Loe raamatut: «Die Entmündigung des Staates und die Krise der Demokratie»

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28 KLEINE REIHE

STIFTUNG BUNDESPRÄSIDENT - THEODOR - HEUSS - HAUS

Anselm Doering-Manteuffel

Die Entmündigung des Staates

und die Krise der Demokratie

Entwicklungslinien von 1980 bis zur Gegenwart

Zur Publikation

Der Autor definiert die Funktionsbedingungen einer repräsentativen Demokratie und legt diese dann insbesondere für die Bundesrepublik Deutschland auf den Prüfstand. Medialisierung, technische Revolutionen und ökonomische Liberalisierung gefährden demnach zunehmend die Grundbedingungen für eine funktionierende nationale Demokratie; noch sei aber kein gangbarer Weg zu parlamentarischer Kontrolle internationaler Gremien gefunden worden. Doering-Manteuffel konstatiert einen freiwilligen Verzicht gewählter Repräsentanten auf Verantwortung, die statt dessen lieber ökonomischen Agenturen oder dem Bundesverfassungsgericht überlassen werde, und warnt insbesondere vor der Eigendynamik der Wirtschaft. In einer Demokratie müsse Verantwortung und Entscheidungskompetenz dagegen unbedingt bei einer gewählten und damit legitim abgesicherten Regierung liegen.

Der Autor

Prof. Dr. Anselm Doering-Manteuffel, geboren 1949, ist seit 1991 Direktor des Seminars für Zeitgeschichte an der Universität Tübingen. Seine Arbeitsschwerpunkte liegen in der deutschen Geschichte des 20. Jahrhunderts, der Geschichte des deutsch-amerikanischen Kulturtransfers, der Geschichte des internationalen Staatensystems im 19. und 20. Jahrhunderts sowie in der Entwicklung der westeuropäischen Industriegesellschaften im letzten Drittel des 20. Jahrhunderts.

Neuere Veröffentlichungen (Auswahl): Wie westlich sind die Deutschen? Amerikanisierung und Westernisierung im 20. Jahrhundert (1999); Ordnung durch Terror, Gewaltexzess und Vernichtung im nationalsozialistischen und stalinistischen Imperium (mit Jörg Baberowski, 2006); Nach dem Boom. Perspektiven auf die Zeitgeschichte (mit Lutz Raphael, 22010).

Die Stiftung Bundespräsident-Theodor-Heuss-Haus dankt Herrn Armin Knauer für die finanzielle Unterstützung dieser Publikation.

Die Entmündigung des Staates und die Krise der Demokratie

Anselm Doering-Manteuffel

Die Entmündigung des Staates

und die Krise der Demokratie

Entwicklungslinien von 1980 bis zur Gegenwart

Hin und wieder gab es in der Geschichte der alten Bundesrepublik große, bisweilen mehrtägige Debatten des Deutschen Bundestags, die von der Öffentlichkeit aufmerksam wahrgenommen wurden, ja sogar gebanntes Interesse auf sich zogen. In der kollektiven Erinnerung ist jene Debatte besonders stark verhaftet geblieben, die im April 1972 geführt wurde. Es ging um den Antrag der CDU/CSU-Fraktion und des Fraktionschefs Rainer Barzel, gegen die Regierung Brandt/Scheel das konstruktive Misstrauensvotum anzustreben. Im Verlauf der Debatte sprachen die Redner der sozialliberalen Koalition – aufwühlend und emotional insbesondere der damalige Außenminister Walter Scheel – in der Annahme, dass ihre Regierung an diesem Tag abgewählt werden würde. Sie zogen Bilanz über drei Jahre Ost- und Deutschlandpolitik, die schon damals als Beginn einer neuen Epoche wahrgenommen wurde. Barzel verlor das Misstrauensvotum. In der vorgezogenen Bundestagswahl vom November 1972 erhielt die SPD-FDP-Koalition unter Brandt und Scheel eine so stabile Mehrheit, dass die CDU/CSU erkennen musste, auf lange Zeit von der Regierung ausgeschlossen zu sein.

Die Debatte vom 27. April 1972 wurde im Fernsehen übertragen und zog als öffentliches Ereignis fast so viel Aufmerksamkeit auf sich wie die Spiele der Fußballnationalmannschaft im gleichen Jahr. Bei der Europameisterschaft 1972 zeigte das Team um Franz Beckenbauer und Günter Netzer dieselbe Aufbruchstimmung, die auch in der westdeutschen Politik und Öffentlichkeit vorherrschte. Es ist sicherlich leicht, dieses politische Ereignis als Einzelfall einzustufen, denn damals ging es um die nationale Frage, um Deutschlands Ort in der Staatenwelt nach dem Beginn der Entspannungspolitik, um das Verhältnis der Bundesrepublik zur DDR. Es ging mithin um das Kernproblem der Nachkriegszeit, dass die Deutschen ihre Verantwortung für die Hitlerzeit und den Zweiten Weltkrieg unmissverständlich anerkannten.

Auch wenn die öffentliche Bedeutung der Debatte über das Misstrauensvotum vielleicht ein Einzelfall gewesen ist, lag deren Gewicht nicht zuletzt darin, dass sich dieses nationalpolitische Ereignis vor aller Augen abspielte und überall dort, wo es einen Fernseher gab, auch mit vollzogen werden konnte. Ein erregendes politisches Thema, das die Öffentlichkeit in seinen Bann zog; eine parlamentarische Debattenkultur, die sehr stark von der rhetorischen Emphase einzelner Minister und Parlamentarier beherrscht wurde, und ein verbreitetes Bewusstsein in der Bevölkerung, dass „Demokratie“ eine Sache aller Bürger ist und nicht nur diejenige einiger Abgeordneter: Dies alles machte diese einzelne Bundestagsdebatte zu einem Höhepunkt und Merkdatum in der Demokratiegeschichte der Bundesrepublik Deutschland.[1]

Heute würde sich so etwas ganz anders abspielen. Die Protagonisten wären zwar die gleichen – Minister und Parlamentarier. Das Thema könnte von vergleichbarer Brisanz sein – etwa eine Debatte über den Verbleib Deutschlands in der Eurozone. Auch das Forum wäre dasselbe – der Plenarsaal des Bundestags. Aber die öffentliche Wahrnehmung dürfte sich nicht um das Medium Fernsehen herum gruppieren, sondern in pluralisierter Form von jedem interessierten Einzelnen digital übers Netz abgerufen werden. Und daneben würden Wahl- und Meinungsforscher vielleicht über die Frage diskutieren, wie wenige Prozent der Bevölkerung überhaupt eine solch politisch entscheidende Debatte live verfolgten und warum ihre Zahl nicht größer sei. Sie würden darüber spekulieren, ob es denn in der Öffentlichkeit kein allgemeines Interesse gebe für die wichtigen politischen Entscheidungen der Volksvertretung und der von ihr gewählten Regierung?[2]

Es wäre ganz falsch, wollte man angesichts einer solchen Beobachtung der Meinungsforscher von Demokratieverdrossenheit sprechen und die Verantwortung dafür einfach den Parlamentariern oder ganz allgemein „der Politik“ zuschieben oder über die Politikferne der gegenwärtigen Gesellschaft klagen. Vielmehr beobachten wir hier die Auswirkungen verschiedener Wandlungsprozesse, die vor etwa dreißig Jahren einsetzten. Wandlungsprozesse, die im Anfang gar keine Berührung untereinander aufwiesen, sich aber im Lauf der Zeit so intensiv miteinander verwoben haben, dass heute die verschiedenen Bedingungen für die „Krise der Demokratie“, von der wir gegenwärtig sprechen, gar nicht mehr genau zu erkennen sind.

I.

Ich möchte so beginnen, dass ich mit ein paar Stichworten zunächst beschreibe, was unter repräsentativer „Demokratie“ zu verstehen ist, was diese Demokratie möglich macht und welcher Voraussetzungen sie bedarf.

–Demokratie ist, erstens, an die Freiheit jedes einzelnen gebunden – an politische Freiheit, staatsbürgerliche Freiheit, wirtschaftliche Freiheit. Demokratie und Marktwirtschaft stehen in einem engen, aber schwierigen Bezug zueinander.

–Demokratie ist, zweitens, an den funktionierenden Rechtsstaat gebunden. Sie impliziert die Gleichheit aller Staatsbürger und bindet dies an das allgemeine gleiche Wahlrecht. Streitigkeiten über das Wahlrecht sind immer Rechtsfragen und betreffen das Verfassungsgericht, wie es zuletzt die Auseinandersetzungen über die Überhangmandate gezeigt haben.

–Demokratie setzt, drittens, die Existenz politischer Parteien voraus, deren Kandidaten in regelmäßigen Abständen zur Wahl stehen und, sofern sie gewählt worden sind, dann ihren Wahlkreis und ihre Wählerschaft repräsentieren. Deshalb sprechen wir von „repräsentativer Demokratie“ und verbinden damit die im Grundgesetz verankerte Auffassung, dass in der repräsentativen Demokratie ein Volksbegehren oder Volksabstimmungen nicht erforderlich sind, ja systemwidrig seien.

–Demokratie setzt, viertens, den Bestand einer Regierung voraus, die von der oder den in der Wahl siegreichen Partei(en) gebildet wird und an deren Vertrauen gebunden ist. Die Regierung ist dem Parlament verantwortlich. Wenn sie im Parlament nicht über die erforderliche Mehrheit verfügt, hat sie das Vertrauen verloren und sich der Misstrauensabstimmung zu stellen. Eine Regierung ohne Rückhalt im Parlament muss zurücktreten. Demokratie bedarf – ich sagte es bereits – der Rechtsstaatlichkeit. Eine parlamentarisch-demokratische Ordnung braucht einen verbindlichen Rechtsrahmen, innerhalb dessen die politischen Spielregeln und Spielräume normativ definiert sind und immer aufs neue nachjustiert werden müssen. Die Tatsache, dass seit etwa einem Jahrzehnt in zuvor ungekannter Häufigkeit das Bundesverfassungsgericht über politische Richtungsentscheidungen zu urteilen hat, die eigentlich im Meinungsbildungsprozess zwischen Regierung und Parlament geklärt werden müssen, deutet darauf hin, dass sich in unserer gegenwärtigen Demokratie die Gewichte verschoben haben.[3]

–Schließlich ist Demokratie, fünftens, an funktionierende Staatlichkeit gebunden. Die demokratischen Ordnungen in der Geschichte der Moderne waren und sind mit unterschiedlichen Typen des Nationalstaats verkoppelt, zum einen in der Form des Bundesstaats mit starken Einzelstaaten wie in den USA oder mit der schwierigen Balance zwischen Gesamtstaat und Ländern wie im Fall der Bundesrepublik Deutschland. Zum andern gibt es das politische System gesamtstaatlicher Repräsentation wie in Frankreich oder – seit geraumer Zeit innenpolitisch umstritten – in Großbritannien. Entscheidend bleibt die direkte Verzahnung zwischen dem Staat und der parlamentarischen Demokratie.

Deshalb ist die Demokratie im multistaatlichen Kontext nicht wirklich funktionsfähig und es mangelt ihr folglich an öffentlicher Legitimation dort, wo Staatlichkeit, parlamentarische Repräsentation und die demokratisch kontrollierte Verantwortung der Regierung nicht als ein fester Ordnungszusammenhang vorhanden sind. Das gilt für Europa nicht erst heute, sondern schon seit der Gründung der Europäischen Wirtschaftsgemeinschaft 1957. Für die europäischen Regierungen in der EU ist es daher eine herausfordernde Aufgabe der Gegenwart, einen Weg zu finden, parlamentarische Repräsentation und politische Verantwortung in einer europäischen Zentralregierung zu bündeln. Ob so etwas gelingen könnte, ist völlig offen. Die Voraussetzung dafür wäre, dass die europäischen Länder und Völker auch unter einer demokratisch gewählten Zentralregierung in Brüssel mit einem einzigen, „europäischen“ Regierungschef ihre nationale kulturelle Identität bewahren könnten. Der Versuch in diese Richtung ist nur ein einziges Mal gemacht worden – 1950 bis 1954 – und gescheitert.[4] Die Europäische Gemeinschaft und die heutige EU gelten daher manchem Beobachter als undemokratisch entstandenes – und überhaupt: als ein undemokratisches – Gebilde, und daran ist durchaus etwas Wahres.[5]

Tasuta katkend on lõppenud.

Žanrid ja sildid
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22 detsember 2023
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