Loe raamatut: «Im Sinne der Gerechtigkeit»

Font:


Anne Gold

Im SINNE der Gerechtigkeit



Alle Rechte vorbehalten

© 2020 Friedrich Reinhardt Verlag, Basel

Lektorat: Claudia Leuppi

Korrektorat: Daniel Lüthi

Gestaltung: Bernadette Leus

Illustration: Tarek Moussalli

eISBN 978-3-7245-2446-5

ISBN der Printausgabe 978-3-7245-2439-7

Der Friedrich Reinhardt Verlag wird vom Bundesamt für Kultur mit einem Strukturbeitrag für die Jahre 2016–2020 unterstützt.

www.reinhardt.ch

www.annegold.ch


Ungerechtigkeit an irgendeinem Ort bedroht die Gerechtigkeit an jedem anderen.

Martin Luther King

Inhalt

1. Kapitel

2. Kapitel

3. Kapitel

4. Kapitel

5. Kapitel

6. Kapitel

7. Kapitel

Kommissär Francesco Ferrari schaute aus dem Fenster seines Büros in den Innenhof. Seit Wochen ist es unheimlich ruhig. Nicht nur bei uns. Anscheinend geniessen sämtliche Mörder, Diebe und Räuber den extrem schönen und unverhältnismässig warmen Frühling. Ich kann mich nicht an eine solche Hitzeperiode im April erinnern, was natürlich wiederum alle Klimaaktivisten auf den Plan ruft. Die Erwärmung ist ein untrügliches Zeichen für die Veränderung des Klimas. Sobald die ersten Küstengegenden überflutet und unbewohnbar werden, setzt die nächste grosse Völkerwanderung ein. Der Mensch zerstört wissentlich seinen Lebensraum. Alle sind sich dessen bewusst, aber nur wenige tun etwas dagegen. Die Politik versagt total und verharrt in ihren veralteten Mustern, während die Klimaaktivisten demonstrieren, aber auch keine Lösung in der Tasche haben. Die Uhr tickt. Nach wie vor leben wir hier in der Schweiz im Paradies. Keine grossen Umweltkatastrophen, keine Terroristen, nur ab und zu ein Tötungsdelikt.

«Auf ein Wort, Ferrari.»

«Treten Sie ein, Herr Staatsanwalt. Hoffentlich mit guten Nachrichten.»

«Was für die einen gut ist, ist für andere negativ.»

«Also kein Mord? Schade.»

«Doch, es gibt einen, aber der Mörder wurde sozusagen in flagranti erwischt.»

«Was verschafft mir dann die Ehre Ihres Besuchs?»

«Kennen Sie einen Fabian Nader?»

«Nader? Nein, der Name sagt mir nichts. Wer ist das?»

«Der Mörder. Man fand die Tatwaffe bei ihm und er wurde verhaftet.»

«Behauptet er, dass er mich kennt?»

«Nein, nein. Ich dachte nur … Dann will ich Sie nicht länger stören.»

«Wie siehts mit der unheimlichen Mordserie aus?»

«Erinnern Sie mich nicht daran. Ich verfluche die Woche, als alles begann.»

«Wieso?»

«Ausgerechnet da waren Sie und Andrea Christ gemeinsam im Urlaub.»

«Gfeller und Imbach sind gute Ermittler.»

«Pah! Vier Morde und noch immer keine Spur.»

«Ich habe mir die Akten angeschaut. Es gibt keinerlei Verbindungen zwischen den Opfern, ein Serienmörder ist eher unwahrscheinlich. Man müsste die Fälle einzeln verfolgen.»

«Es gibt sehr wohl einen Zusammenhang.»

«Jetzt bin ich aber gespannt, was Kommissär Jakob Borer ermittelt hat.»

«Ich auch. Guten Morgen zusammen», gut gelaunt trat Nadine Kupfer, Ferraris Assistentin, ins Büro.

«Guten Morgen, Frau Kupfer. Alle Opfer wurden mit der gleichen Pistole erschossen.»

«Richtig. Mit einer alten Militärpistole.»

«Einer Parabellum 1900.»

«Was ist denn das?»

«Diese Pistole wurde von 1900 bis etwa 1948 als Ordonnanzpistole der Schweizer Armee abgegeben. Es ist ein Rückstosslader mit Kniegelenkverschluss und längst nicht mehr im Gebrauch.»

«Und mit solch einer Waffe wurden die vier ermordet?»

«Exakt. Alle durch einen Kopfschuss, eine richtiggehende Hinrichtung.»

«Nur gibt es keine Verbindung zwischen den Opfern. Der Mörder schlägt unverhofft und ohne System zu.»

«Vier Mal in den letzten zwölf Monaten. Ich wundere mich, dass sich die Medien noch nicht auf diesen Fall gestürzt haben. Gfeller und Imbach sind in einer Sackgasse gelandet. In welchem Fall ermitteln Sie im Moment?»

«Kommt nicht infrage. Wie gesagt, die beiden sind gut.»

«Also in keinem. Ich könnte mir vorstellen, dass Gfeller und Imbach nicht unglücklich wären, wenn sie den Fall abgeben könnten.»

«Nein.»

«Das bestimme immer noch ich. Sie lechzen geradezu nach einer Herausforderung und sie liegt vor Ihrer Nase. Also schnüffeln Sie daran.»

«Wie ein Trüffelschwein.»

«Ein guter Vergleich, Frau Kupfer. Nehmen Sie die Fährte auf. Selbstverständlich rede ich mit den beiden Kollegen. Ich werde sie davon überzeugen, dass ein neuer Wind notwendig ist. Vermutlich renne ich offene Türen ein. Im Vertrauen – Gfeller denkt daran, frühzeitig in den Ruhestand zu treten. Ich bin überzeugt, dass es mit diesem Fall zusammenhängt. Der belastet ihn stark … Eine hervorragende Idee. Warum bin ich nicht längst darauf gekommen. Dann will ich mal.»

«Weiss er es schon?», fragte Nadine.

«Nein. Er kennt ihn nicht einmal und das ist gut so. Sonst mischt ihr euch nur wieder ein. Der Fall ist gelöst.»

«Kann mich jemand aufklären, worüber ihr euch unterhaltet?», fragte der Kommissär.

«Fabian Nader wurde wegen Mordes verhaftet.»

«Das weiss ich. Er wurde in flagranti erwischt.»

«Wer sagt das?»

«Unser Staatsanwalt.»

«Das ist so nicht ganz richtig. Man fand bei ihm lediglich eine Pistole, die vermutlich die Tatwaffe ist. Beweise, die Nader des Mordes überführen, gibt es nicht.»

«Noch nicht. Letztlich wird man feststellen, dass es seine Pistole war. Sie sind gut informiert, Frau Kupfer.»

«Moment mal. Jetzt will ich es genauer wissen. Wer ist Fabian Nader?»

«Der Schwiegersohn von Hotz.»

«Von Mark Hotz?»

«Ja.»

Ferrari erhob sich und schritt zur Tür.

«Wohin wollen Sie?»

«Mit Mark reden und anschliessend mit seinem Schwiegersohn.»

«Das war zu befürchten. Sie sind imstande und zaubern einen anderen Täter aus dem Hut, nur um Ihre Freunde zu schützen. Sie sind wie Dr. Jekyll und Mr. Hyde, bewegen sich sowohl unter Milliardärinnen als auch unter dubiosen Gestalten. Bei diesem Mord handelt es sich bestimmt um einen Racheakt, der Schwiegersohn führt nur die Anweisungen des Paten aus. Aber jetzt sind die Typen zu weit gegangen. Wir werden den Sumpf trockenlegen. Dass Sie das alles mitmachen, kann ich nicht nachvollziehen, Frau Kupfer.»

«Die Unterwelt turnt mich an.»

«So genau wollte ich es nicht wissen. Machen wir einen Deal, Ferrari?»

«Und wie sieht der aus?»

«Ich gebe Ihnen achtundvierzig Stunden Zeit, im Fall Nader zu ermitteln. «48 Hrs.» – wie in der Komödie mit Nick Nolte und Eddie Murphy. Im Gegenzug entlasten Sie Gfeller und Imbach.»

«Was hältst du davon?»

«Ein fairer Deal.»

«Gut, die Abmachung gilt.»

«Sie können sich übrigens den Weg zu Hotz’ Schuppen sparen. Er ist im Gellert zu Hause, da wohnt anscheinend die ganze Familie.»

Ferrari sah sich den Zettel mit der Adresse an und zerknüllte ihn.

«Wir wissen, wo Mark wohnt.»

«Selbstverständlich. Das hätte ich mir denken können. Ich wusste, dass Sie sich nicht davon abbringen lassen. Sie können also zwei Tage ermitteln, werden keine neuen Erkenntnisse gewinnen und sich anschliessend dem Serienmordfall widmen, der mir laufend unangenehme Fragen einbringt. Eine wunderbare Win-win-Situation.»

«Und wenn wir im Fall unserer Kollegen auch nichts erreichen?»

«Dann, liebste Frau Kupfer, ist mein bestes Team gescheitert. Die Regierung wird das zur Kenntnis nehmen, und wir legen die Akten zu den ungelösten Fällen. Danach kann ich wieder ruhig schlafen, weil mir kein Regierungsrat mehr im Nacken sitzt. Worauf warten Sie, Ferrari, die Uhr tickt. Es sind nur noch … siebenundvierzig Stunden und vierzig Minuten bis High Noon.»

Auf der Fahrt ins Gellert dachte Ferrari an den Fall, in dem Mark Hotz eine tragende Rolle gespielt hatte. Damals, vor beinahe zehn Jahren, wurde die Enkelin von Staatsanwalt Borer entführt. Im Laufe der Ermittlungen lernten sie den Milieukönig Mark Hotz und seinen Freund Chris Habegger kennen, die ihnen entscheidende Hinweise zur Aufklärung des Falles lieferten. Und so entstand eine Freundschaft, was nicht allen im Kommissariat gefiel. Wie so oft nahm Ferrari das einfach zur Kenntnis. Gegen Gerüchte kommt man sowieso nicht an. Was solls. Die Leute sollen doch reden, was sie wollen. Nadine und ich haben schon einiges zusammen erlebt und die verrücktesten Fälle gelöst. Wir sind ein super Team. Unschlagbar. Sie ist prädestiniert für den Posten als Kommissärin, genauso wie Andrea Christ es bereits ist. Sogar noch eine Spur mehr. Verstohlen schaute er seine Kollegin von der Seite an.

«Nein, danke. Wenn du in Pension gehst, quittiere ich den Dienst. Dann übernehme ich Yvos Architekturbüro, er hat eh fast keine Zeit für das Administrative, und nerve ihn den ganzen Tag, weil er zu viele Spesen macht.»

«Du wärst eine super Kommissärin.»

«Ich will aber nicht. Ich bin eine sehr gute Nummer zwei und damit mehr als zufrieden. Und komm mir ja nicht mit mangelndem Ehrgeiz, dann läufst du ins Gellert.»

«Aber …»

«Ende der Diskussion. Einige Jährchen wirst du mir schon noch erhalten bleiben, bevor uns ein jüngeres Team abgelöst. Andrea und ihr Muskelmann stehen in der Startposition.»

«Daniel besteht nicht nur aus Muskeln.»

«Er erinnert mich ein wenig an dich, als ich bei dir anfing. Da ging oft die Post ab.»

«Es gab auch die eine oder andere Szene, wo ich dich ruhigstellen musste.»

«Stimmt.»

Nadine fuhr in einen Hof und parkierte ihren Porsche neben einem silbernen SUV. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis ein junger Mann im schwarzen Anzug neben dem Wagen stand. Nadine stieg aus und lächelte ihn zuckersüss an.

«Hier können Sie nicht parkieren. Das ist Privatareal. Sehen Sie das nicht?!»

«Ich darf das.»

Nadine drückte sich an dem jungen Mann vorbei und klopfte gegen eine Tür, während sich Ferrari umsah. Nicht schlecht. Mark liess von Yvo einen Quader mit sechs Häusern erstellen. Für jede seiner Töchter eines, das fünfte für sich und seine Frau und das sechste vermutlich als Gästehaus. Eine imposante Überbauung mit einem kleinen Privatpark und das mitten in der Stadt.

«Mein Name ist Ferrari, Francesco Ferrari», stellte sich der Kommissär vor und verhinderte so, dass der Jüngling hinter Nadine herrannte.

«Sie sind der Kommissär? Sorry, ich habe Sie mir ganz anders vorgestellt.»

«Sportlich, muskulös wie Sie und mit einer Pistole im Halfter?»

«Einfach anders.»

Mark Hotz trat aus dem Haus und umarmte Nadine.

«Ein seltener Besuch», wandte er sich an Ferrari.

«Es liegt halt nicht auf meinem Heimweg nach Birsfelden.»

«Du hast es gehört?»

«Ja, deswegen sind wir hier.»

«Maria bat mich, dich anzurufen, doch …»

«Du hättest den Rat deiner Frau befolgen sollen.»

«Ich wusste nicht, ob du kommen würdest. Leonie sitzt im Wohnzimmer, sie lässt sich nicht beruhigen.»

«Ist sie mit Fabian Nader verheiratet?»

«Seit zwei Jahren. Sie erwarten ihr erstes Kind.»

«Mark, so, wie uns der Staatsanwalt die Situation geschildert hat, ist der Fall eindeutig. Borer gibt uns trotzdem zwei Tage Zeit, keine Minute mehr. Erzähl uns, was passiert ist. Danach reden wir mit Nader. Aber bitte, erwarte keine Wunder.»

«Ich erwarte gar nichts. Dass ihr hier seid, übertrifft schon alles. Du kennst Jake noch nicht, er ist einer meiner Geschäftsführer.» Er winkte einen dreissig-jährigen, dunkelhaarigen Mann heran. Etwa einsneunzig gross, schätzte der Kommissär.

«Du hast dein Königreich in den letzten Jahren stark ausgebaut.»

«Das Vergnügen boomt. Die Leute haben immer mehr Freizeit. Sogar die Arbeitslosen besitzen genügend Kohle, um sich in einem meiner Schuppen zu amüsieren. Jake, das ist Kommissär Francesco Ferrari und die hübsche Braut, die ins Haus abgezischt ist, heisst Nadine. Wenn Francesco etwas verlangt, besorg es ihm. Ohne Diskussion. Egal, was er will.»

«Verstanden, Boss.»

«So, lasst uns reingehen.»

Nadine unterhielt sich bereits mit Leonie und Marks Freund Chris Habegger, der den Kommissär mit einer herzlichen Umarmung begrüsste.

«Und keinen Hotz Spezial für meinen Chef, nur einen Kaffee. Er trinkt keinen Alkohol mehr.»

«Zwischen euch hat sich nichts geändert. Höchstens, dass Nadine noch dominanter ist.»

«Das scheint nur so. Du bist Leonie, freut mich, dich kennenzulernen», wandte sich Ferrari an die zierliche Frau, die sich schwerfällig erhob. «Bleib doch sitzen. Im wievielten Monat bist du?»

«Im achten. Danke, dass ihr gekommen seid.»

Der Kommissär setzte sich zu ihr.

«Kannst du mir etwas über den Tathergang erzählen?»

«Es geschah im Büro von Fabian …»

Erst jetzt fiel Ferrari ein, dass er rein gar nichts über den Fall wusste, nicht einmal den Namen des Opfers.

«… aber das Opfer wurde beim Hammering Man am Aeschenplatz gefunden.»

«Fabians Büro befindet sich in der Langen Gasse», ergänzte Hotz.

«Das ist ein Stück weg vom Aeschenplatz. Nader gab zu Protokoll, dass das Opfer, ein Damian Schoch, ihn in der Kanzlei besuchte, wo es zum Streit kam. Als Schoch auf Nader losging, setzte er sich zur Wehr und schoss auf den Angreifer.»

«Jetzt einmal von Anfang an. Was ist dein Mann von Beruf?»

«Anwalt.»

«Er arbeitet praktisch nur für uns.»

«Und wer ist Schoch?»

«Eine ganz fiese Sau. Er schuldet uns eine Million. Es war dumm von Fabian, ihn zu killen.»

«Wie meinst du das, Chris?»

«Der stand ganz oben auf meiner Liste und hundertpro nicht nur auf meiner. Frag deinen Freund Rakic. Dem schuldet er noch bedeutend mehr Kohle.»

«Rakic? Ich kenne einen Rakic vom FCB her, der sitzt immer am Tisch nebenan. Ein biederes Männchen.»

«Das ist er. Ein fanatischer Fan. Er wollte vor Jahren bei deinem Club einsteigen.»

«Bevor ihr euch über den FC Basel unterhaltet, wieso schuldet er euch so viel Geld?»

«Wir wollten in Allschwil ein grosses Areal übernehmen, doch der Inhaber stellte sich quer. Schoch war ein guter Freund des Besitzers und so schmierten wir ihn.»

«Mit einer Million?»

«Ja, Rakic gab ihm anderthalb. Dieses Arschloch linkte uns eiskalt. Er dachte keine Sekunde daran, uns das Areal zuzuhalten, sondern versuchte, es sich selbst unter den Nagel zu reissen. Ohne Erfolg.»

«Mit eurem Geld.»

«Extrem dumm und total naiv von uns. Fabian verklagte ihn sofort, aber es war nichts zu holen. Angeblich verspielte er das Geld. Vor Gericht kam heraus, dass er auch bei anderen abkassiert hatte. Darunter waren mehrere Stiftungen und eine Pensionskasse. Der Prozess wurde wegen Befangenheit vertagt, weil der zuständige Richter mit der Präsidentin einer der involvierten Stiftungen liiert ist.»

«Ihr wart alle eine Spur zu gierig.»

«Dein Partner ist ein Wonneproppen, Nadine.»

«Deshalb bin ich so gerne mit ihm zusammen, Chris. Weshalb liegt Schoch nicht im Rechen von Kembs?»

«Weil wir unsere Kohle zurückwollen, Tote bezahlen ihre Schulden nicht.»

«Und wie wolltet ihr das anstellen?»

«Fabian wies ihn auf die Konsequenzen hin, falls er unsere Million nicht rausrückt.»

«Schön formuliert. Und dabei kam es zum Streit.»

«Wie würdest du Schoch charakterisieren?»

«Unberechenbar, ein Spieler und ein Kokser.»

«Auf so einen lasst ihr euch ein?», fragte der Kommissär erstaunt.

«Schoch wirkte überzeugend und wir sind beim Besitzer einfach nicht weitergekommen Wir hätten nicht im Traum daran gedacht, dass er sein eigenes Süppchen kocht. Er wusste schliesslich, mit wem er sich anlegt.»

«Mit uns ist nicht zu spassen.»

«Aber ihr wusstet nicht, dass Fabian eure Arbeit erledigt, Chris.»

«Nein. Das war dumm von ihm. Was kriegt er?»

«Einige Jahre.»

«Könnt ihr etwas für ihn tun?»

«Wir werden sehen. Er soll uns zuerst einmal erklären, wie es dazu kam.»

Mark begleitete den Kommissär und Nadine nach draussen.

«Verdammte Scheisse. Meine Kleine ist vollkommen durch den Wind. Hoffentlich kommt es zu keiner Fehlgeburt.»

«Mark, gibt es noch etwas, das wir wissen müssen?»

«Du kannst wohl Gedanken lesen. Genau deshalb wollte ich euch noch kurz unter sechs Augen sprechen. Ihr wisst, dass ich vier Töchter habe, oder?»

«Klar, sie sind dein ganzer Stolz.»

«Drei von ihnen. Michele tanzt aus der Reihe, sie befindet sich momentan in einer Entziehungskur in Davos. Vermutlich kommt sie ganz nach mir. Verdammt noch mal, ich wollte meine Familie immer aus dem Dreck raushalten. Das ist mir auch gelungen, bis auf Michele. Sie sollte mal meine Geschäfte übernehmen, doch sie ist zu weich. Leider ist mir dies zu spät klar geworden.»

«Warum erzählst du uns das?»

«Michele war kurz mit Schoch zusammen, sie koksten beide masslos. Als ich es bemerkte, schob ich dem Ganzen einen Riegel vor. Die Familie weiss nichts von der Affäre.»

«Und Fabian?»

«Der schon gar nicht. Er ist vollkommen seriös, leidet unter meinen Geschäften und versucht, sich so gut wie möglich aus allem rauszuhalten. Leonie liebt ihn wirklich. Glaubt ihr, dass er freikommt?»

«Das sagen wir dir, wenn wir uns näher mit dem Fall befasst haben.»

«Ich rechne mit einer Verurteilung. Vielleicht gibt es mildernde Umstände. Wenn er zwei, drei Jahre kriegt, lässt sich das verkraften. Nur nicht lebenslänglich.»

«Wir strengen uns an, Mark. Aber versprechen können wir nichts.»

«Dass ihr euch meinem Schwiegersohn annehmt, ist mehr, als ich erwarten durfte. Jetzt weiss ich, dass sein Schicksal in den richtigen Händen liegt. Noch etwas: Sollte er lebenslänglich bekommen, hat das keinen Einfluss auf unsere Freundschaft. Damit das klar ist.»

«Danke. Wir melden uns morgen.»

«Kommt am besten in meinen Schuppen. Ein Hotz Spezial wartet auf dich, Francesco, und ein Cappuccino auf dich, meine Schöne.»

Nadine fuhr langsam auf die Strasse.

«Ein guter Anwalt plädiert auf Notwehr. Schoch greift Nader an, der zum eigenen Schutz eine Pistole zückt. Es kommt zu einem Gerangel und dabei geht ein Schuss los. Wann ist es eigentlich passiert?»

«Wenn du nicht so hirnlos davongestürmt wärst, müsstest du keine solchen Fragen stellen.»

«Ja, ja. Also, wann?»

«Gestern Abend.»

«Ach so. Ich dachte, heute Morgen.»

«Um elf.»

«Was? Nachts um elf?»

«Genau.»

«Um diese Zeit ist ein Ehemann doch bei seiner Frau. Vor allem, wenn sie hochschwanger ist. Was weisst du sonst noch?»

«Schwer verletzt schleppte sich Schoch zum Aeschenplatz.»

«Er musste durch die St. Jakobs-Strasse. Ist ihm dort niemand begegnet?»

«Anscheinend nicht. Um elf sind auch dort nicht viele Leute unterwegs, höchstens mit dem Tram. Er brach vor dem Hammering Man zusammen, wo ihn eine Frau schliesslich fand. Sie rief sofort die Notrufzentrale an.»

«Wie kamen die Kollegen darauf, dass Fabian Nader der Täter ist?»

«Schoch lebte noch und stammelte kurz vor der OP seinen Namen. Die Kollegen reagierten postwendend und fuhren mit einem Grossaufgebot zu Marks Burg.»

«Das sieht tatsächlich wie eine Burg aus. Von allen Seiten abgeriegelt, man kommt nur durch die Einfahrt rein. Erlag Schoch seinen schweren Verletzungen?»

«Ja. Er war zu schwach und starb noch auf dem Operationstisch.»

«Wenn Fabian wirklich der Täter ist, weshalb liess er dann die Tatwaffe nicht verschwinden?»

«Eine gute Frage.»

«Ganz schön dumm von ihm. Trotzdem, es kann Notwehr gewesen sein.»

«Davon wirst nicht einmal du einen Richter überzeugen.»

«Wieso?»

«Schoch wurde von hinten erschossen.»

«Hm! … Fahren wir zuerst zu Peter. Vielleicht gibts schon erste Resultate.»

Gerichtsmediziner Peter Strub sass neben der Leiche, ass ein Sandwich und schlürfte eine Tasse Kaffee. Offensichtlich machte er eine Pause.

«Auch einen Kaffee?»

«Nein, danke. Können wir uns in deinem Büro unterhalten?», fragte Ferrari, der sich sichtlich unwohl fühlte.

«Keine Sorge, wir sind unter uns. Dieser Schoch ist mausetot, toter geht nicht mehr. Ich dachte mir schon, dass ihr reinschneit. Schliesslich ist der Mörder ein Freund eines eurer Freunde. Allerdings bewegt ihr euch da in einer zwielichtigen Gesellschaftsschicht. Man könnte sagen, der Pate ruft und sein Lakai erledigt die Drecksarbeit.»

«Wenn du nicht in einer deiner Kühlkammern landen willst, solltest du dich ein wenig zurückhalten.»

«Deine Reaktion sagt alles, Francesco.»

«Du kannst dir weitere Beleidigungen sparen.» Strub blickte irritiert zu Nadine. «Ich meine es ernst. Dein Spruch ist vollkommen daneben, Francesco arbeitet sehr seriös. Und übrigens, Mark ist auch mein Freund. Ich stehe sogar auf seiner Lohnliste. Was glaubst du, wer mein Luxusleben samt Porsche finanziert?»

«Mann, heute seid ihr beiden aber besonders empfindlich. Ich darf doch wohl noch einen Scherz machen.»

«Schlechter Joke. Was kannst du uns zu dem Toten sagen?»

«Noch nicht sehr viel. Er hatte Kokain im Blut und wurde von hinten erschossen. Ich vermute, dass er sich beim ersten Schuss abgewendet hat. Die Kugel drang hier auf dieser Seite ein», Strub legte den Leichnam frei und deutete auf ein Einschussloch. «Die Kugel blieb stecken, vermutlich handelt es sich um eine 9mm-Waffe. Dieser Schuss war nicht tödlich.»

«Gibt es ein zweites Einschussloch?»

«Ja, unterhalb des Herzens. Der Mann scheint trotz des Koks ziemlich in Form gewesen zu sein, sonst hätte er sich mit dieser schweren Verletzung nicht noch einige Hundert Meter bis zum Hammering Man schleppen können. Die Ärzte operierten ihn sofort, doch er war zu schwach. Mich erstaunt, dass er überhaupt noch bei Bewusstsein war, als er ins Unispital eingeliefert wurde. Ach ja, die zweite Kugel haben wir nicht gefunden. Es war ein klarer Durchschuss.»

«Die liegt bestimmt im Büro von Nader.»

«Nein, dort haben wir nichts gefunden. Vermutlich ist Nader ihm nachgerannt und hat nochmals auf ihn geschossen. Das kann auch auf der Strasse gewesen sein. Die Kugel ist nirgends auffindbar … Wo ist eigentlich Francesco?»

«Eine gute Frage.»

Der Kommissär sass bleich, mit einem Papiertaschentuch vor dem Mund im Büro des Gerichtsmediziners.

«Du kotzt mir aber nicht mein Büro voll», mahnte Strub.

«Es … es geht schon wieder.»

«Lass ihm einen Kaffee raus, Nadine. Nimm am besten zwei der schwarzen Kapseln … Du bist und bleibst ein Weichei! Das war noch gar nichts. Wenn du noch eine halbe Stunde bleibst, kannst du zusehen, wie wir ihn aufschneiden.»

Das war des Guten zu viel. Ferrari schoss hoch und rannte aus dem Büro in Richtung Toilette.

«Wo ist denn Francesco?», fragte Nadine verwundert mit einem Pappbecher Kaffee in der Hand.

«Er musste kurz austreten. Es ist jedes Mal kurzweilig mit euch, ihr solltet öfters bei mir reinschauen.»

«Das hättest du wohl gerne.»

«Du solltest nach ihm sehen. Und sag ihm, dass er immer herzlich willkommen ist. Soll ich dir morgen den Abschlussbericht bringen?»

«Wenn es keine neuen Erkenntnisse gibt, kannst du ihn Borer auf den Tisch legen.»

«Gut, mach ich. Dieser Nader wird mit einer satten Strafe rechnen müssen. Das war Totschlag. Falls Borer die Anklage übernimmt, wird er vermutlich sogar auf Mord plädieren.»

Der Kommissär wartete draussen. Nach über dreissig Jahren konnte er noch immer keine Leichen sehen. Schon allein der Geruch in der Pathologie trieb ihm den Schweiss auf die Stirn.

«Das war aber harmlos.»

«Allein beim Gedanken, dass er ihn aufschneidet und dann wieder zusammenflickt, wurde mir schlecht.»

«Du hättest Peters Grinsen sehen sollen. Er wird seine Spässchen in Zukunft rund um seine Toten machen. Da kann er dich am besten vorführen.»

«Pervers, schlicht pervers. Den ganzen Tag schnippelt er an leblosen Körpern herum.»

«Ich sage es ungern, aber das Obduzieren ist wichtig. Er konnte uns schon viele wertvolle Hinweise geben. Was hast du mitbekommen?»

«Schoch schleppte sich von der Langen Gasse einige Hundert Meter bis zum Aeschenplatz. Dort brach er zusammen.»

«Nader schoss zweimal auf ihn.»

«Das ist mir neu. Und trotzdem gelang es Schoch, zu fliehen?»

«Ja, offenbar. Nehmen wir uns jetzt Nader zur Brust?»

«Gleich, zuerst muss ich im Büro einen heissen Kaffee trinken.»

Ferrari traute seinen Augen nicht. Auf seinem Tisch türmten sich zwei Aktenberge. Achtlos schob er sie zur Seite.

«Gfeller bedankt sich für Ihre Unterstützung.» Staatsanwalt Borer trat ohne Klopfen ein. «Wenn Sie Informationen benötigen, nur anrufen.»

«Bis ich diese Dossiers durchgeackert habe, ist Weihnachten.»

«Sehen Sie es sportlich. Wenn Sie den Fall lösen, wird Ihnen die Regierung ein Denkmal setzen. Eigentlich ist nur der linke Stoss relevant, das sind die vier Morde. Auf dem rechten finden Sie die Gerichtsakten. Die vier Toten waren … nun, wie soll ich sagen? … ziemliche clevere Typen.»

«Mir wäre die Akte Schoch-Nader lieber.»

Staatsanwalt Borer nahm das oberste Dossier vom Stapel und klatschte es Ferrari auf den Tisch.

«Ich arbeite Ihnen zu. Sechs von Ihren achtundvierzig Stunden haben Sie bereits verplempert. Ich bin gespannt, wie Sie Nader rausboxen wollen. Ich war inzwischen nicht untätig.» Borer öffnete das Dossier. «Während Sie Freunde besuchten, nahm ich das Protokoll auf. Es ist zwar nicht mein Job, aber da kein Ermittler zur Stelle war, sprang ich ein. Anina tippte es ab. Ein lupenreines Geständnis. Ohne Druck anzuwenden, es sprudelte nur so aus Nader heraus. Er ist ohne Zweifel der Täter. Mit etwas Glück kommt er mit Totschlag davon. Übrigens, fair, wie ich bin, baute ich ihm sogar eine Brücke. Auf Seite zwei nachzulesen. Ich fragte ihn, ob Schoch auf ihn losgegangen sei. Die Antwort war ein deutliches Nein.»

«Sie sind ein richtiger Wohltäter.»

«In der Tat. Nun, ich will nicht weiter stören. Die Zeit läuft. Und glauben Sie ja nicht, dass Sie einen Aufschub kriegen. Nach zwei Tagen ist Schluss. Dann gehts ganz anders zur Sache. Man sieht sich, Herrschaften.»

Ferrari las zuerst das Vernehmungsprotokoll und vertiefte sich dann in die Akte Schoch. Knapp vierzig und mehrfach wegen Diebstahl verurteilt. In einer Anklageschrift ging es um Vergewaltigung. Obwohl Richter Kohler von seiner Schuld überzeugt war, konnte ihm das Vergehen nicht nachgewiesen werden. Ein Freund bezeugte zudem vor Gericht, dass er zur Tatzeit mit Schoch unterwegs gewesen sei. Der letzte Fall betraf die Anzeigen von Rakic, Hotz und einigen Stiftungen. Auch hier war Richter Rupf der festen Überzeugung, dass Schoch die Gelder kassiert hatte, was dieser nicht einmal bestritt. Die Anklage warf Schoch Veruntreuung und Betrug vor. Schochs Anwalt stellte sich hingegen auf den Standpunkt, dass die überwiesenen Beträge Vermittlungshonorare seien. Es ginge schliesslich um eine Bausumme von mehreren Hundert Millionen Franken, wenn eines der Projekte realisiert würde. Vor der Urteilssprechung, die nur noch Formsache war, stellte der Verteidiger einen Befangenheitsantrag gegen Rupf, weil er mit der Präsidentin einer in den Fall involvierten Stiftungen liiert war. Damit verkam der Prozess zur reinen Phrase und wurde vertagt. Schoch verliess den Gerichtssaal als freier Mann.

«Was ist denn das?», erkundigte sich Nadine, die mit zwei Kaffees ins Büro trat.

«Die Akten der vier Morde. Linker Stapel die Protokolle der Morde, rechter die Gerichtsprozesse. Du kannst sie gerne mitnehmen.»

«Die liegen gut bei dir. Was liest du da?»

«Die Akte Schoch. Ein fieser, kleiner Betrüger und erst noch ein Sexualtäter.»

«Vergewaltigung?»

«Der Richter war davon überzeugt, aber Schoch hatte ein Alibi.»

«Somit erhielt er letztendlich seine gerechte Strafe.»

«Etwas hart ausgedrückt, aber Schochs Opfer würde es sicher unterschreiben. Der letzte Prozess war sein grösster Coup. Der Fall wurde wegen Befangenheit des Richters auf unbestimmte Zeit vertagt.»

«Wer war dieser Richter?»

«Ein Beat Rupf. Der sagt mir nichts.»

«Wo ist das Geld abgeblieben?»

«Schoch behauptet, es verzockt zu haben. Millionen. Wie konnte Mark nur so dumm sein und ihm vertrauen? Er kannte ihn ja zur Genüge und wusste, dass auf ihn kein Verlass war.»

«Wo die Gier regiert … Yvo kennt das Areal. Es handelt sich um eine alte Fabrik mitten in der Bauzone. Der Besitzer ist ein störrischer Querulant. Er ist sogar mit einer Hacke auf Yvo losgegangen, als er Fragen stellte.»

«Yvo ist auch daran interessiert?»

«Ganz Basel. Es ist eines der letzten grossen unverbauten Grundstücke. Yvo meint, dass man dort problemlos mehrere Mehrfamilienhäuser hochziehen kann. Er spricht von einem Viertelmilliarde-Projekt. Er kennt auch diesen Schoch.»

«Sag jetzt aber nicht …»

«Nein, nein. Yvo ist ein vorsichtiger Mensch. Er bot Schoch eine Vermittlungsprovision von einer Million an, wohlverstanden nach Vertragsunterzeichnung. Aber der Besitzer will um keinen Preis verkaufen. Dabei lebt er nicht einmal dort. Auf dem Areal stehen nur ein paar alte Fabrikhallen, sonst nichts.»

«Wollen wir uns das mal ansehen?»

«Später vielleicht. Im Moment gibt es andere Prioritäten, Nader wartet auf uns.»

Der Anwalt Fabian Nader wirkte müde und irgendwie abwesend. Die erste Nacht in Untersuchungshaft hatte deutliche Spuren hinterlassen.

«Möchten Sie etwas trinken?»

«Danke. Das ist nicht notwendig. Warum bin ich hier? Ich habe meine Aussage bereits getätigt und unterschrieben.»

«Weil uns Mark darum bat. Wir sind Freunde.»

Nader schaute überrascht auf.

«Sie … Sie sind Kommissär Ferrari?»

«Ja, und das ist meine Partnerin Nadine Kupfer.»

«Sie waren oft Gesprächsthema bei uns. Immer, wenn Sie erfolgreich einen Fall lösten … Der Fall Nader ist simpel, die Sachlage eindeutig.»

«Was ist passiert?»

«Ich weiss es nicht mehr genau, Frau Kupfer.»

«Wir können uns gern duzen. Ich bin Nadine.»

«Sehr gern … Fabian.»