Loe raamatut: «Handbuch des Strafrechts», lehekülg 18

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C. Die Justizgrundrechte

I. Recht auf den gesetzlichen Richter (Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG)

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Nach Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darf niemand seinem gesetzlichen Richter entzogen werden. Die Vorschrift begründet eine institutionelle Garantie und zugleich einen subjektiven Anspruch des rechtsuchenden Bürgers;[71] sie ist eine spezielle Ausprägung des Rechtsstaatsprinzips.[72] Der Zweck der durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG geschaffenen Garantie – die neben der Exekutive auch die Judikative und die Legislative bindet[73] – besteht darin, jedweder sachwidrigen Einflussnahme auf die rechtsprechende Tätigkeit von innen oder außen präventiv entgegenzuwirken.[74] Neben der Unabhängigkeit der Rechtsprechung soll damit auch das Vertrauen der Rechtsuchenden und der Öffentlichkeit in die Unparteilichkeit und Sachlichkeit der Gerichte gesichert werden.[75]

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Gesetzlicher Richter i.S.d. Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ist nicht nur das Gericht als organisatorische Einheit oder das erkennende Gericht als Spruchkörper, vor dem verhandelt und von dem die einzelne Sache entschieden wird, sondern auch der zur Entscheidung im Einzelfall berufene Richter.[76] Ausschlaggebend ist, dass der Richter gerade in seiner rechtsprechenden Funktion an der Entscheidungsfindung beteiligt ist und die Entscheidung infolgedessen mit zu verantworten hat.[77] Richter im vorerwähnten Sinn ist daher auch der Ermittlungsrichter,[78] nach – freilich umstrittener (vgl. Rn. 26) – Ansicht des BVerfG hingegen nicht der Ergänzungsrichter oder der lediglich am Eröffnungsbeschluss beteiligte Richter.[79]

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Mit Niemöller und Schuppert lassen sich drei Dimensionen des durch Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gewährleisteten Schutzes unterscheiden: das Bestimmtheitsgebot (Rn. 19 ff.), die Sachlichkeitsgarantie (Rn. 25 f.) und die Pflicht zur Kompetenzbeachtung (Rn. 27).[80]

1. Bestimmtheitsgebot

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Mit dem Recht auf den gesetzlichen Richter soll zunächst sichergestellt werden, „dass in jedem Einzelfall kein anderer als der Richter tätig werden und entscheiden soll, der in den allgemeinen Normen der Gesetze und der Geschäftsverteilungspläne der Gerichte dafür vorgesehen ist“.[81] Das Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu entnehmende Bestimmtheitsgebot soll der Gefahr vorbeugen, dass durch eine auf den Einzelfall bezogene Auswahl der zur Entscheidung berufenen Richter das Ergebnis der Entscheidung beeinflusst werden kann.[82] Aus diesem Zweck des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG folgt, dass die zur Bestimmung des gesetzlichen Richters erlassenen Regelungen bereits im Voraus so eindeutig wie möglich festlegen müssen, welches Gericht, welcher Spruchkörper und welche Richter zur Entscheidung des Einzelfalls berufen sind.[83] Die gesetzlichen Bestimmungen sind durch Geschäfts- und Mitwirkungspläne der Gerichte zu ergänzen, die der Schriftform bedürfen und im Voraus generell-abstrakt die Zuständigkeit der Spruchkörper und die Zuweisung der einzelnen Richter regeln müssen, um sicherzustellen, dass die einzelne Sache gleichsam „blindlings“ aufgrund allgemeiner, vorab festgelegter Merkmale an den entscheidenden Richter gelangt.[84] Dabei steht das verfassungsrechtlich verbürgte Recht auf den gesetzlichen Richter einer Änderung der Zuständigkeit auch für bereits anhängige Verfahren nicht prinzipiell entgegen; die Neuregelung muss jedoch zum einen generell gelten, also außer anhängigen Verfahren auch eine unbestimmte Vielzahl künftiger, gleichartiger Fälle erfassen, und darf zum anderen nicht aus sachwidrigen Gründen getroffen worden sein.[85] Als mit der Garantie des gesetzlichen Richters unvereinbar hat das BVerfG einen Geschäftsverteilungsplan angesehen, der die Zuordnung von Verfahren zu einer Hilfsstrafkammer davon abhängig machte, ob die ursprünglich zuständige Kammer zu einem bestimmten, noch in der Zukunft liegenden Zeitpunkt über die Eröffnung des Hauptverfahrens entschieden hatte.[86] Eine begrenzte Überbesetzung von Kollegialgerichten ist hingegen mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar, soweit sie zur Gewährleistung einer geordneten Rechtspflege unerlässlich ist; die Grenze des verfassungsrechtlich Zulässigen hat das BVerfG allerdings schon in frühen Entscheidungen als überschritten angesehen, wenn die Überbesetzung dem Spruchkörper eine Rechtsprechung in zwei personell voneinander verschiedenen Sitzgruppen gestattet.[87] Die Plenarentscheidung aus dem Jahr 1997 hat dem die Vorgabe hinzugefügt, dass auch auf der Ebene des überbesetzten Spruchkörpers abstrakt-generelle Regelungen für die Mitwirkung der Richter aufgestellt werden müssen.[88]

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Eine nicht unerhebliche Limitierung der in Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verbürgten Garantie resultiert daraus, dass nach der ständigen Rechtsprechung des BVerfG nicht bereits jede irrtümliche Überschreitung der den Fachgerichten gezogenen Grenzen eine verfassungswidrige Entziehung des gesetzlichen Richters begründet.[89] Vielmehr werden Auslegung und Anwendung der Zuständigkeitsnormen nur dann beanstandet, „wenn sie bei verständiger Würdigung der das Grundgesetz bestimmenden Gedanken nicht mehr verständlich [. . .] und offensichtlich unhaltbar“ erscheinen.[90] Bei der Prüfung der Verfassungsmäßigkeit einer Regelung des Geschäftsverteilungsplanes geht der Kontrollmaßstab des BVerfG hingegen über eine reine Willkürprüfung hinaus und erfasst stattdessen jede Rechtswidrigkeit.[91] Gleiches gilt für die Prüfung der Frage, ob eine Zuständigkeitsregel eines Geschäftsverteilungsplanes als generell-abstrakte Regelung im Sinne der Garantie des gesetzlichen Richters anzusehen ist.[92] Mit Wirkung zum 13. Dezember 2019 hat der Gesetzgeber ein Vorabentscheidungsverfahren für Besetzungsrügen in erstinstanzlichen Verfahren vor den Land- und Oberlandesgerichten eingeführt, in dem abschließend über die Gerichtsbesetzung entschieden werden soll.[93]

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Seit jeher kontrovers diskutiert wird die Vereinbarkeit sog. „beweglicher Zuständigkeiten“ mit der Garantie aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[94] Verschiedene Vorschriften der Strafprozessordnung und des Gerichtsverfassungsgesetzes räumen der Staatsanwaltschaft als Anklagebehörde (§ 152 Abs. 1 StPO) die Möglichkeit ein, eine Strafsache vor einem von mehreren in Betracht kommenden Spruchkörpern anzuklagen, sodass letztlich die Situation entstehen kann, dass zwei Strafsachen, die vergleichbare Vorwürfe zum Gegenstand haben, vor unterschiedlichen Gerichten verhandelt werden. Entsprechende Spielräume sehen insbesondere die Vorschriften der Strafprozessordnung über die örtliche Zuständigkeit (§§ 7 ff. StPO) sowie die §§ 24 Abs. 1 Nr. 2 und 3, 25 Nr. 2, 74 Abs. 1 S. 2, 74a Abs. 2 GVG vor, die für die sachliche Zuständigkeit an die Straferwartung, die besondere Bedeutung des Falles oder Gesichtspunkte des Opferschutzes anknüpfen. Gängige Kriterien, anhand derer die besondere Bedeutung des Falles i.S.d. § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG bestimmt wird, bilden das Ausmaß der Rechtsverletzung und die damit einhergehenden Tatfolgen;[95] daneben soll von Bedeutung sein, dass durch die Tat schwerwiegende öffentliche Interessen berührt sind[96] oder ein besonderes Interesse der Medien und der Öffentlichkeit an einer Sache besteht.[97] Auch die hervorgehobene Stellung des Beschuldigten oder Verletzten in der Gesellschaft soll geeignet sein, eine besondere Bedeutung des Falles im vorerwähnten Sinn zu begründen, wenn dadurch der Unrechtsgehalt der Tat erhöht wird.[98]

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Das BVerfG hat entsprechende Regelungen für zulässig erachtet, „soweit sie unter justizgemäßen Gesichtspunkten generalisier(en) und sachfremden Einflüssen auf das Verfahren vorbeug(en).“[99] Zur Feststellung der Vereinbarkeit mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG gelangte das Gericht allerdings nur im Wege der verfassungskonformen Auslegung, der zufolge die in Rede stehenden Zuständigkeitsregeln der Staatsanwaltschaft kein echtes „Wahlrecht“ im Sinne eines gerichtlicher Überprüfung nur eingeschränkt zugänglichen Ermessens, sondern lediglich einen Beurteilungsspielraum einräumen. Die Entscheidung der Staatsanwaltschaft, ausnahmsweise statt beim Amtsgericht bei der Strafkammer anzuklagen, unterliege der vollen gerichtlichen Kontrolle nach § 209 Abs. 1 StPO.[100] Im Schrifttum wird mit guten Gründen bezweifelt, dass mit diesem Versuch einer Einhegung staatsanwaltschaftlicher Diskretionsspielräume eine nennenswerte Stärkung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG zu entnehmenden Bestimmtheitsgebotes verbunden ist.[101] Überdies wird zu Recht darauf hingewiesen, dass seit dem Ergehen der grundlegenden Senatsentscheidungen in den Jahren 1959 und 1967 die Strafbefugnisse des Amtsgerichts bedeutend ausgeweitet und die Besetzungen der landgerichtlichen Spruchkörper spürbar reduziert wurden, weshalb die Feststellung des Gerichts, niemandem geschehe durch den mit der Anklage vor einem Gericht höherer Ordnung verbundenen Verlust einer Tatsacheninstanz ein Unrecht,[102] an Überzeugungskraft eingebüßt hat (s. dazu auch schon Rn. 9).[103] Berechtigter Kritik sieht sich schließlich vor allem die durch § 24 Abs. 1 S. 1 Nr. 3 GVG geschaffene Möglichkeit der Staatsanwaltschaft ausgesetzt, „wegen der besonderen Schutzbedürftigkeit von Verletzten der Straftat, die als Zeugen in Betracht kommen“ Anklage beim Landgericht zu erheben. Die Vorschrift nimmt ihren Ausgangspunkt bei einer verfehlten „Opfervermutung“ und gerät damit in Konflikt zu der u.a. in Art. 6 Abs. 2 EMRK verbürgten Unschuldsvermutung.[104] Die Antwort auf die für die Entscheidung der Staatsanwaltschaft maßgebliche Frage, ob eine erneute Vernehmung in der Berufungsinstanz für den Verletzten mit einer besonderen Belastung verbunden wäre (§ 24 Abs. 1 S. 2 GVG), wird sich überdies kaum mit einer dem verfassungsrechtlichen Rang des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG angemessenen Gewissheit prognostizieren lassen.[105]

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Nach Ansicht des BVerfG begegnet es ebenfalls keinen verfassungsrechtlichen Bedenken, dass § 354 Abs. 2 StPO dem Revisionsgericht die Möglichkeit einräumt, das Strafverfahren nach Aufhebung eines amts- oder landgerichtlichen Urteils an ein (beliebiges) gleichgeordnetes Gericht desselben Landes zurückzuverweisen.[106] Zur Begründung führt das Gericht eine Reihe von Fallgestaltungen an, die es geboten erscheinen lassen sollen, mit der erneuten Verhandlung nicht das bisherige, sondern ein neues Gericht zu befassen; erwähnt werden neben dem Anschein der Voreingenommenheit der Richter am vorbefassten Gericht auch „eine bestimmte Einstellung der Bevölkerung des Gerichtsortes und ein dadurch bedingter Druck der Öffentlichkeit“.[107] Während die angeführten Gründe im Einzelfall tatsächlich ein Bedürfnis nach der Befassung eines anderen Gerichtes gleicher Ordnung entstehen lassen mögen[108] und der Versuch, einen Katalog von Verweisungsgründen zu formulieren, mit dem sich den Anforderungen aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG besser Rechnung tragen ließe als durch den status quo, auf kaum überwindbare Probleme stoßen dürfte,[109] ist nicht ersichtlich, warum nicht wenigstens die Kriterien für die Auswahl des Ersatzgerichtes einer präziseren gesetzlichen Regelung zugeführt werden.[110] § 354 Abs. 2 StPO ist daher entgegen der Ansicht des BVerfG in seiner jetzigen Form als verfassungswidrig anzusehen.

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Aus Gründen der Prozessökonomie soll schließlich auch die durch das Erste Justizmodernisierungsgesetz[111] in § 354 Abs. 1a StPO normierte Befugnis des Revisionsgerichts, sich gleichsam selbst für zuständig zu erklären und eine eigene Sachentscheidung zu treffen, grundsätzlich mit Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG vereinbar sein.[112] Der Erste Senat des BVerfG hat die Anwendung des § 354 Abs. 1a S. 1 StPO allerdings im Wege der verfassungskonformen Auslegung[113] einigen Bedingungen und Einschränkungen unterworfen: Danach muss dem Revisionsgericht für die Entscheidung nach dieser Vorschrift ein zutreffend ermittelter, vollständiger und aktueller Strafzumessungssachverhalt zur Verfügung stehen.[114] Darüber hinaus hat das Revisionsgericht den Angeklagten auf die aus seiner Sicht für eine Sachentscheidung nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO sprechenden Gründe hinzuweisen und ihm die Gelegenheit zur Stellungnahme im Revisionsverfahren einzuräumen. Ein entsprechender Hinweis soll allerdings entbehrlich sein, wenn angenommen werden kann, dass der Angeklagte – etwa aus den Gründen eines entsprechenden Antrags der Staatsanwaltschaft – Kenntnis von einer im Raum stehenden Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts erlangt hat.[115] Verfährt das Revisionsgericht nach § 354 Abs. 1a S. 1 StPO, so muss es seine Entscheidung jedenfalls dann begründen, wenn die für die Strafzumessung relevanten Umstände und deren konkretes Gewicht dem Angeklagten sonst nicht nachvollziehbar wären.[116] Eine Strafzumessungsentscheidung des Revisionsgerichts ist schließlich ausgeschlossen, wenn zugleich eine neue Entscheidung über einen fehlerhaften Schuldspruch erfolgen muss.[117]

2. Sachlichkeitsgarantie

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Die herrschende Ansicht entnimmt Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG über das Bestimmtheitsgebot hinaus auch eine Sachlichkeitsgarantie.[118] Danach ist das Recht auf den gesetzlichen Richter auch dann verletzt, wenn sich der Bürger vor Gericht einem Richter gegenübersieht, der nicht den Anforderungen der Art. 92, 97 GG entspricht (die damit über Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG verfassungsbeschwerdefähig gemacht werden).[119] Aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG ergibt sich mithin auch ein Anspruch des mit einem Gerichtsverfahren konfrontierten Bürgers auf einen Richter, der unabhängig und unparteilich ist und die Gewähr für Neutralität und Distanz gegenüber den Verfahrensbeteiligten bietet.[120] Aus dem Vorstehenden ergibt sich weiter eine Verpflichtung des Gesetzgebers, durch Schaffung entsprechender Regelungen dafür Vorsorge zu treffen, dass ein Richter, der nicht die Gewähr der Unparteilichkeit bietet, von der Ausübung seines Amtes ausgeschlossen oder wegen Besorgnis der Befangenheit abgelehnt werden kann (vgl. dazu die §§ 22 ff. StPO).[121] Auch in diesem Zusammenhang soll die fehlerhafte Anwendung der gesetzlichen Regelungen allerdings erst dann einen Verfassungsverstoß begründen, wenn die Entscheidung willkürlich oder offensichtlich unhaltbar ist oder Bedeutung und Tragweite des Rechts auf den gesetzlichen Richter grundlegend verkennt.[122] Die Überbeanspruchung eines einzelnen Richters oder eines Spruchkörpers betrifft – unabhängig davon, ob eine solche tatsächlich vorliegt – nicht den Anspruch auf den gesetzlichen Richter aus Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[123]

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Umstritten sind die Voraussetzungen, unter denen ein vorbefasster Richter von der Mitwirkung an Entscheidungen im Wiederaufnahmeverfahren ausgeschlossen ist. Die Vorschrift des § 23 Abs. 2 S. 1 StPO verlangt hierfür eine Mitwirkung an der mit dem Wiederaufnahmeantrag angefochtenen Entscheidung, was nach der oben (Rn. 17) erwähnten Formel eine unmittelbare Beteiligung des Richters in seiner richterlichen Funktion an der Urteilsfindung voraussetzt. Nach Ansicht der Senatsmehrheit in zwei Entscheidungen des BVerfG hat weder der Ergänzungsrichter noch der lediglich am Eröffnungsbeschluss beteiligte Richter in diesem Sinne an der angefochtenen Entscheidung „mitgewirkt“,[124] wohl aber ein Richter, der an der Entscheidung über die Revision gegen das Urteil beteiligt war.[125] Die abweichende Meinung zur erstgenannten Entscheidung macht durchaus überzeugend geltend, der Ergänzungsrichter wirke über die mit der (passiven) Rezeption des Verfahrensganges zwangsläufig verbundene innere Beteiligung hinaus durch die Ausübung oder Nichtausübung des Fragerechts[126] auch aktiv auf den Prozessstoff ein und erscheine daher aus der Perspektive des Angeklagten nicht mehr als „neutral, distanziert, unbeteiligt“.[127] Die innere und äußere Beteiligung am Zustandekommen der Ausgangsentscheidung weckt in der Tat berechtigte Zweifel an der Fähigkeit des früheren Ergänzungsrichters zu einer unvoreingenommenen Mitwirkung am Wiederaufnahmeverfahren.[128] Diese Zweifel gelten erst recht für die erneute Sachbefassung eines Richters, der an einer vom Revisionsgericht aufgehobenen Entscheidung mitgewirkt hat. Die höchstrichterliche Rechtsprechung steht gleichwohl auf dem Standpunkt, dass der vorbefasste Richter nicht „automatisch“ von der Mitwirkung an der erneuten Hauptverhandlung ausgeschlossen ist und konstatiert, es bestehe „kein Grund zu der Besorgnis, Richter könnten schon allein deshalb voreingenommen sein, weil ihr Urteil aufgehoben worden ist“.[129] Die Gewährung eines derartigen Vertrauensvorschusses erscheint aus sozialpsychologischer Perspektive wenig plausibel.[130]

3. Pflicht zur Kompetenzbeachtung

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Als Pflicht zur Kompetenzbeachtung[131] lässt sich schließlich eine dritte Dimension des Gewährleistungsgehaltes des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG identifizieren: Der Pflicht des Gesetzgebers, die richterliche Zuständigkeit so eindeutig wie möglich durch allgemeine Normen zu regeln, korrespondiert eine Bindung der Gerichte an diese Regelungen; diese „dürfen sich nicht über (die Zuständigkeitsregeln) hinwegsetzen, sondern haben von sich aus über deren Einhaltung zu wachen“.[132] Bedeutung erlangt diese Schutzdimension des Rechts auf den gesetzlichen Richter beispielsweise in Fällen der Nichterfüllung einfachgesetzlicher und verfassungsrechtlicher Vorlagepflichten. So hat das BVerfG eine Verletzung des Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG darin gesehen, dass ein Oberlandesgericht eine Vorlage gem. § 121 Abs. 2 GVG zum BGH unterließ, obwohl es von einer Entscheidung dieses Gerichts abwich.[133] In einer neueren Entscheidung hat der BGH konstatiert, dass der durch § 6 Abs. 1 S. 1 MuSchG i.V.m. § 2 HRiG, § 95 Nr. 1 HBG und § 1 Abs. 1 S. 1 Nr. 2 HMu-SchEltZVO vermittelte nachgeburtliche Mutterschutz nicht zur Disposition der betroffenen Richterin steht. Wirke diese gleichwohl an einer Entscheidung mit, so liege hierin ein Verstoß gegen Art. 101 Abs. 1 S. 2 GG.[134] In Reaktion auf diese Entscheidung hat der Gesetzgeber in § 229 Abs. 3 S. 1 Nr. 2 StPO eine Hemmung der Unterbrechungsfristen für länger als zehn Tage dauernde Hauptverhandlungen auch für den Fall angeordnet, dass eine zur Urteilsfindung berufende Person wegen gesetzlichen Mutterschutzes oder der Inanspruchnahme von Elternzeit nicht zur Hauptverhandlung erscheinen kann.[135]

II. Anspruch auf rechtliches Gehör (Art. 103 Abs. 1 GG)

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Als „prozessuales Urrecht“ wird der in Art. 103 Abs. 1 GG verbürgte Anspruch auf rechtliches Gehör bezeichnet.[136] Im besonders eingriffsintensiven Strafverfahren kommt der Gewährung rechtlichen Gehörs ersichtlich besondere Bedeutung zu.[137]

1. Anwendungsbereich, Anspruchsberechtigte und Gewährleistungsgehalt

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Ausschlaggebend für die verfassungsrechtliche Garantie ist der Gedanke, dass jeder an einem gerichtlichen Verfahren Beteiligte die Gelegenheit erhalten muss, durch sachlich fundierten Vortrag die Willensbildung des Gerichts zu beeinflussen.[138] Auf die Situation des Beschuldigten im Strafverfahren gewendet bedeutet dies, dass er die Möglichkeit haben und auch tatsächlich ausüben können muss, „auf das Verfahren einzuwirken, sich persönlich zu den gegen ihn erhobenen Vorwürfen zu äußern, entlastende Umstände vorzutragen, deren umfassende und erschöpfende Nachprüfung und gegebenenfalls auch Berücksichtigung zu erreichen“.[139] Anspruchsberechtigt ist jedoch nicht nur der Beschuldigte, sondern grundsätzlich jeder, der von der gerichtlichen Entscheidung betroffen werden kann,[140] mithin etwa auch der Nebenkläger und der Privatkläger.[141] Die Staatsanwaltschaft kann sich hingegen nach zutreffender Ansicht lediglich auf die ihr einfachgesetzlich eingeräumten Ansprüche auf Gehörsgewährung berufen.[142]

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Die Gewährung rechtlichen Gehörs dient der Stärkung der Subjektstellung der Verfahrensbeteiligten und soll verhindern, dass diese zum bloßen Objekt des Verfahrens gemacht werden;[143] sie erweist sich damit als Ausprägung der Menschenwürdegarantie (Art. 1 Abs. 1 GG) und ist zugleich Ausfluss des Rechtsstaatsprinzips (Art. 20 Abs. 3 GG).[144] Aus dem Vorstehenden ergibt sich eine Doppelstruktur des Art. 103 Abs. 1 GG, der zum einen ein subjektives Recht des Grundrechtsträgers begründet und zum anderen ein objektiv-rechtliches Prinzip normiert, welches elementare Mindeststandards für gerichtliche Verfahren unter der Geltung des Grundgesetzes sichert.[145] Für den Gesetzgeber ergibt sich hieraus eine Pflicht zur Gewährleistung der durch Art. 103 Abs. 1 GG geforderten Mindeststandards, deren Verletzung mit der Verfassungsbeschwerde geltend gemacht werden kann.[146] Jenseits dieser rechtsstaatlichen Mindeststandards wird rechtliches Gehör nach Maßgabe des einfachen Rechts gewährt; das BVerfG prüft hier im Rahmen des Verfassungsbeschwerdeverfahrens lediglich, ob die Bedeutung des Art. 103 Abs. 1 GG bei der Anwendung des einfachen Rechts verkannt worden ist.[147] Neben dem Gesetzgeber bindet Art. 103 Abs. 1 GG ausschließlich die Gerichte, nicht hingegen die Strafverfolgungsbehörden, deren verfassungsrechtliche Pflicht, dem Beschuldigten im Ermittlungsverfahren rechtliches Gehör zu gewähren, sich jedoch unmittelbar aus dem Rechtsstaatsprinzip ergibt.[148]

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Wie bereits dargelegt, soll der Anspruch auf rechtliches Gehör sicherstellen, dass grundsätzlich in einer gerichtlichen Entscheidung kein Tatsachenstoff verwertet wird, zu dem der von ihm Betroffene nicht vollständig und in Kenntnis seiner potentiellen rechtlichen Bedeutung hat Stellung nehmen können; darüber hinaus folgt aus Art. 103 Abs. 1 GG auch ein Anspruch darauf, dass die Stellungnahme des Verfahrensbeteiligten inhaltlich vom Gericht zur Kenntnis genommen und bei der Entscheidung berücksichtigt wird.[149] Aus dem Gesagten lassen sich drei „Verwirklichungsstufen“[150] des Anspruches aus Art. 103 Abs. 1 GG ableiten, die auch bei der Ausgestaltung der Rechtsstellung der Verfahrensbeteiligten im Strafverfahren zu berücksichtigen sind: Im Zentrum steht das Äußerungsrecht, für dessen effektive Wahrnehmung der Verfahrensbeteiligte auf die vorherige Information über den rechtlich relevanten Verfahrensstoff angewiesen ist. Darüber hinaus besteht eine Pflicht des Gerichts, das durch den Verfahrensbeteiligten Geäußerte bei seiner Entscheidung auch zu berücksichtigen.[151]

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Als Vorwirkung aus Art. 103 Abs. 1 GG besteht mithin zunächst ein Anspruch des Verfahrensbeteiligten auf Information über alle tatsächlichen Grundlagen der zu treffenden Entscheidung, durch die er beschwert sein kann.[152] Werden strafprozessuale Eingriffsmaßnahmen im Ermittlungsverfahren gem. § 33 Abs. 4 StPO ohne vorherige Anhörung des Betroffenen gerichtlich angeordnet, so ist das rechtliche Gehör jedenfalls im Beschwerdeverfahren nachträglich zu gewähren; hier darf die Beschwerdeentscheidung nicht ergehen, bevor die aus sachlichen Gründen zunächst verwehrte Akteneinsicht gewährt wurde und der Beschwerdeführer sich umfassend äußern konnte (vgl. für die Entscheidung über die Anordnung bzw. Aufrechterhaltung von Untersuchungshaft § 147 Abs. 2 S. 2 StPO).[153] Zu einem „Rechtsgespräch“ ist das Gericht hingegen nach herrschender Meinung nicht verpflichtet; jedoch trifft das Gericht nach zutreffender Ansicht eine Pflicht, die Verfahrensbeteiligten auch auf rechtliche Gesichtspunkte hinzuweisen, wenn dies für eine effektive Wahrnehmung des Äußerungsrechts erforderlich erscheint.[154] Einen Verstoß gegen Art. 103 Abs. 1 GG hat das BVerfG daher zu Recht auch darin gesehen, dass das Gericht ohne vorherigen Hinweis auf einen rechtlichen Gesichtspunkt abstellt, mit dem auch ein gewissenhafter und kundiger Verfahrensbeteiligter selbst unter Berücksichtigung der Vielzahl vertretbarer Rechtsauffassungen nicht zu rechnen brauchte.[155] Einfachgesetzliche Ausprägungen dieses Anspruches finden sich beispielsweise in den §§ 136 Abs. 1 S. 1, 163a Abs. 4 S. 2 StPO, soweit diese auch eine Eröffnung der in Betracht kommenden Strafvorschriften vorschreiben, sowie in § 265 StPO, der die gerichtliche Hinweispflicht bei Veränderungen des rechtlichen Gesichtspunktes oder der Sachlage[156] normiert. Zu berücksichtigen ist allerdings, dass eine Gehörsrüge nur dann Erfolg hat, wenn die angefochtene gerichtliche Entscheidung auf der Verletzung des Art. 103 Abs. 1 GG beruht.[157] Eine Verletzung des Anspruches auf rechtliches Gehör kann darüber hinaus etwa in der Nichtzuleitung von Stellungnahmen der Gegenseite,[158] in der Ablehnung eines Beweisantrages[159] oder in der Nichtberücksichtigung von wesentlichem Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten liegen. Zwar zwingt Art. 103 Abs. 1 GG die Gerichte nach der Rechtsprechung des BVerfG nicht dazu, jedes Vorbringen ausdrücklich zu bescheiden; eine Gehörsverletzung kann jedoch anzunehmen sein, wenn besondere Umstände den Schluss zulassen, das Gericht habe das Vorbringen eines Verfahrensbeteiligten bei seiner Entscheidung entweder überhaupt nicht zur Kenntnis genommen oder bei der Entscheidung nicht erwogen. Geht das Gericht in seinen Entscheidungsgründen auf den wesentlichen Kern des Tatsachenvortrags eines Prozessbeteiligten zu einer Frage nicht ein, die für das Verfahren von zentraler Bedeutung ist, so lässt dies auf die Nichtberücksichtigung des Vortrags schließen, sofern er nicht nach dem Rechtsstandpunkt des Gerichts unerheblich oder offensichtlich unsubstantiiert war.[160]