Loe raamatut: «Handbuch des Strafrechts», lehekülg 6

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4. Das Rechtsstaatsprinzip als inhaltliches Kriterium

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a) Nach Art. 20 Abs. 3 GG sind die Legislative an die verfassungsmäßige Ordnung sowie die Exekutive und Judikative „an Gesetz und Recht gebunden“. Daraus wird traditionell das sog. Rechtsstaatsprinzip abgeleitet, das sich in verschiedene – in ihren Auswirkungen auf die Behandlung konkreter Fälle mitunter durchaus gegenläufige – Ausprägungen konkretisieren lässt. Diese schützen teilweise den Beschuldigten, der grds. nur Belastungen dulden muss, welche den Anforderungen eines Rechtsstaats genügen; andererseits wird das Rechtsstaatsprinzip aber auch durch eine funktionierende und effektive Justiz konkretisiert, hier in ihrer speziellen Ausprägung der Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege als hohes Gut für den Rechtsstaat.

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b) In der erstgenannten Dimension ergänzt das Rechtsstaatsprinzip den grundrechtlichen Schutz durch den Grundsatz der Gesetzmäßigkeit (Vorrang und Vorbehalt des Gesetzes, Wesentlichkeitstheorie sowie Bestimmtheit), durch den Aspekt des Vertrauensschutzes, durch den Verhältnismäßigkeitsgrundsatz sowie durch den Gedanken des effektiven Rechtsschutzes und eines gerechten Verfahrens (fair trial). Eine Reihe dieser Aspekte, die nicht nur aus Art. 20 Abs. 3 GG, sondern näher am Normtext auch aus Art. 6 Abs. 1, 3 EMRK abgeleitet werden können, haben – zumindest teilweise – spezielle Normierungen im Grundgesetz und selbstverständlich erst recht ausdifferenzierten Niederschlag in zahlreichen Vorschriften der StPO gefunden. Das Spektrum der Fragen, zu denen schon länger oder aber schwerpunktmäßig in der jüngeren Vergangenheit das Rechtsstaatsprinzip – wenn auch mit unterschiedlichem Erfolg – bemüht worden ist, ist ebenso weit wie divergent.[96]

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c) Das Rechtsstaatsprinzip fordert freilich nicht nur eine faire Ausgestaltung und Anwendung des Strafverfahrensrechts, sondern gestattet und verlangt auch die Berücksichtigung der Belange einer funktionstüchtigen Strafrechtspflege.[97] Dies setzt ausreichende Vorkehrungen dafür voraus, dass Straftäter im Rahmen der geltenden Gesetze verfolgt, abgeurteilt und einer gerechten Bestrafung zugeführt werden.[98] Insoweit wird freilich gegen diesen in der Rechtsprechung entwickelten Topos in der Literatur immer wieder – und auf den ersten Blick nachvollziehbar – vorgebracht,[99] dass die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ praktisch nur Erwähnung findet, wenn es um Einschränkungen von Beschuldigtenrechten geht, obwohl auch deren Schutz ohne Zweifel zu einem funktionierenden rechtsstaatlichen Strafprozess gehört. Durch die scheinbare Harmonisierung antagonistischer Interessen[100] scheinen im Ergebnis die Beschuldigteninteressen im Konfliktfall in den Hintergrund gedrängt zu werden. Bei genauerer Betrachtung fällt freilich nicht nur auf, dass in der höchst- und obergerichtlichen Rechtsprechung (einschließlich derjenigen des BVerfG) die Beschuldigteninteressen keinesfalls immer im Konfliktfall hintangestellt werden; vielmehr fungiert die „Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“ in der Regel auch weniger als ein neu geschaffenes, den Beschuldigtenrechten entgegengesetztes Abwägungskriterium, sondern bildet eher einen verfassungsrechtlichen Überbegriff für eine Reihe von legitimen Zielen, denen in der Abwägung die Rechte des Beschuldigten in ihrer grundrechtlichen Ausgestaltung oder als andere Ausprägungen des Rechtsstaatsprinzips sehr wohl gegenübergestellt werden.[101] Diese werden dann eben nicht als „Teil einer Funktionstüchtigkeit der Strafrechtspflege“, sondern (terminologisch dann vielleicht sogar klarer) mit anderen Begrifflichkeiten benannt, gerade um die verschiedenen Abwägungsparameter klar voneinander zu trennen.[102]

5. Das Gesetzlichkeitsprinzip als formell-methodische Größe

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a) Das Verfassungsrecht kommt nicht nur als inhaltlicher Maßstab für verfahrensbedingte Eingriffe in Betracht, sondern es liefert auch formal-methodische Vorgaben für die Rechtsfindung und ihre Grenzen. Dieser Aspekt, der für das materielle Strafrecht in Art. 103 Abs. 2 GG überragende Bedeutung hat, tritt im Strafprozessrecht traditionell deutlich hinter die Grundrechte als inhaltlicher Prüfungsmaßstab zurück. Dabei ist die Gesetzlichkeitsfrage im Prozessrecht kaum weniger bedeutsam, weil das Verfahren als Zustand rechtlicher Interaktion immer in die eine oder andere Richtung „weitergehen“ muss; ein dem materiellen Recht vergleichbarer Zustand von „Keine Regelung, daher keine Relevanz“ ist hier oft nicht denkbar, weil prozessual zumindest irgendwie reagiert werden muss.[103]

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b) Dennoch ist davon auszugehen, dass nach nicht unbestrittener, aber vorzugswürdiger Auffassung die Garantien des Art. 103 Abs. 2 GG als solche nicht für das Strafprozessrecht gelten (dass sich aber aus der Verfassung andere Grenzen ableiten lassen).[104] Dafür spricht schon der Wortlaut der Regelung (auch wenn vorstellbar wäre, den Begriff der „Strafbarkeit“ verfassungsspezifisch weit zu verstehen[105] und unter seine Garantie all die Normen fallen zu lassen, die letztlich für die Verhängung einer Strafe von Bedeutung sein können). Auch historisch ist zu beachten, dass die Wurzeln des nulla-poena-Grundsatzes[106] nicht nur das rechtsstaatliche Element des Schutzes vor richterlicher Willkür (das einer Erstreckung seiner Geltung auf das Strafverfahrensrecht nicht entgegenstehen, ja sogar für sie sprechen würde), sondern eben auch das präventive Element nach von Feuerbachs Theorie des psychologischen Zwanges ist, dem echte Berechtigung nur für das materielle Strafrecht zukommt. Vor allem aber liegt die Sonderstellung des materiellen – und nur des materiellen! – Strafrechts innerhalb eines generell vom Postulat des Gesetzlichkeitsprinzips für das Verhältnis zwischen Staat und Bürger beherrschten Rechtssystems gerade darin, dass mit der strafrechtlichen Verurteilung der sozialethische Vorwurf einer Schädigung elementarer gesellschaftlicher Interessen verbunden ist. Das gilt schon wegen der Unschuldsvermutung und wegen des Verdachts als hinreichendem Anordnungsgrund selbst für einschneidendste strafprozessuale Ermittlungsmaßnahmen gerade nicht im Strafprozessrecht.

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c) Aber auch ohne (ausdrücklichen) Rekurs auf Art. 103 Abs. 2 GG hat die Rechtsprechung etwa Analogien belastender Regelungen im Strafprozessrecht teilweise ausgeschlossen – allerdings teilweise auch Belastungen ohne gesetzliche Grundlage durchaus zugelassen, so dass ein uneinheitliches Bild vorliegt. So stellt z.B. das BVerfG in einer Entscheidung vom 23. Februar 1990[107] im Zusammenhang mit Straferlass und Gesamtstrafenbildung fest, dass für verfahrensrechtliche Vorschriften ein Analogieverbot gelte, während der BGH in seiner bekannten Leitentscheidung zum ungeschriebenen allgemeinen Missbrauchsverbot im Strafprozessrecht[108] ohne weitere Begründung (oder auch nur Erörterung dieser Problematik) ausführt, dass auf der Grundlage des allgemeinen Missbrauchsverbots – das prima vista für den Gesetzesvorbehalt ähnlich relevant erscheint wie der Analogieschluss[109] – auch ohne gesetzliche Verankerung das Beweisantragsrecht des Angeklagten nicht unerheblich eingeschränkt werden dürfe. Andererseits betont der BGH in seiner Entscheidung zur (nach alter Rechtslage) Unzulässigkeit der strafprozessualen Onlinedurchsuchung,[110] dass es „dem Grundsatz des Gesetzesvorbehaltes für Eingriffe in Grundrechte (Art. 20 Abs. 3 GG) sowie dem Grundsatz der Normenklarheit und Tatbestandsbestimmtheit von strafprozessualen Eingriffsnormen widersprechen“ würde, wenn gleichsam aus mehreren, für sich allein jeweils nicht „passenden“ Eingriffsbefugnissen eine als solche nicht geschriebene Befugnis für diese Ermittlungsmaßnahme abgeleitet würde.

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Zutreffend dürfte sein, dass auch die Rechtsanwendung im Strafprozessrecht als typischem „Eingriffsrecht“ dem allgemeinen Vorbehalt des Gesetzes unterworfen ist. Die unbefangene Neigung zu Analogien aus dem Zivilrecht lässt sich damit nicht auf Rechtsverkürzungen durch das Strafverfahren übertragen.[111] Konsequenz daraus ist, dass jedenfalls die Gebote der lex scripta und der lex stricta auch im Anwendungsbereich des einfachen Gesetzesvorbehalts Geltung beanspruchen können, während eine Art. 103 Abs. 2 GG vergleichbare Garantie der lex praevia dem allgemeinen Gesetzesvorbehalt fremd ist, so dass auch Prozesse nach dem jeweils geltenden Verfahrensrecht zu führen sind. Hinsichtlich der Garantie der lex certa sind etwa im Sicherheitsrecht, in dem als klassischem Eingriffsrecht selbstverständlich auch der allgemeine Gesetzesvorbehalt gilt, unbestimmte Generalklauseln nicht unüblich und hinsichtlich ihrer Zulässigkeit auch grundsätzlich anerkannt. Freilich wird man insoweit eine gewisse Korrespondenz mit der Eingriffstiefe dahingehend anzunehmen haben, dass auf Generalklauseln gestützte Maßnahmen zum einen keine massiven Grundrechtsbeeinträchtigungen gestatten können und dass durch sie zum anderen die Wertungen spezieller Vorschriften nicht unterlaufen werden dürfen.

6. Verfahren zur Wahrung der Verfassung

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Um praktische Wirksamkeit zu erlangen, bedürfen die verfassungsrechtlichen Bindungen einer prozessualen Absicherung bzw. Durchsetzbarkeit. Teilweise wird eine solche schon durch die Rechtsanwendung der Fachgerichte selbst gewährt. Daneben wird die Einhaltung des Verfassungsrechts aber auch durch das BVerfG gewährleistet,[112] insb. durch die Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG (sowie daneben auch durch die Möglichkeit von hier nicht näher dargestellten und auch in der Praxis sehr seltenen konkreten Normenkontrollanträgen nach Art. 100 GG). Dabei ist die Individualverfassungsbeschwerde nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG eine (auch im internationalen Vergleich bemerkenswerte) individuelle Möglichkeit des Bürgers, Rechtschutz gegen Grundrechtsverletzungen durch eine spezielle Instanz (und dabei auch gegen Akte der Legislative und der Judikative) zu suchen. Mit ihr kann nach Art. 93 Abs. 1 Nr. 4a GG jedermann rügen, „durch die öffentliche Gewalt in einem seiner Grundrechte oder in einem seiner in Art. 20 Abs. 4, 33, 38, 101, 103 und 104 enthaltenen Rechte verletzt zu sein“. Im strafrechtlichen Instanzenzug ist die Verfassungsbeschwerde (obgleich die Rechtssache im Ergebnis im Falle ihrer Erhebung oft abschließend) kein zusätzliches Rechtsmittel[113] und insb. keine „Superrevisionsinstanz“[114], sondern nur eine zusätzliche verfassungsrechtsspezifische Rechtschutzmöglichkeit,[115] welche in ihrem Prüfungsumfang auf die „Verletzung spezifischen Verfassungsrechts“ beschränkt ist.[116] Statistisch sind die Erfolgsaussichten einer Verfassungsbeschwerde gering,[117] und in Relation zu diesen begrenzten Erfolgsaussichten ist ihre ordnungsgemäße Erhebung (und auch ansprechende Begründung) mit erheblichem Aufwand verbunden.[118]

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Unter den hier nicht im Einzelnen zu behandelnden Zulässigkeitsvoraussetzungen ist im Zusammenhang mit dem Strafverfahren insbesondere die Subsidiarität der Verfassungsbeschwerde von Interesse. In mittlerweile ständiger Rechtsprechung hat das BVerfG aus § 90 Abs. 1 BVerfGG diesen Grundsatz über die formelle Erschöpfung des Rechtswegs hinaus entwickelt. Danach ist erforderlich, dass im fachgerichtlichen Verfahren alle Bemühungen, um eine Grundrechtsverletzung zu verhindern oder auszuräumen, erfolglos geblieben sind.[119] Der Blick auf eine mögliche Verfassungsbeschwerde mit entsprechenden Argumenten schon bei der fachgerichtlichen Verteidigung steht zwar in einem gewissen Kontrast zu etwaigen Bemühungen um konsensuale Verteidigungsformen,[120] ist aber im Einzelfall unvermeidlich, um den Subsidiaritätsanforderungen zu genügen, und sollte an sich auch „emotional“ jedenfalls bei einer späteren Rechtssatzverfassungsbeschwerde nicht genuin die Strafverfolgungsbehörden treffen. Beispiele für Subsidiaritätsanforderungen[121] aus der Rechtsprechung des BVerfG sind etwa[122] die Ablehnung eines Richters,[123] die Erhebung eines Widerspruchs gegen die Beweisverwertung nach der „Widerspruchslösung“,[124] ein Antrag analog § 98 Abs. 2 S. 2 StPO gegen Maßnahmen nach § 81a StPO[125] oder die Erhebung einer Verfahrensrüge nach Maßgabe von § 344 Abs. 2 S. 2 StPO bei überlanger Verfahrensdauer.[126] Bei einer Rüge der Verletzung von Art. 103 Abs. 1 GG ist die Anhörungsrüge nach § 33a StPO besonders bedeutsam.

II. Strafverfahren und materielles Strafrecht

1. Das Verhältnis von materiellem Strafrecht und Strafverfahrensrecht

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Der Strafprozess stellt zwar für die meisten Bürger den intensivsten und den eigentlich „erfahrbaren“ Kontakt mit der Strafrechtspflege dar; innerhalb dieser Beziehung steht er allerdings nicht alleine, sondern ist stets im Zusammenhang mit dem materiellen Strafrecht zu sehen. Zur Frage, wie dieses Verhältnis beschaffen ist, findet sich in der allgemeinen Prozessrechtslehre ein breites Spektrum von denkbaren Antworten: Dabei verdient im Ausgangspunkt durchaus der Gedanke einer „integrierenden Behandlung“ Beifall, der angesichts der Unschärfe des Rechts[127] und der Fortentwicklung der Rechtsprechung davon ausgeht, dass der Prozess nicht dazu dient, nur ein „von vornherein feststehendes, materielles (sc. Recht) (. . .) zu verwirklichen“, sondern dass im Prozess erst „das Recht – das subjektive und das objektive Recht bestimmt wird: Das Recht, das ohne den Prozess und das Urteil unbestimmt und nur subjektiv (in verschiedener Weise) bewusst und damit objektiv (allgemein) unbewusst bleiben würde.“[128]

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Freilich muss dieser Ansatz eingeschränkt werden: Denn bei aller Bedeutung der Dynamik des Verfahrens etwa für die Entscheidung von – im Prozess aufgeworfenen – Bedeutungskonflikten bleibt die methodengeleitete Arbeit am Gesetzestext als Überprüfungskriterium, weswegen auch ein Urteil, das die methodischen Vorgaben nicht einhält, durchaus als falsch bzw. „nicht Recht“ beurteilt werden kann. Wie Volk zutreffend formuliert, ist der „konkrete Rechtssatz, dessen der Richter zu Entscheidung bedarf, (. . .) nicht schon dadurch legitimiert, daß er konkret ist. Die Konkretisierung muß ‚richtig‘ sein“.[129] Dass das Verfahren gleichwohl legitimatorische Wirkung haben kann,[130] steht ebenso außer Frage, wie der Umstand, dass ein Prozessausgang auch unabhängig vom materiellen Recht im Detail eine befriedende Wirkung haben kann. Insoweit haben auch andere prozesstheoretische Modelle durchaus ihre Berechtigung. Normative Zielvorgaben für den Strafprozess erlauben also weder ein System der vollständigen Verschmelzung noch der rigorosen Trennung zwischen Prozess und materiellem Recht. Strafprozessrecht und materielles Recht sind vielmehr als zwar eigenständige, aber zusammenwirkende Rechtsmaterien zu betrachten, wobei das Prozessrecht insbesondere den Geltungsanspruch des materiellen Rechts unterstützen muss, was das oben stark gemacht Prozessziel der Durchsetzung des materiellen Strafrechts noch einmal bestätigt.

2. Schnittstellen von materiellem Recht und Strafverfahrensrecht

a) Grenzbereiche

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In den meisten Fällen ist die Abgrenzung, ob es sich bei einer Vorschrift um eine Regel des materiellen Strafrechts oder des Strafverfahrensrechts handelt, relativ klar und deckt sich im Wesentlichen mit der Aufteilung in Vorschriften des StGB und solche der StPO. Es gibt aber einige Regelungen, die an der Schnittstelle zwischen formellem und materiellem Recht liegen bzw. für beide Felder Bedeutung haben. Dies sind zum einen die strafprozessualen Befugnisnormen für Zwangsmaßnahmen, welche materiell-rechtlich zugleich Rechtfertigungsgründe für bestimmte Eingriffe darstellen. Dies liegt am Wesen der materiell-strafrechtlichen Rechtfertigungslehre, welche mit Blick auf den Grundsatz der Einheitlichkeit der Rechtsordnung und den für das materielle Strafrecht geltenden ultima ratio-Grundsatz davon ausgeht, dass Erlaubnisnormen aus anderen Rechtsbereichen immer auch rechtfertigend wirken: Was zivilrechtlich, polizeirechtlich oder aber eben auch strafprozessrechtlich erlaubt ist, kann materiell-rechtlich nicht zu einer Strafbarkeit führen. Eine Sonderrolle nimmt insoweit § 127 Abs. 1 StPO ein, da dieser nicht nur eine Befugnisnorm für die Strafverfolgungsbehörden, sondern eine Jedermannsbefugnis in Gestalt eines Festnahmerechts beim Ertappen auf frischer Tat enthält. Damit handelt es sich ausnahmsweise um einen strafprozessualen Rechtfertigungsgrund, auf den sich auch jeder Bürger berufen kann.

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Zum anderen sind im StGB Rechtsinstitute geregelt, die nicht mehr die Frage nach der Strafbarkeit und damit nach der Bewertung eines Verhaltens als tatbestandsmäßig, rechtswidrig und schuldhaft betreffen, sondern schon mehr mit der Verfolgbarkeit zu tun haben. Besonders deutlich ist dies bei den Regelungen über die Verjährung (§§ 78 ff. StGB) und über die Strafantragserfordernisse (allgemein geregelt in §§ 77 ff. StGB, als Strafantragserfordernis im Besonderen Teil etwa in § 123 Abs. 2, 230, 248a, 247, 303c StGB festgeschrieben). Der Eintritt der Verfolgungsverjährung bzw. das Fehlen eines Strafantrags führt dann im Strafverfahren auch nicht (wie das Fehlen der Tatbestandsmäßigkeit oder das Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes) zu einem Freispruch, sondern stellt ein Verfahrenshindernis (bzw. eine fehlende Prozessvoraussetzung) dar. Dieses ist in jeder Lage des Verfahrens von Amts wegen zu berücksichtigen und führt grundsätzlich zu einer Einstellung des Verfahrens.[131]

b) Einfluss des materiellen Rechts auf das Prozessrecht

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Das materielle Strafrecht ist der zentrale rechtliche Prüfungsgegenstand des Strafverfahrens und hat in diesem Sinne selbstverständlich großen Einfluss darauf. Spezifische materiell-rechtliche Kategorien spielen für das Strafverfahren nur teilweise eine Rolle, denn im Grundsatz läuft das Strafverfahren unabhängig davon ab, hinsichtlich welcher Straftat ein Tatverdacht besteht bzw. eine Anklage erhoben ist. An einzelnen Stellen gibt es aber doch entsprechende Bezüge: So ist für einzelne strafprozessuale Zwangsmaßnahmen von Bedeutung, ob es sich bei der verfolgten Tat um ein Verbrechen (i.S.d. § 12 Abs. 1 StGB) handelt oder nicht. Demgegenüber spielt etwa aus dem Allgemeinen Teil des Strafrechts die Unterscheidung zwischen Täterschaft und Teilnahme regelmäßig keine Rolle, da insbesondere bei den strafprozessualen Befugnisnormen nicht selten Täterschaft und Teilnahme explizit nebeneinander genannt werden (vgl. etwa § 100a Abs. 1 Nr. 1 StPO: „jemand als Täter oder Teilnehmer“) bzw. in anderen Fällen gar keine Nennung erfahren, so dass ebenfalls davon ausgegangen werden kann, dass die Verfahren gegen den Täter und Teilnehmer im Prinzip identisch laufen. Gleiches gilt jedenfalls grundsätzlich auch für die Verfolgung von vollendeten oder nur versuchten Taten (vgl. nochmals § 100a Abs. 1 Nr. 1 StPO: „Straftat begangen, in Fällen, in denen der Versuch strafbar ist, zu begehen versucht“).

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Ebenfalls insbesondere bei bestimmten Zwangsmaßnahmen, welche mit einem System von „Katalogtaten“ arbeiten (vgl. z.B. §§ 100a, 100b oder 100c StPO), kommt es dann doch darauf an, hinsichtlich welcher Delikte im konkreten Fall Ermittlungen angestellt werden. Die für die Einzelstraftatbestände des Besonderen Teils vorgesehenen Strafrahmen – sei es als Obergrenzen für die verhängbare Strafe, sei es als zumindest wichtiger erster Schritt in die Strafzumessung – spielen außerdem für die sachliche Zuständigkeit erster Instanz eine wichtige Rolle (vgl. § 24 und § 74 GVG); für Sonderzuständigkeiten etwa des Schwurgerichts oder der Wirtschaftsstrafkammer kommt es dann auch noch einmal auf die konkret vorgeworfenen Taten an (vgl. § 74 Abs. 2 GVG sowie § 74c GVG).