keine Wolke am Himmel heute. Nun drehe ich, die Kaffeetasse in der Hand, eine Runde durch meine neue Bleibe, um mir im Detail anzuschauen, was so getan werden muss.

Einiges. Aber ich habe ja Zeit. In anderthalb Wochen erst gehen die Kurse der Abendschule los.

Ich brauche Lappen. Reinigungsmittel. Farbe. Im Kopf mache ich eine Liste. Ich bin gespannt darauf, wie lange ich die Umgebung erkunden muss, um diese Dinge zusammenzubekommen.

Wie fände er es?

Nein!

Welche Ecken würden ihm am besten gefallen?

Ein kurzes Herzrasen – zu vertraut ist die Situation, als dass sie über weiche Knie weit hinausgehen würde. Ich sacke in der Küche in mich zusammen, lehne mich an die Wand, schlinge die Arme um meine Beine.

Nein – nein – nein.

Was würde er denken angesichts der großen Sonnenvierecke auf dem Boden, der verranzten Küche, der Aussicht auf das halb verfallene Hinterhäuschen, überwuchert vom Grün des Gartens?

Was habe ich gedacht? Was kümmert ihn ein Umzug? Kaum bin ich hier, erhält auch er Einzug. Streift mit mir durch die Wohnung, schaut mit mir nach draußen, lauscht mit mir Tom Waits' rauchiger Stimme. Und hinterlässt mich stets mit der Frage:

Was würde er denken? Was würde er sehen? Was würde er als erstes tun?

Er ist immer da. Aber immer in Form einer Frage, einer Leerstelle, einer fehlenden Hälfte.

Nein, ich bin nicht mehr erstaunt.

Ein paar Mal habe ich gedacht, es wäre vorbei. Und nun weiß ich, dass es nie vorbei sein wird. Eigentlich weiß ich es längst.

Ich werde mein Leben führen an der Seite eines Loches. Wenigstens das ist gewiss. Ich muss mich damit abfinden und den Rest einfach darum herum aufbauen. Wir zwei, das ist alles. Wenigstens sind wir wieder alleine.

Alles andere habe ich in der Hand: ein Abitur, ein Studium, ein Beruf.

Im Hinterhaus steht einer am Fenster und raucht. Gute Idee. Ich beschließe, noch ein wenig auf dem Boden in der Sonne zu sitzen und den Beginn meiner Renovierungsarbeiten noch etwas zu vertagen.

Erst mal ankommen.

2.

Maik öffnete die Augen und bereute das sofort. Die Sonne schien, das erste Mal seit Wochen, hatte sich auf seinem Sofa ausgebreitet und verursachte grelle Schmerzblitze in seinem Kopf. Maik stöhnte und drehte sich vorsichtig zur Wand.

Eine Viertelstunde darauf versuchte er es noch einmal, und dieses Mal ging es etwas besser. Eine ganze Weile begnügte er sich mit dem gelblich-weißen Wand-Ausschnitt, in den irgendwann eine Fliege hineinspazierte, die es sich zum Sport zu machen schien, den von ihm einsehbaren Bereich nicht zu verlassen. Sie vollzog Wege, die für ihn jeglicher Logik entbehrten, und hin und wieder blieb sie stehen, um mit einem hässlichen Summen die Hinterbeine andeinander zu reiben.

Warum machten Fliegen das eigentlich dauernd, das mit den Hinterbeinen?

Er fand keine Antwort, stützte sich vorsichtig auf und leerte die Wasserflasche neben seinem Bett zur Hälfte. Mit einem letzten, erschrockenen Gebrumm machte sich die Fliege aus dem Staub, so viel Aktivität hätte sie dem Giganten anscheinend nicht zugetraut.

3 Uhr nachmittags, verkündete sein Wecker teilnahmslos.

Maik sah an sich herab. Er trug Jeans und T-Shirt und hatte sich in den alten Schlafsack gerollt, der auf dem Sofa im Atelier lag. Sein Blick fiel auf den Tisch mit den Farben, Pinseln und Paletten und auf die zur Hälfte geleerte Flasche Whiskey.

Fabelhaft.

Er erinnerte sich nicht, wie er geschlafen, ob er geträumt hatte. Aber irgendetwas hing schal nach.

Die Fliege war jetzt über der Kommode unterwegs. Maik verfolgte ihre kleinen, nervösen Bewegungen. Sie wirkte wie aufgezogen. Wendete sich nach links, nach rechts, dann wieder nach links. Er hätte zu gerne gewusst, was in ihr vor sich ging.

"Mal so zehn Minuten Fliege sein", schoss es ihm durch den Kopf. Wär bestimmt eine heftige Erfahrung. So ganz ungefiltert, ohne diese verdammte menschliche Hirn, das sich bei jeder Gelegenheit einschaltete und seinen Senf dazugab.

Er setzte sich auf.

Sein Handy begann zu vibrieren. Er beobachtete aus dem Augenwinkel, wie es sich langsam auf den Rand des Wohnzimmertisches zuschob und sich dann, ohne dass er danach gegriffen hätte, in den Abgrund stürzte. Unten zuckte es weiter wie ein Fisch auf dem Trockenen.

Maik überlegte, welcher Wochentag heute war und ob es irgendwelche Verpflichtungen gab. Irgendwelche außer der, die sich aufdrängte, wenn er sich umsah: Sein Atelier sah aus, als hätte darin eine Bombe eingeschlagen. Leere Farbtuben mischten sich mit Coladosen, Aschenbechern, zerknüllten Tüchern; Flaschen lagen herum, alte Zeitungen, Bücher. Klamotten türmten sich auf der Erde. Die Glühbirnen funktionierten nur noch teilweise, statt sie zu ersetzen, hatte er auf Kerzen zurückgegriffen, die er noch in dem alten, riesigen Schrank fand – von dem er sich heute noch fragte, wie er ihn überhaupt hertransportiert hatte. Das schlug sich beim nächtlichen Arbeiten natürlich in der Farbwahl wieder, aber er empfand die Ergebnisse als interessant und überraschend.

Dass sich draußen langsam die Hecken vor die Fenster schoben, spielte auch eine Rolle. Eigentlich brauchte er Tageslicht. Aber er sagte sich, dass der Mangel daran Effekte erzeugte, die die Natur vorgab und wollte.

Ordentlich standen nur seine Bilder, in Reih und Glied an die Wand gelehnt, mit dem Leinwandrücken in den Raum und zusätzlich noch mit Laken abgehängt. Ein einziges war sichtbar, das, an dem er gerade arbeitete: Er malte das Haus, in dem er lebte und in dessen Hinterhaus er arbeitete.

Mittwoch. Und: Keine Verpflichtungen. Zumindest glaubte Maik das. Er rollte sich schwerfällig vom Sofa und ging langsam, den Kopf vorsorglich von beiden Händen gestützt, zu dem Bild herüber.

Er hatte die halbe Nacht daran gemalt – oder die ganze? Aber er war nicht wirklich weitergekommen. Normalerweise waren seine schlaflos-durchmalten Nächte manisch, rastlos, dann musste er malen, hatte gar keine andere Wahl. Oder aber er ließ es sein, schlug sich die Nächte anders um die Ohren. Mit diesem Bild war es anders. Ja, er malte. Aber zu jedem Pinselstrich musste er sich zwingen. Es ging ihm einfach nicht von der Hand.

Unzufrieden stand er vor dem Stand der Dinge. Er hatte sehr wohl ein Bild des Hauses in sich, dass er zu Papier bringen wollte. Aber es gelang ihm einfach nicht. Das Haus wirkte leblos, fad. Nicht des Betrachtens wert. Irgendein Haus. Irgendwo.

War er zu streng mit sich?

Er zuckte die Achseln.

Das Haus, in dem er lebte, war lebendig. Es hatte seinen eigenen Kopf, seinen eigenen Charakter. Es war störrisch, skurril, eigen. Und unheimlich. Aber das, was er auf die Leinwand gebannt hatte, war nichts von alledem.

Er hatte eine düstere Ahnung, woran das lag. Angesäuert fingerte er nach seinen Zigaretten, die die Nacht in seiner Hosentasche verbracht hatten und entsprechend flach gedrückt zum Vorschein kamen.

Zeit für einen Kaffee.

Vielleicht würde ihn später der Drang überkommen, Ordnung zu schaffen. Immerhin schien die Sonne, was lange nicht mehr der Fall gewesen war. Erst einmal war er froh, als die Ateliertür hinter ihm zufiel.

Frische Luft.

Er stapfte zum Haus hinüber. Um auf die Straße zu gelangen, musste er es durchqueren, der Garten war komplett von einer Mauer umgeben.

Im Flur begegnete ihm ein Mädchen, Mitte Zwanzig, würde er schätzen. Sehr dicker Anorak, sehr kurzer Rock, sehr bunte Strumpfhose. Schwarze, kinnlange Haare und ein Pony, der ihr etwas Cleopatra-Artiges verlieh. Unter diesem Pony starrte sie ihn an.

Interessantes Gesicht. Er nickte ihr kurz zu.

Sie nickte zurück, eine seltsame Geste: gepaart mit einem Ausdruck, der irgendwie trotzig war, fast wütend, als hätte er sich das Nicken sparen können. Einen Augenblick war er irritiert, dann dachte er wieder an das Mettbrötchen, das ihm den Einstieg in diesen – zugegeben schon ziemlich angeknacksten – Tag erleichtern sollte.

Wahrscheinlich, fiel ihm auf dem Weg zur Bäckerei ein, war sie in die Wohnung vom alten Ede gezogen. Der war vor einiger Zeit gestorben und hatte drei Tage oben im Dachgeschoss gelegen, bevor es jemand gemerkt hatte. Ob sie das wusste?

Die Leidende

 Hörst du mich? Bist du da? Sprich verdammt noch mal mit mir, das zumindest bist du mir schuldig!

Hörst du mich???

 Was willst du?

 Was ich will, fragst du mich? Was, zum Teufel, willst du? Das ist doch die Frage! Warum das Ganze?

 Warum brauchst du eine Erklärung?

 Ist das dein Ernst? Du schaffst mich. Machst mich zur unglücklichsten Gestalt, die man sich vorstellen kann. Und jetzt fragst du mich, warum ich eine Erklärung möchte für dieses Unglück?

Ich sitze hier, Tag für Tag, Bestandteil einer Welt, die ich nicht verstehe, die mir fremd ist. Ich trauere. Ich habe es ohne die Trauer versucht – es funktioniert nicht. Ich kann nicht anders, als zu leiden. Und das verdanke ich dir, dir alleine. Sag mir, warum ich leide! Sag mir, woher die Trauer kommt, und sag mir endlich, was du davon hast!

 Du trauerst, weil ich trauere. Weil ein Teil von mir Trauer ist. Und ich habe nichts davon, dass du es tust, ich habe keine Erklärung für dein Leid –

 Warum hast du mich geschaffen?

 Ich habe dich geschaffen, weil du in mir warst. Ich konnte nicht anders.

 Das erklärt nichts! Das erklärt rein gar nichts!

3.

Die neue Umgebung ist ganz nach meinem Geschmack. Ich weiß nicht, wann dieses verschlafene, halb verfallene Örtchen am Waldrand der Stadt einverleibt wurde, aber es hat den dörflichen Charakter vollkommen bewahrt. Beinahe mittelalterlich wirkt es, mit schmalen Gassen und Kopfsteinpflaster. Es gibt ein paar kleine Lädchen, ein, zwei Bäcker, drei Kneipen und wunderbarer Weise ein winziges Kino. Ich habe es nachmittags nur von außen bestaunen können, und hingen nicht das vielversprechende Schild draußen und einige Plakate, käme man im Traum nicht auf die Idee, dass das unscheinbare Häuschen einen Kinosaal beherbergt.

Ich beschließe, abends wiederzukommen, und schleppe meine Utensilien nach Hause.

Im Hausflur läuft mir ein ziemlich runtergekommener Typ über den Weg. Wirre braune Locken, seltsamer Blick. Mit Farbe bekleckste Klamotten – anscheinend ein Maler. Kaum älter als ich, schätze ich. Er kommt offenbar aus dem Hinterhaus – das muss der Mensch sein, den ich vorhin beim Rauchen beobachtet habe.

Irgendwie sieht er wirklich unheimlich aus. Aber das passt auch – welche Art von Nachbarn habe ich mir vorgestellt?

Ich stelle einen Plan in Sachen Wohnungsrenovierung auf, den ich ohnehin nicht einhalten werde. Wenn der Typ Maler ist, denke ich, vielleicht malt er mir was an die Wand? Eine Landschaft, etwas Abstraktes, ein paar Gestalten – was auch immer. Aber ich verwerfe den Gedanken so schnell wieder, wie er mir durch den Kopf gegangen ist. Den Kerl hier reinlassen? Lieber nicht.

Ich muss noch zweimal losziehen, bevor ich alles hier habe, was ich brauche, um die alte Hütte auf Vordermann zu bringen. Vielleicht ist ein Auto, das mir nicht wohlgesonnen ist, wie Leos Karre, doch besser als gar keins ... Aber jetzt ist es ja gut, Folien und Rollen und Farbeimer, alles ist da, und ich brauche nur noch die passende Musik, um loszulegen. Und ein Stück Sahnetorte für die erste Pause.

Die Küche bekommt eine rostrote Wand und das Schlafzimmer wird sonnengelb. Der Rest weiß – ein schönes, alles vergessen machendes Weiß, das sich wie Schnee über die hässlichen Male der Vergangenheit legt und sie nicht verdeckt, sondern verschwinden lässt.

Ein paar alte Möbel habe ich mit der Wohnung übernommen: einen Schrank, einen riesigen Esstisch, an dem ich mir völlig verloren vorkomme, ein paar Stühle. Und ein altes Sofa. Wem die Sachen vorher gehört haben, weiß ich nicht, ich denke mir Geschichten dazu aus.

Treibgut. Fremde Menschen, unbekannte Leben. Deshalb mag ich Flohmärkte auch so. Ich mag es, wenn mir solche Dinge in den Schoß geschwemmt werden. Ich bewahre sie eine Zeit lang auf, dann treiben sie weiter. Oder ich. Ihre wahre Geschichte gibt es nicht mehr, es gibt einfach unzählige Möglichkeiten.

Für meine Mutter habe ich mir auch diverse Möglichkeiten ausgedacht. Aber es sind keine schönen Möglichkeiten. Ich hasse meine Mutter. Auch wenn ich kaum Erinnerungen an sie habe.

Ihr Atem, der nach Alkohol riecht. Immer. Daran erinnere ich mich. Als Kind konnte ich das natürlich nicht so zuordnen. Und ihre Hände – rau, rot und faltig. Kein Trost war von ihnen zu erwarten für das desorientierte Kind, das ich damals war.

Ihre Wutanfälle. Einmal haben wir in der Schule Häschen gebastelt, aus Tonpapier. Ich habe ihr meins geschenkt, aber sie ist total ausgeflippt und meinte, ob wir nicht einmal was Sinnvolles machen können. Das sei doch reine Zeitverschwendung.

Und an das, was sie nicht gemacht hat, erinnere ich mich auch. Bei meiner Freundin Silvie gab es mittags immer warmes Essen. Das war für mich der totale Luxus. Das kannte ich gar nicht. Eigentlich konnte ich gar nicht viel mit Silvie anfangen, aber das Essen war super, also ging ich nach der Schule mit ihr nach Hause.

Silvies Mutter hat dann immer brav bei meiner angerufen, um ihr zu sagen, wo ich stecke. Aber das hat sie gar nicht interessiert. Wenn ich mittags nicht nach Hause kam, dachte sie eben, ich hätte Nachmittagsunterricht. Wenn ich abends noch nicht da war, glaubte sie, ich hätte noch Musik-AG.

Manchmal, wenn ich wirklich Schule oder AG hatte, rief sie dagegen panisch überall an auf der Suche nach mir, machte alle verrückt und blamierte mich zu Tode.

Mit acht bin ich in ein Heim gekommen. Und sie hat den Kontakt komplett abgebrochen. Geschlagene fünf Jahre später wollte sie mich unbedingt sehen, aber da wollte ich nicht. Seitdem ist sie für mich ein Name, erst im Telefonbuch, später im Internet.

Ihren Namen gibt es noch immer, in der Stadt, in der ich Kind war. Ich prüfe das regelmäßig. Ich bette ihn in fürchterliche Szenarien ein. Leberzirrhose im Endstadium, fürchterliche Kerle, die meiner Mutter das Leben zur Hölle machen, Dinge in dieser Art eben.

Es hat alles mit ihm zu tun. Mit ihm, meinem Zwilling, der nie das Licht der Welt erblickt hat. Sie hat ihn immer mehr geliebt als mich. Das war nicht schwierig: Immerhin war er tot, seit sie von ihm wusste. Ich dagegen, das schreiende, unglückliche Bündel, das Anspruch auf ihre Pflege erhob, ich trug die Schuld daran. Ich hatte zu viel Platz in Anspruch genommen, zu viel Nahrung, was auch immer. Sie hatte sich einen Sohn gewünscht, aber ihren Sohn hatte ich um sein Leben gebracht.

Nachdem ich zur Welt gekommen war, folgte er, flach wie ein Blatt Papier: Sämtliche Flüssigkeit aus seinem Körper war schon in den Kreislauf der Mutter zurückgekehrt. Er war das groteske Gegenteil von dem feisten, krebsroten Geschöpf, das ich war.

Wir haben eine sehr enge Bindung, mein Bruder und ich. Sein Tod ändert nichts daran. Gerade ist er mit mir in meine neue Wohnung eingezogen.

Ich frage mich ständig, wie er ist. Wer er ist. Und wie er zu mir steht.

Abends tut mir alles weh. In einem Altbau die Decke streichen, ist kein Spaß. Muskeln schmerzen, von denen ich nicht einmal geahnt habe, dass sie existieren ... Ich stelle mich lange unter die Dusche, die erst nur ein kaltes, rostrotes Rinnsal absondert, sich dann aber doch zu mehr überreden lässt. Dann mache ich mich auf den Weg zu dem Kino.

Heute Abend läuft ein Film über einen Balletttänzer, der sich in irgendeinem totalitären Staat um Kopf und Kragen tanzt.

Ich ziehe, schon etwas spät, vorsichtig die Eingangstür auf – und stehe mitten im Saal. Erschrocken schaue ich in einige Gesichter, flackernde Ovale in den Farben des Films, der auf der Leinwand rechts neben mir läuft.

"Hier", ruft jemand halblaut, und ich zucke zusammen und wende mich nach links. In einem winzigen Kassenhäuschen sitzt ein sehr kleines Mädchen und winkt mir zu.

"Willst du ein Ticket?", raunt sie.

"Bitte", flüstere ich zurück und nestle an meinem Geldbeutel.

Ich hole mir ein Bier und Erdnüsse, suche mir einen Platz und lasse mich in meinen Sessel fallen, so dass auch ich zu einem beleuchteten Oval werde. Kurz darauf rasselt das kleine Kassenmädchen mit dem Schlüsselbund und lässt sich neben mir nieder.

"Hi", sagt sie, grinst mich an und wendet sich dann dem Tänzer zu.

"Sag mal", sage ich nach dem Film zu ihr, "braucht ihr zufällig noch Unterstützung hier?" "Puh," sagt sie, "och ...", und bläst sich den blonden Pony aus der Stirn. "Eigentlich ergibt sich immer wieder was ... Lass doch einfach deine Handynummer da. Ich frag mal!"

"Super. Ich bin Lissa!"

"Nathalie. Hi."

Ich kritzele meine Nummer auf einen Zettel, den sie mir reicht, und stapfe dann zurück ins Dunkle. Mein Haus ist das höchste in der Umgebung und zeichnet sich finster vor dem Nachthimmel ab, sobald die Augen sich darauf eingestellt haben.

Im Hinterhaus brennt die ganze Nacht das Licht.

Um die Ecke gibt es eine kleine, inhabergeführte Bäckerei, und ich entdecke am Morgen, dass es dort hervorragende Nussecken gibt. Ein Frühstück, das einen gestärkt in den Tag entlässt, finde ich.

Die Bäckerin, eine Frau unbestimmbaren Alters mit ältlicher Dauerwelle und einem gigantischen Busen, legt diesen auf der Theke ab, um möglichst nah an mich heranzukommen, nachdem ich ihr gesagt habe, wo ich wohne.

"Da spukt es", verkündet sie mit großem Ernst und sieht mir in die Augen.

Ich verkneife mir ein Grinsen.

"Im Ernst?", sage ich bloß, und dann beginnt sie zu lachen, rau und so, dass ihr ganzer, gewaltiger Körper erbebt.

"Blödsinn", sagt sie, "aber das sagt man so. Das heißt es immer, wenn die Leute von dem Haus reden."

Ich nicke etwas verständnislos.

"Da spukt es doch nicht", fügt sie hinzu, als müsse sie mich beruhigen, noch immer lachend, so als habe sie mich gerade grandios an der Nase herumgeführt. "Aber die Leute, die sagen das so!"

Sie packt die Nussecke ein, nur um sich gleich darauf noch einmal vertraulich über die Theke zu legen.

"Kennen Sie den Maler schon?", sagt sie.

"Ich weiß nicht", erwidere ich vorsichtig. "Mir ist so jemand im Flur begegnet."

"Der Maler", sagt sie, "der hat sie nämlich nicht mehr alle. Ganz komischer Mensch ist das. Das sagen sie alle. Bin froh, dass der seine Brötchen woanders holt, das können Sie aber glauben!"

"Dann werde ich mich in acht nehmen", lächle ich, und sie nickt mit großer Ernsthaftigkeit. Dann stemmt sie die Arme in die Hüfte.

"Und Sie, was haben Sie hier so vor?", versetzt sie. Es klingt irgendwie herausfordernd. Offenbar komme ich keinesfalls in den Genuss, etwas über das Leben fremder Menschen zu erfahren, ohne Auskunft über mein eigenes zu erteilen.

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