Loe raamatut: «Kardinäle, Künstler, Kurtisanen», lehekülg 4

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Anno 1676 warfen die „ewigen Berge“ fünf oder sechs Prozent ab. Hochgerechnet auf die gesamte Staatsschuld waren das jährlich mindestens zweieinhalb Millionen scudi Aufwendungen allein für Zinsen. So viel aber brachte der ganze Kirchenstaat samt seiner Hauptstadt nicht ein. Dieses Jahresbudget weist 1674 gerade einmal einen Nennwert von 2,4 Millionen auf. Davon aber mussten sämtliche öffentlichen Ausgaben bestritten werden: die Gehälter der zahlreichen Amtsträger, Kosten für Verteidigung, Subventionen aller Art, nicht zuletzt für Brot, Ausgaben für Botschafter, Straßenbau etc., summa summarum Fixkosten von mehr als zweieinhalb Millionen. Dabei waren die Zinszahlungen in ungefähr derselben Höhe nota bene nicht miteinberechnet. Man hatte ein Gegenfinanzierungsproblem. Gewiss, das Papsttum hatte noch eine andere, verschwiegenere Kasse: die Datarie. Über sie wurden die so genannten Gnadenhandelsoperationen abgewickelt. Deren große Zeit fiel in den Pontifikat Alexanders VI. Anno 1500 konnte man Kardinalate noch meistbietend verkaufen; ein roter Hut brachte je nach Kaufkraft des Interessenten zwanzig- bis dreißigtausend Dukaten (d.h. inflationsbereinigt, auf das Jahr 1676 bezogen, an die hunderttausend scudi) ein. So lukrativ diese Verkäufe waren, ihre Nachteile lagen in der damit verursachten Rufschädigung: in der Zerstörung des religiösen Kapitals, ohne welches langfristig auch kein Geld mehr fließen würde. Und unter einem so skrupulösen, tief religiösen Papst wie Innozenz XI. war selbst an weitaus unanstößigere Geschäftspraktiken dieser Art nicht mehr zu denken. Sogar Heiratsdispense – ein Verkaufsschlager des Renaissancepapsttums – gab man jetzt gratis.

Ein echtes Dilemma also: was konnte man tun? Der neue Papst setzt, wie im Zangengriff, an vier Seiten zugleich an. Und zwar zuerst bei sich. Schon nach wenigen Wochen verdient der päpstliche Hof diesen Namen nicht mehr. Die Ausgaben für Repräsentation aller Art tendieren gegen Null. Innozenz selbst sucht sich im Quirinalspalast – den überhaupt zu beziehen ihm schwere Gewissensnöte verursacht – die schäbigsten Zimmer, ohne Fenster. Die prachtvollen Gartenanlagen auch nur zu betreten, hindert ihn eine heilige Scheu. Zehn Jahre lang trägt er dieselbe Soutane, bis sie in Fetzen fällt. Und die päpstliche Tafel wird bei Feinschmeckern berüchtigt. Das alles ist natürlich vorrangig symbolisch, gewiss auch eine Frage des Images, der angestrebten Wirkung nach außen; der finanzielle Nutzeffekt fällt demgegenüber kaum ins Gewicht.

Dieser hingegen ist bei der Umstrukturierung der Staatsschuld gewaltig. Denn der neue Papst betet nicht nur reichlich, er arbeitet unaufhörlich, mindestens fünfzehn Stunden am Tag. Und bei aller Frömmigkeit studiert er pausenlos Rechnungen und Bilanzen. Hier vollzieht sich eine erste Revolution. Denn eine Brigade gut ausgebildeter Finanzprüfer (wo waren diese Leute eigentlich vorher?) hat, wiederum binnen weniger Monate, zumindest das Gros der verstreuten Schulden ausfindig gemacht, getreu dem Motto, dass man das Schreckliche kennen muss, um es zu bannen. Die dabei entdeckten Hunderte von Anleihen werden jetzt in einen einzigen riesenhaften monte eingebracht. Das klingt nicht eben umstürzend und ist doch eine im Europa der Zeit nahezu einzig dastehende Operation. Ihr Resultat ist eine übersichtliche und zugleich konsolidierte Staatsschuld. Doch das ist nur der erste Schritt. Auf den der zweite sogleich folgt. Alles Protestgeschrei der europäischen Finanzwelt hilft nichts: für sämtliche monti wird die Verzinsung jetzt einheitlich auf drei Prozent zurückgeschraubt. Das war eine kühne und weitblickende Maßnahme. Die Finanzberater des Papstes nämlich schätzen richtig ab, dass die römische Kreditwürdigkeit dennoch erhalten bleiben werde. Waren doch in den letzten zwei Jahrzehnten die Erträge aus Landbesitz und -verpachtung am Beginn einer Abschwungphase der europäischen Ökonomie, die schließlich hundert Jahre dauern sollte, kontinuierlich gesunken, und zwar um bis zu vierzig Prozent. Vor diesem düsteren Hintergrund war eine sichere Rendite von drei Prozent aus den römischen Staatstiteln nicht zu verachten.

Haarscharf am Markt, unter konsequenter Ausnutzung der von diesem gebotenen Chancen, bewegt sich zum anderen die Subventionspolitik des Papstes. Hier kommt ihm Glück zur Hilfe, dem man allerdings auch kräftig nachhilft. Denn nach den schweren Versorgungskrisen der Jahrhundertmitte fallen jetzt die Ernten wieder deutlich besser aus, ganz abgesehen davon, dass nach den Epidemien dieser Krisenzeit weniger Mägen zu füllen sind. Zudem tut die päpstliche Wirtschaftspolitik alles, um ein Überangebot an Getreide am Tiber herbeizuführen – mit überwältigendem Erfolg. Auf diese Weise sinken die Weizenpreise so tief, wie sie seit einem Menschenalter nicht mehr gelegen haben. Auch hier hagelt es natürlich Proteste. Doch der Papst bleibt fest. Ein Shareholder-Value-Pontifex war Innozenz XI. wahrlich nicht. Doch nicht nur die römischen Aristokraten mussten verzichten lernen.

Derart billiges Getreide hätte es erlaubt, Brot zu einem Traumgewicht pro Einheitspreis von einem Hundertstel scudo zu verkaufen. Doch daran dachte der Papst nicht im Traum. Jetzt, so seine Argumentation, war durch eine besondere Gnade Gottes die Gelegenheit geboten, auch diesen Etatposten zu sanieren. Und so verkauft die staatliche Getreidebehörde billig erworbenen Weizen unverändert teuer an die römischen Bäcker, die ein Jahrzehnt hindurch einer rigorosen Zwangsabnahme unterliegen. Und auch hier intensive Marktbeobachtung: die dadurch verursachte Verteuerung wird sehr genau im Auge behalten: ein Brotpreis, der den uralten Forderungen des Volks nach erschwinglicher Basisnahrung entspricht, bleibt dennoch gewährleistet. Das mögliche Schlaraffenland allerdings wird ihnen verschlossen. Würden Politiker unserer Tage eine solche Operation wagen, so würden sie diese wohl sozial ausgewogen nennen – und flugs abgewählt werden.

Rein zweckrational betrachtet aber macht dieses Vorgehen Sinn: in Zeiten des Überflusses den Verbrauchern zumutbare Kosten zu verursachen, um für die nächsten Krisen Reserven anzusammeln. Und das Vorhaben gelingt, über alle Erwartungen hinaus. Die europäischen Finanzexperten reiben sich ungläubig die Augen. 1689 sind am Ende des Pontifikats nämlich stolze fünf Millionen Staatsschulden tatsächlich getilgt. Und es gibt wieder ein ansehnliches Plus im laufenden Budget. Rom hat finanzielle Lebenskraft für ein weiteres langes Jahrhundert gewonnen. Dazu trägt entscheidend bei, dass dieser Papst keine Nepoten hat – als erster und einziger aller länger regierenden Päpste seit mehr als drei Jahrhunderten. Das ist die zweite, die moralische Revolution. Sie erzeugt gewiss auch finanzielles, vor allem aber symbolisches Kapital. Und doch ist sie wie alle Revolutionen riskant. In den endlosen Debatten der vorangehenden Jahrzehnte hatten die Befürworter des Nepotismus eines ihrer stärksten Argumente – über den Mensch gewordenen Christus hinaus – darin gefunden, dass ein Papst, der die planmäßige Verwandtenförderung beseitigt, auf diese Weise seine Vorgänger diskreditiert. Das aber konnte man als einen Akt des Hochmuts auslegen: besser sein zu wollen als so viele vom Heiligen Geist erkorene Amtsinhaber. Innozenz XI. nahm diesen Einwand ernst, so ernst, dass die geplante Bulle, welche den Nepotismus für alle Zeit unterdrücken sollte, vorerst nicht zustande kam und erst 1692 unter seinem zweiten Nachfolger Innozenz XII. mit manchen Kompromissen verkündet wurde. Doch gegenüber der eigenen Familie machte der Odescalchi-Papst keine halben Sachen: kein Geld, kein Amt, kein Rang, kein Einfluss für seine Verwandten. Finanziell konnten sie das ohne weiteres verschmerzen. Und auch wenn die Römer den Neffen des Papstes, Don Livio, sprichwörtlich als stiefonkelhaft vernachlässigt bedauerten – langfristig haben die Odescalchi von dieser rigorosen Haltung mehr profitiert als die meisten Nepoten von den über sie ausgeschütteten Füllhörnern. Zum einen konnten sie sich darauf berufen, einen geradezu heiligen Papst hervorgebracht zu haben; und zum anderen durften sie mit stolzgeschwellter Brust von sich sagen: was wir geworden sind, sind wir trotzdem geworden. Und das war nicht wenig. Aber auch wenn er jede unmittelbare Unterstützung der Seinen ablehnte, in Sachen Heiratspolitik sprach der Papst kein Veto aus. So verschwägerten sich die Odescalchi wie gehabt mit der Crème de la Crème der römischen und italienischen Aristokratie, für die ein solcher Pontifex in der Verwandtschaft schlicht eine Statusaufwertung bedeutete.

Bankiers, kleine Leute, Nepoten – sie alle mussten sparen. Noch härter aber traf es Architekten, Maler und Bildhauer. Anfängliche große Erwartungen – dass dieser Papst etwa die Kolonnaden des Petersplatzes grandios erweitern würde – zerschlugen sich in Windeseile. Seinem Selbstverständnis als Erhalter und Befestiger entsprechend baute dieser Papst keine neuen architektonischen Weltwunder wie seine Vorgänger, sondern bewahrte allenfalls ältere Substanz, wenn sie es wert war, vor allem dann, wenn sie symbolischen Aussagewert besaß. Der Papst schützt die Kirche vor dem Einsturz – diese neue Selbstdarstellung findet ihren konsequenten Ausdruck im Medium der Restaurierung und vielleicht noch radikaler in der Umfunktionierung. Was für Pracht und Prunk errichtet wurde, hat jetzt den nüchtern-heiligen Geboten der Caritas zu dienen. So wird der Lateranpalast, für den es seit seiner Errichtung unter Sixtus V. (1585–1590) nie eine sinnvolle Verwendung außer der gab, Erhabenheit an geschichtsträchtiger Stätte anzuzeigen, kurzerhand zum Hospital umgebaut. Dieser Wandel sollte sich als fundamental erweisen – Rom entdeckt die Ästhetik des Minimalen, die Propaganda der Schlichtheit. Dass Verzicht auf Prunk aussagekräftiger sein kann als aller Glanz der Form: diese Entdeckung prägt das Selbstverständnis des Papsttums bis heute.

Kaum weniger schwer als Bankiers und Luxushändler trifft die Sanierung des maroden Systems die Gewerbe, die der Unterhaltung dienen. Dieser Dienstleistungssektor war in Rom traditionell gut besetzt. Musiker, Schauspieler, Regisseure und selbst Kurtisanen hatten die kurze, rigorose Reformzeit unter Pius V. (1566–1572) ohne allzu schwere Kundschaftsverluste überstanden und speziell unter dem mondänen Pontifikat Urbans VIII. (1623–1644) eine Blütezeit ohnegleichen erlebt. Und hier, im verzweifelten Versuch, das Lebensgefühl einer Epoche nach strengen alten Reinheitsgeboten zu reformieren, stößt der exemplarisch erfolgreiche Pontifikat des konservativen Reformers denn auch an Grenzen. Gewiss, man konnte den Römern ihren heiß geliebten Karneval verbieten, wenngleich nicht ohne das Risiko, brachialen Unmut zu erzeugen. Und natürlich reichte der Arm des Papstes auch weit genug, um die Aufführung von Singspielen aller Art zu untersagen. Selbst die verblüfften Jesuiten mussten damit rechnen, dass ihre moralisch erbaulichen Schuldramen auf einmal der schnöden Zerstreuung verdächtig wurden. Alle Lustbarkeiten aber lassen sich die Römer nicht verbieten. Diejenigen, die ihnen dabei zu Diensten sind, müssen jedoch mancherlei Restriktionen und Schikanen in Kauf nehmen.

So bietet der Pontifikat des späten Reformpapstes reichlich Stoff zu historischer Spekulation. Wären alle oder auch nur die meisten Päpste seit der Mitte des 16. Jh. wie er gewesen: die Geschichte Roms und der Kirche wäre anders verlaufen. Zeigt die Herrschaft Innozenz’ XI. doch ein für alle Mal auf, welche Belastung der Nepotismus für das Papsttum bedeutete – und wie abwegig alle Thesen von einer sinnvollen Herrschaftsfunktion der Nepoten, zu welchem Zeitpunkt auch immer, sind. Dass man Rom, den Kirchenstaat und die katholische Kirche insgesamt im Gegenteil ohne Papstverwandte weitaus effizienter und für die öffentliche Meinung akzeptabler zu regieren vermochte, dass man auf das dazu nötige Reservoir loyaler und kompetenter Amtsträger jederzeit zurückgreifen konnte, ohne die Bande des Blutes zu bemühen – auch dafür steht der Modellpontifikat von 1676 bis 1689. Auf der anderen Seite wäre ein Rom ohne Nepoten eine ziemlich glanzlose Stadt – streicht man alle ihre Bauten, Statuen und Bilder heraus, dann sieht der römische Stadtplan pockennarbig aus.

Das Rad des Zeitgeistes aber ließ sich durch alle konservativen Reformanstrengungen nicht mehr zurückdrehen. Und am Ende auch der Nepotismus nicht. Im 18. Jh. ist er, in dezent standardisierter, doch weiterhin intensiver Ausprägung wieder da. Und am Ende reicht auch die finanzielle Sanierung Roms und des Kirchenstaats nur bis 1798. In diesem Jahr kommen die französischen Revolutionstruppen und rufen die Republik aus: auch eine Sanierung.

Familienbande und Familienkonflikte

VOLKER REINHARDT

Ein Mord, den jeder begangen haben könnte

Hinter dem Quirinal ist Rom zu Ende. Wer weiter geht, betritt die Zone des Schweigens. Marmorbilder ohne Kopf und mit zerbrochenen Händen, Brunnen, die verschlafen rauschen, Schatten, die durch samtige Sommernächte huschen. Tagsüber arbeiten hier emsige Weinbauern, abends gehört die Stadt der Gärten und Grotten den Beutel- und Halsabschneidern. Und den vornehmen Partygästen. Nächtliche Picknicks im Grünen sind in. Zur Kühle der Nacht gesellt sich ein wollüstiger Schauer. Die Nähe zu den wilden Vaganten, die bei flackerndem Lagerfeuer ausschweifende Feste feiern, stimmt die Hautevolée sinnlich. Vorausgesetzt, sie hat ihre Leibwächter dabei. Und auch dabei spielt man ein prickelndes Spiel: Wer die wenigsten Bewaffneten braucht, hat das höchste Prestige: Er ist unangreifbar – oder er hält sich dafür.

In dieser Hinsicht ist die Gesellschaft, die sich am Abend des 14. Juni 1497 in einem Weingarten zwischen S. Pietro in Vincoli und S. Martino ai Monti zusammengefunden hat, unschlagbar. Eine Mini-Escorte reicht völlig aus. Ansonsten ist man ganz unter sich: die zwei Söhne des regierenden Papstes Alexander VI., Juan Borgia, der Herzog von Gandia, und sein älterer Bruder Cesare, der Kardinal-Erzbischof von Valence, sowie beider Mutter, Vanozza de’ Catanei, viele Jahre lang die Quasigattin des ehemaligen Kardinals und jetzigen Pontifex. Dass dieser sich inzwischen jüngere Mätressen genommen hat, mindert die gewachsene Herzlichkeit nicht im mindesten – so sind die Männer eben, auch wenn sie die Tiara tragen. Die glückliche Rumpffamilie, die da zusammenkommt, hat eine Menge zu feiern.

Gelacht wird auf Kosten eines angeheirateten Verwandten, der jetzt zum Ex-Schwager gemacht wird. Und zur komischen Figur in ganz Italien: Giovanni Sforza, Herzog von Pesaro, Noch-Gatte von Juans und Cesares Schwester Lucrezia. Mit den Sforza, so der unfehlbare Instinkt der Borgia, geht es unaufhaltsam bergab. Ludovico, der Herzog von Mailand, der seinen Neffen, den legitimen Herrscher, vergiftet haben soll, hat sich in den Fallstricken seiner ränkereichen Politik selbst verfangen. Und sein Bruder Ascanio Sforza, der Alexander durch seine Bestechungsmanöver zum Papst gemacht hat, wird allmählich lästig. Er pocht allzu penetrant auf die Abmachung von 1492: ein Papsttum, geteilt durch zwei. Und gebärdet sich als Über-Pontifex. Inzwischen aber ist der Papstmacher in einer geschwächten Position. Auch über ihm hängt das französische Damoklesschwert. Fordert der Bruder des Königs, der Herzog von Orléans, endlich sein mailändisches Erbe ein, ist es um die Sforza geschehen. So aber hat Giovanni, der ungeliebte Schwager, seine Schuldigkeit getan. Bzw. eben nicht. Die Begründung für die Auflösung der Ehe nämlich lautet: Nicht-Vollzug. Mit anderen Worten: Impotenz. Der trutzige Kriegsmann Giovanni, mit siebenundzwanzig in der Blüte seiner Jahre, als Versager in der ritterlichsten aller Disziplinen? Ein echter Borgia-Scherz. An den Höfen Italiens amüsiert man sich königlich. Gerade heute Nachmittag hat man Kardinal Ascanio die Unabänderlichkeit dieses Entschlusses eröffnet. Und man hat sein Gesicht noch vor Augen. Der Beleidigte muss gute Miene zum bösen Spiel machen. Verstellen muss er sich umso mehr, als er sich akut bedroht fühlt. Schließlich haben die Ärzte während seiner gerade überstandenen schweren Erkrankung bedenklich den Kopf geschüttelt. Denn sie diagnostizierten Symptome der etwas anderen Art. Schwarze, aufgequollene Zunge, chronische Übelkeit. Eine vorerst noch dosierte Botschaft aus dem Giftbecher? Arrogante Feinde ganz klein: so lieben es die Borgia. Nur Lucrezia nicht. Diese Pointe, findet sie, geht auf ihre Kosten. Beleidigt hat sie sich in ein vornehmes Nonnenkloster zurückgezogen. Soll sie nur schmollen, Juan und Cesare lassen sich den Spaß nicht verderben. Man wird die ungebärdige Schwester rasch zur Raison bringen und bald einem neuen Kurzzeit-Gatten zuführen. Ihn wird ein noch viel härteres Los treffen: Cesares Würgeschlinge.

Nunc est bibendum. Angestoßen wird nicht nur auf die Demütigung der arroganten Sforza, sondern auf einen weiteren kolossalen Erfolg, der gerade eine Woche zurück liegt. Am 7. Juni nämlich hat Alexander VI. im Konsistorium der Familie Borgia einen enormen Rang- und Machtzuwachs beschert. Das Herzogtum Benevent – eine römische Exklave im Königreich Neapel mit glorreichen Erinnerungen an die fast tausend Jahre zurückliegende Zeit langobardischer Eroberung– nebst angrenzender Gebiete wird Juan, dem 20-jährigen Lieblingssohn des Pontifex, als erbliches Lehen übertragen. De facto bedeutet das eine unabhängige Herrschaft, die nur noch lose an die Oberhoheit des Papstes gebunden bleibt. Und einen Dorn im Fleisch des Königs von Neapel. Auch mit ihm, so wissen die Borgia, geht es bergab: vier Könige in drei Jahren, einer schwächer als der andere. Dafür werden die großen Adeligen immer stärker. Die mächtigsten dieser Barone aber sollen bald Borgia heißen. Das wäre die vorletzte Stufe auf dem Weg zum Thron. Ihn betrachtet die Sippe längst als ihr rechtmäßig zustehendes Eigentum. Gegen die Verleihung Benevents zu protestieren, ja sie als unverantwortliche Verschleuderung kirchlichen Besitzes anzuprangern, aber hat nur ein einziger von sechsundzwanzig Kardinälen gewagt: Francesco Todeschini Piccolomini, Nepot Pius’ II. (1458–1464). Die Borgia und ihre vielen Anhänger im Kardinalskollegium betrachten ihn als eine Art lebendes Fossil. Denn er redet unablässig mit erhobenem Zeigefinger von Sittlichkeit und Schicklichkeit. Wie sie unter seinem Onkel vorherrschten, versteht sich. Als eine Art Kurien-Narren lässt man ihn gewähren. Gehör findet er ja kaum noch.


Porträt Papst Alexanders VI. Borgia

Nach dem Tod Alexanders VI. am 18. August 1503, den seine Feinde – und das hieß: fast ganz Rom und Italien – auf einen irrtümlich vertauschten, den Gegnern der Borgia zugedachten Giftbecher zurückführten, ist die Jagd auf die Wappen und Bilder der verhassten Sippe eröffnet. So überleben nur wenige Porträts des Pontifex, der aus dem Papsttum ein reines Familienunternehmen machte (und in Wirklichkeit an Malaria zugrunde gegangen sein dürfte). In jüngeren Jahren als schön und stattlich beschrieben, ist Alexander mit der charakteristischen Adlernase und dem voluminösen Mund zwar weiterhin als vital ausgewiesen (seinen letzten nachweisbaren Sohn zeugt er mit siebzig), doch zunehmend fettleibig – Ohnmachtsanfälle bei Prozessionen sind die Folge.

Mit diesem Erfolg ist zugleich die Erinnerung an eine peinliche Schlappe getilgt. Ursprünglich nämlich wollten die Borgia ihr Territorium auf Kosten der Orsini errichten, die grob gerechnet ein gutes Drittel Latiums als weitgehend unabhängiges Herrschaftsgebiet regieren. Als Rebellen gegen die Kirche und Feinde Italiens – eine schöne neue, die nationalen Emotionen aufpeitschende Brandmarkung – exkommuniziert, verlieren die tödlich beleidigten Barone im Herbst 1496 Burg um Burg an die Borgia. In der entscheidenden Schlacht von Soriano am 24. Januar 1497 aber schlagen sie das päpstliche Heer vernichtend. Das Desaster verursacht hat Juan Borgia, der zwanzigjährige Chaos-Stratege. Doch das ist jetzt, bei der Gartenparty in lauschiger Sommernacht, vergessen und vergeben – so scheint es zumindest. Denn die Sieger müssen am Ende doch klein beigeben. Um wieder in die Gunst Alexanders aufgenommen zu werden, haben sie viel Geld zu zahlen und sogar einige Gebiete abzutreten. Wer einen Papst auf seiner Seite hat, fällt immer auf die Füße. Zumindest so lange dieser lebt. Danach aber wird es brenzlig. Und so dürfte sich Cesare im Stillen seine Gedanken machen. Wie soll man mit Juan, diesem ebenso eingebildeten wie unfähigen Stammhalter, einen Staat und eine Dynastie begründen?

Anmerken aber lässt er sich an diesem ausgelassenen Abend nichts. Bei so viel Heiterkeit wird es spät im Weinberg der Vanozza. Doch auch das schönste Fest muss einmal zu Ende gehen. Bei Einbruch der Nacht bricht man auf. Durch die duftenden Gärten und die stillen Straßen zieht die Gesellschaft Richtung Tiber. Bei Ascanio Sforzas Palast in der Via del Pellegrino nahe des Campo de’ Fiori trennen sich die Wege. Juan nämlich hat noch etwas vor. Was, das ist angesichts seines anzüglichen Grinsens nicht schwer zu erraten. Jetzt, wo niemand dabei ist, mahnt Cesare seinen Bruder, auch und gerade bei amourösen Abenteuern vorsichtig zu sein. Doch dieser nimmt nur einen Stallknecht mit und, nicht zu vergessen, die maskierte Gestalt, die schon auf der Weinberg-Party dabei war. Seit drei Wochen folgt sie dem Papstsohn auf Schritt und Tritt. Die meisten Römer halten sie für eine alte Kupplerin. Doch das erklärt nicht ihre Allgegenwart. Sie steigt hinter Juan aufs Maultier. Und dieser verschwindet im Dunkel der Nacht.

Kurz darauf wird weiterer Ballast abgeworfen. Der Stallknecht erhält die Anweisung, bis 23 Uhr an der Piazza dei Giudei beim Bogen der Octavia auf Juan zu warten und dann nach Hause gehen. Tatsächlich tut er weder das eine noch das andere. Am nächsten Morgen findet man ihn schwer verletzt. Juan aber taucht nicht auf. Vielleicht, so sinnt der besorgte Vater eingedenk eigener Erfahrung, ist die Nacht heiß und lang geworden. Als es aber weder am Abend noch am nächsten Morgen ein Lebenszeichen gibt, wird die höchste Alarmstufe ausgerufen. Alexander ist vor Angst ganz außer sich. Ohne Zögern wolle er sein Papsttum für das Leben des geliebten Sohnes hingeben. Solche Ausbrüche, die Prioritäten markieren, zirkulieren in den vatikanischen Korridoren und römischen Straßen. Ein Familienpapst, fürwahr.

Unterdessen laufen die Fahndungen auf Hochtouren. Konkret bedeutet das, dass man sich umhört. Und Verdächtige verhört. Mehr haben die Polizeimethoden der Zeit nicht zu bieten. Hellhörig wird man, als sich im Laufe des Tages ein dalmatinischer Holzhändler meldet. Er hat eine ebenso einfache wie beunruhigende Geschichte zu erzählen. Während der Nacht, die er zum Schutz seiner Ware auf einem Boot gegenüber der Kirche S. Giorgio degli Schiavoni verbracht habe, sei er, auch im Schlaf immer auf der Hut vor Dieben, von gedämpften Geräuschen geweckt worden. Zuerst hätten zwei Männer das Terrain sondiert und dann, als die Luft rein war, ein Zeichen gegeben. Daraufhin sei ein Reiter auf einem Maultier erschienen, mit einem Leichnam hinter dem Sattel. Diesen hätten zwei weitere Begleiter mit einem kräftigen Schwung in den Tiber geworfen. Erkannt habe er niemanden. Und im Übrigen seien solche Vorfälle die Regel. Interessiert aber habe das die Behörden bisher nicht. Entsorgung von Mordopfern auf römische Art. Die Borgia werden sich schon bald dieser Methode erinnern: in den Tiber mit den Feinden ihres Hauses.

Alexander ist vom lakonischen Bericht des Holzhändlers wie elektrisiert. Sämtliche Fischer Roms werden aktiviert. Und wer sich irgend über Wasser halten kann, geht im Tiber schwimmen – hohe Belohnungen locken. Am 16. Juni wird der Gesuchte unweit eines Lustgartens des Kardinals Ascanio Sforza tatsächlich aus dem Fluss gezogen – mit neun Dolchwunden und durchgeschnittener Kehle. Von seinen kostbaren Kleidern und aus der reich bestückten Geldbörse fehlt nichts. In all dieser Hektik aber bleibt ein fundamentales Faktum unbeachtet: Der Tote treibt oberhalb der Stelle, welche der wachsame Dalmatiner als Leichenkippe bezeichnete. Tote aber kraulen nicht.

Wie dem auch sei, jetzt herrscht Staatstrauer. Der Papst isst und schläft drei Tage und Nächte lang nicht. Mehr noch: er verkündet, in sich gehen zu wollen. Von jetzt an werde die Liebe zu den Armen, nicht zur Familie regieren. Ja diese wird, unerhörte Neuerung, sogar aus dem Vatikan verbannt. Einige Borgia müssen bis nach Süditalien emigrieren. Und wie immer, wenn Reform angesagt ist, wird eine Kommission ernannt. In ihr haben die wenigen noch verbliebenen Kardinäle vom alten Schrot und Korn wie Todeschini Piccolomini und Oliviero Carafa aus Neapel das Sagen. Einmal ins Leben gerufen, rechtfertigt das Gremium seine Tätigkeit durch die zügige Ausarbeitung von Vorschlägen. Sie klingen altväterlich züchtig und ähneln nicht zufälligerweise den Wahlkapitulationen der Vergangenheit, mittels deren die Kardinäle im Konklave den künftigen Papst auf eine Art Verfassung der Kirche zu verpflichten versuchten. Die dem schlechten Gewissen Alexanders entsprungene Arbeitsgruppe nämlich fordert: mehr pastorale Kirche, weniger Prunk, Obergrenzen für die Einkünfte von Kardinälen – und zugleich mehr Kontrollmacht für diese, auf dass der Pontifex nicht mehr über die Stränge schlage.

Und schon erkaltet der seelsorgerische Eifer des Borgias-Papstes im Rekordtempo. Die Alten können es nicht lassen. Wo käme man bei der Umsetzung dieser Pläne hin? Kein Familienstaat und, fast genauso schlimm, keine rauschenden Feste mit schönen jungen Frauen im Vatikan mehr. So macht das Papstamt keinen Spaß. Damit aber ist das Ende der Reform schnell besiegelt, schon im Herbst ist alles toter Buchstabe. Scharfblickende Zeitgenossen waren ohnehin der Meinung, dass alles nur Täuschung war: inszeniert, um das spanische Königspaar Isabella von Kastilien und Ferdinand von Aragon, das sich so sittenstreng gerierte, günstig zu stimmen. Ein Zeichen, dass man den strafenden Fingerzeig Gottes verstanden und beherzigt habe, sollte her. Im Übrigen ist die Ausdeutung des Mordes damit noch nicht ausgestanden. Einige Monate später werden spanische Botschafter mit Alexander in diesem Sinne brutalen Klartext reden: die durchgeschnittene Kehle seines Lieblingssohnes sei eine letzte Warnung, in sich zu gehen. Inzwischen aber hatte der Papst eine Replik parat: Ferdinand und Isabella seien dadurch, dass Gott ihnen überlebende Nachkommen verweigere, weitaus härter geschlagen.

Während die Utopie einer sittlich regulierten Kurie aufscheint, flackert und erlischt, suchen die Borgia ihren Mörder. Wie beim Jüngsten Gericht kann sich kaum jemand sicher fühlen. Die nahezu unbegrenzte Zahl der Verdächtigen ist symptomatisch. Die Borgia haben sich zahllose Feinde, aber keine sicheren Freunde geschaffen. Man traut ihnen schlicht nicht über den Weg: so viele gebrochene Versprechen, so viele aufgekündigte Allianzen, so viele nicht eingehaltene Verpflichtungen. Und so viel Gier nach Macht und Geld. Wer diesem Papst die Hand küsst, achte auf seine Lippen. Das zumindest ist das Image Alexanders und seiner Lieben.

Und so reiht sich, was Rang und Namen hat, ein in den Reigen der potentiellen Mörder. Täglich notieren die römischen Wettbüros neue Favoriten. Zuerst liegt Kardinal Ascanio Sforza vorn. Vendetta läge in seinem Fall ja wahrlich nahe. Und nahe liegend ist auch der Tatablauf: der Abschied, der Leichenfund, alles in Steinwurfweite. Zudem wollen Zeugen gegenüber seinem Palast den Lärm von Straßenkämpfen gehört, ja Juan dort sogar noch lebend gesehen haben. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass hier Indizien in gewollter Häufung auftreten. Irgendjemand scheint auf Ascanio mit dem Finger zu zeigen. Diesem wird ob so vieler gezielter Hinweise beklommen zu Mute. Wie so oft während des Borgia-Pontifikats ergreift er die Flucht – er fürchtet offenbar den Überfall bewaffneter Brigaden. Solche Attentate sind in diesen Jahren nichts Ungewöhnliches. Als sich kürzlich das Gerücht verbreitete, der mit Ascanio und Alexander tödlich verfeindete Kardinal Giuliano della Rovere sei inkognito aus seinem langjährigen Exil in Frankreich nach Rom zurückgekehrt, fand man anderen Morgens den Bischof von L’Aquila, der in Giulianos Palast wohnte, grausam gemeuchelt vor. Alexander selbst aber gibt Entwarnung: Ascanio sei es nicht gewesen, er habe nichts zu befürchten. Dennoch kein Seufzer der Erleichterung: wer glaubt schon diesem Papst.

Der offizielle Freispruch gilt auch für den entheirateten Giovanni Sforza. Dieser war schon zuvor aus Rom entwichen, um dem öffentlichen Hohn zu entgehen. Doch natürlich hätte er seine Häscher schicken können. Hat er aber nicht, so der Papst. Giovanni rächt sich trotzdem, und zwar für einen Schlagetod seines Kalibers erstaunlich subtil. Er setzt nämlich das Gerücht in die Welt, Alexander habe die Ehe Lucrezias geschieden, um sich selbst mit ihr zu verlustieren. In der Tat ist die Beziehung zwischen Vater und Tochter sehr innig, wenngleich aller Wahrscheinlichkeit nicht auf diese Weise intim. Dafür vertraut er Lucrezia. Und zwar so rückhaltlos, dass er sie bald danach zur Gouverneurin der Stadt Spoleto ernennt und ihr später sogar während seiner Abwesenheit die Obhut über den Vatikan anvertraut – einschließlich des Rechts, seine Korrespondenz zu öffnen. Einem Pontifex maximus, der so etwas tut, traut Europa in wollüstigem Grauen auch das Schlimmste, auch den Inzest zu.

Die Mörder-Kandidaten kommen und gehen: Gonsalvo de Cordoba, der große spanische Feldherr, der den Feinden Alexanders die Festung Ostia entrissen hatte und durch Juan um den verdienten Ruhm gebracht worden war; Antonio Maria della Mirandola, der die Verführung seiner Tochter mit dem Blut des Verführers gesühnt haben soll – und viele, viele andere. Vielsagendes Schweigen des Papstes breitet sich allein über die Orsini aus. Für sie war die Vergabe Benevents an Juan ein schwerer Schlag, mussten sie doch um ihre angrenzenden Güter, logische Objekte der nächsten Borgia-Begehrlichkeiten, fürchten. Und auch sonst waren sie bisher die Meistgeschädigten des Pontifikats; so argwöhnten sie – nicht ohne gute Gründe –, dass ihr Clanchef Verginio kurz zuvor in seinem neapolitanischen Gefängnis durch päpstliches Gift gestorben war. Doch, o Wunder, sie bleiben unbehelligt. Mehr noch: als zwei Jahre später aus der nächsten Ehe Lucrezias mit einem Prinzen des aragonesischen Hauses ein Knäblein entspringt, darf ein Orsini ihn aus der Taufe heben. Diese rührenden Szenen tun ihre Wirkung. Als Cesare – der das Kardinalat inzwischen gegen einen französischen Herzogtitel und eine Tochter des Königs von Navarra eingetauscht hat – kurz danach zur Ausrottung der päpstlichen Vikare in der Romagna ausrückt, stehen ihm neben französischen Truppen auch zwei Herzöge der Orsini zur Seite, als sei nichts gewesen. Doch es war etwas. In der Neujahrsnacht 1503 lockt Cesare diese unsicheren Verbündeten in die Falle von Senigallia, der Papst den Kardinal Orsini hingegen ins Verlies der Engelsburg. Dort stirbt dieser unliebsame Purpurträger Ende Februar des üblichen schnellen und natürlich ungeklärten Todes. Die beiden Herzöge aus dem Hause Orsini aber werden auf Befehl Cesares erdrosselt.

Tasuta katkend on lõppenud.