Loe raamatut: «Prekäre Eheschließungen», lehekülg 17

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3.3 Widerstreitende Urteilslogiken

Bereits bei der Darstellung des Eigensinns konnte festgestellt werden, dass dieser Ambivalenzen zu erzeugen vermochte. Doch worin bestand diese Mehrdeutigkeit eigensinniger und daher prekarisierter Eheschließungen im Gericht? In den folgenden Erläuterungen wird es darum gehen, die zwei dominanten politischen Logiken hinter dem Verhalten des Gerichts herauszuschälen. Dadurch soll die von Rudolf Braun angedeutete „bevölkerungspolitische Ambivalenz des ausgehenden Ancien Régime[s]“ in der Praxis des Oberchorgerichts von Bern konkretisiert werden.1 Dabei werden beide Positionen verdichtet und zugespitzt dargestellt und als Idealtypen präsentiert. Gerade bei einstimmigen Urteilen konnte es allerdings durchaus vorkommen, dass sich die Haltungen nicht diametral gegenüberstanden, wie es hier vielleicht den Eindruck erwecken mag. Dennoch werden im Folgenden die im Gericht existierenden Pole aufgezeigt. So treten die Spannungen innerhalb dieses mächtigen Gremiums zwischen Bevölkerungspolitik und patriarchalem Herrschaftsverständnis, also zwischen unterschiedlichen gouvernementalen Verständnissen, markant hervor.

3.3.1 Das reformorientierte ehepolitische Lager

Die eben erwähnte Kostenpolitik des Gerichts, die Ehewillige quasi in doppelter Weise ‚einlud‘ – finanziell und weil es die Legitimation der Eheschließung belohnte – und die größere Zahl bewilligter (im Vergleich zu den verhinderten) Eheschließungen deuteten bereits eine Tendenz in der ehepolitischen Stoßrichtung des ehegerichtlichen Gremiums an. Einsprüche wurden durch dieses eher gehemmt, eigensinnige Eheschließungen durch das Abwälzen der Kosten auf die Opponierenden unterschwellig subventioniert, zumindest wurden durch die beschriebene Kostenpraxis des Gerichts einer Eheschließung keine zusätzlichen finanziellen Hindernisse in den Weg gestellt. Diese vorerst quantitativ beobachtete Benachteiligung des Zugrechts durch das Oberchorgericht findet ihre narrative Bestätigung in den Quellen. Es konnte vorkommen, dass die Mehrheit der Richter das Gesetz, das den Eltern das eheliche Vetorecht gegenüber ihren minderjährigen Kindern einräumte, scharf kritisierte. Ihnen war das den Eltern „gegonte zugrecht viel zu positiv“, weil

„keine exception darin enthalten, daß, fahls eine denen ellteren bekante frequentation unterloffen, oder alles aber die ellteren keine gründ geben wollen, sich einer solche ehe zu opponieren, sonderen lediglich sich diß orts an dem buchstaben deß gesatzes halten“.1

So sahen gewisse Richter durchaus Gründe, wieso Eltern und Vögte ihren Anspruch auf das Zugrecht verlieren sollten, obwohl dieser Verlust dem Gesetzestext zufolge nicht vorgesehen war. Die anpassungsfähige Praxis dieser Obereherichter weckt Assoziationen mit jenem Befund aus der historischen Kriminalitätsforschung, der insbesondere für den hier relevanten Untersuchungszeitraum auf „ein ausbalanciertes System von Recht und Gnade, von Normdivergenz und Sanktionsverzicht“ hinweist.2 Laut Regula Ludi vollzog sich im Verlauf des 18. Jahrhunderts eine Entwicklung hin zu einer milderen Strafpraxis der Gerichte, die von ihr als Entgegnung auf die aufklärerische Rechtssprechungskritik interpretiert worden ist. In den hier untersuchten Ehegerichtsfällen kam es in eben diesem Sinn wiederholt vor, dass sich die Mehrheit der Gerichtsbeisitzer in ihrem Urteil einer engen, wortgetreuen und somit streng formal-juristischen Auslegung des patriarchalen Ehegesetzes widersetzten.3 Dagegen folgten sie anderen rechtlich-moralischen oder auch bevölkerungspolitischen Überzeugungen, die den ehelichen Eigensinn der prekarisierten Paare begünstigten. Ihre Haltung öffnete damit Spielräume für die Ehewilligen. Gelegentlich konnte das sinngemäß im Protokoll explizit geäußert werden, wenn das finale Urteil im Widerspruch zum geltenden Gesetzt stand. Dann notierte der Gerichtsschreiber zum Beispiel: „Moralische Betrachtungen haben zu dieser […] Meinung geleitet.“4 Der gesetzliche Anspruch eines Vogtes auf das Zugrecht über seinen Zögling konnte von Teilen des Gerichts als „schnödes Recht“ verschrien werden, dem ökonomische oder moralische Überzeugungen entgegengesetzt wurden.5 Eltern, Vögte und Gemeinden, die vom Umgang ihrer Kinder wussten, um dann vor Gericht doch das Zugrecht gegen den Ehevollzug einzulegen, wurden bezichtigt, das Gesetz durch ihre wortwörtliche Auslegung zu missbrauchen und dadurch die vorausgehende soziale Verantwortung gegenüber ihren Angehörigen außer Acht zu lassen.6 So erschienen die Eheeinsprechenden, die sich wortgetreu auf den ständisch-patriarchalen Gesetzestext bezogen, tendenziell rückwärtsgewandt. Dagegen trat ein Teil des Oberchorgerichts geradezu gesetzeskritisch und in der Auslegung der Fälle ehefördernd auf. Sie nutzten ihren richterlichen Ermessensspielraum teilweise zugunsten von Ideen, die auch von den zuvor vorgestellten Populationisten vertreten wurden.7 Dort erschien das patriarchale Ehegesetz unaufgeklärt, wenn die Eherichter

„jeh nach Beschaffenheit […] [der begehrten Ehe] sich nicht an den dürren Buchstaben des Gesazes zu halten, sonderen demselben ein vernünftige und der Natur der Sach selbsten angemessene Erläuterung zu geben“

verpflichtet fühlten.8 Die Oberchorrichter wiesen hier unverhohlen darauf hin, dass sie selbst die Ehegesetze unter gewissen Umständen für unzeitgemäß und korrekturbedürftig hielten. Dieses Argument der Oberchorrichter, die mittels gnädiger Urteile eine reformorientierte Ehepolitik verfolgten, verdeutlicht die Aussage von Barbara Stollberg-Rilinger, dass die Naturrechtslehre im 18. Jahrhundert vielen Obrigkeiten dazu diente, die „Rechte der ständischen Zwischengewalten“ sukzessive abzubauen und den Handlungsspielraum zugunsten rational begründeter staatlicher Zielvorstellungen, z. B. eben der Bevölkerungsvermehrung, auszudehnen.9 Damit agierte diese Fraktion der Assessoren eindeutig gegen patriarchale Interessen intermediärer Gruppen. Sie waren mit ihrem gnädigen, will heißen flexiblen, Umgang mit dem Gesetz offenbar gewillt, die kommunalen und familienpolitischen Partikularinteressen, die sich auf ein geltendes patriarchales Privileg bezogen, nämlich das eheliche Vorzugsrecht, zugunsten einer neuen Politik zurückzuweisen.

Der Wille, die Anwendung und die ehehindernden Effekte des Zugrechts der Familien so weit wie möglich einzudämmen, offenbarte sich auch darin, dass man es zunehmend einer möglichst kleinen Gruppe von Angehörigen zubilligen wollte. In einem Fall, der sich 1760 zutrug, wollte der Gemeindevogt laut Gericht eine „bemittelte Gemeinds-Angehörige“ vom Heiraten abhalten, um deren Besitz in den eigenen Reihen zu behalten.10 Er tat dies, obwohl die angehende Braut die Zustimmung der Mutter hatte. Das Gericht ließ verlauten, dass die Abstufung, wem unter welchen Umständen das Zugrecht zukomme, in der Chorgerichtssatzung ganz genau definiert wäre – „und niemanden wird etwann zu Sinn steigen, daß die Einwilligung der daselbst vernamseten Personen zu einer gültigen Ehe cumulativé erfordert werden“.11 Während zuvor also das Gesetz im Namen übergeordneter ehepolitischer Interessen in Frage gestellt worden war, wurde es hier wiederum angewendet, um dieselben Interessen durchzusetzen. Die Begründung: Die Eheschließungen sollten nicht von den ökonomischen Interessen der Gemeinden und den Befindlichkeiten ihrer Vertreter abhängen, „sonderen auf das […], was das Recht vermag“.12 Wenn der Vater sein Einverständnis zur Heirat gäbe, wäre kein Konsens mit der Mutter, noch mit den Verwandten erforderlich. Ebenso wäre die Einwilligung der Verwandten oder des Vogts unnötig, wenn die Mutter mit der Eheschließung ihres Kindes einverstanden wäre. Den Grund für diese Abstufung formulierten die Eherichter wie folgt: „Wie wenige Ehen würden zu Stand gebracht werden können, wann so viele interessierte spem sumessionis habende Collateralen um ihren Consens gefragt werden müßten.“13

Unter den ehebegünstigenden Obereherichtern wurde gerade in der ausgedehnten Verwendung des Zugrechts der Verwandten und Gemeinden die Ursache für die vielen unehelichen Geburten verortet,

„weil dieses väterliche Recht bey denen Unterthanen eine Zeit daher dergestalten misbraucht wird, daß die geringste Disparität nicht nur von Mittlen, sondren auch prætendirten Stands, wirklich eine der stärksten Quellen von der bald unerträglichen Anzahl der Bastarten ist; dieses beneficium juris dann unmöglich von dem hohen Gesatz-Geber in solcher Absicht ertheilt werden seyn kann; und seiner Natur nach […] allezeit eher restringirt als extendirt werden solle.“14

Die ehefördernde bevölkerungspolitische Ausrichtung, wie man sie schon in den Abhandlungen der Oekonomischen Gesellschaft vernehmen konnte, zeichnete sich also nicht nur quantitativ in den Urteilen ab, sondern auch eindeutig und sprachlich explizit in den Urteilsbegründungen. Das Recht auf die Eheschließung wurde in der Gerichtspraxis vom reformorientierten Lager der Oberchorrichter demokratisiert und tendenziell in ein Naturrecht überführt, das jedem Menschen zustehen sollte. Vereinzelt wurde sogar gefordert, dass Ehen über Standesgrenzen und ökonomische Ungleichheiten hinaus zu akzeptieren wären, wie es auch die Populationisten forderten. Dem ständischen Argument der „Disparitæt beydseitigen Vermögens“ wurde von diesen Richtern dadurch der Nährboden entzogen, zumindest wenn sie selbst davon nicht betroffen waren.15 In dieser säkularen Haltung war ein Hang hin zu einer zentralstaatlichen Verwaltung zu erkennen, die den Zugriff von intermediären Gruppen auf die Subjekte zurückdrängte und dadurch den eigenen ausbaute, ein in zunehmendem Maß naturrechtlich akzentuiertes Eheverständnis kultivierte und in der Urteilspraxis auch Grenzen der Ständegesellschaft zu überschreiten begann.

In diesem Zusammenhang ist ein weiterer Fall zu erwähnen, der Kritik am patriarchalen Vorrecht des Ehezugs offensichtlich macht. Ein Teil der Richter beschwerte sich über den Umgang mit vorehelichen Schwangerschaften auf dem Land und bemängelte die ehehemmende Funktion des Zugrechts. Während „in dergleichen Fällen Personen von Rang oder bürgerlichem herkommen“ zu Wiedergutmachungsehen angehalten würden, Eheschließungen also gefördert würden, sei „nicht wohl zu begreifen, warum das Landvolk einzig sich mit dem dürren Buchstaben der Satzung zu schirmen befügt seyn, und, gleichsam unter deren Schirm, das ohnehin mit Bastarten angefüllte Land zügellos mit einer Menge dergleichen unglückseligen Früchten belästigen könnte“.16 Durch das Zugrecht wurde der Landbevölkerung in dieser Perspektive die Möglichkeit geboten, der Ehe und somit dem obrigkeitlichen Zugriff auf ihr Sexualverhalten auszuweichen. Gerade das patriarchale Zugrecht ermöglichte jungen LandbewohnerInnen die ungehinderte voreheliche Sexualität, „zumalen es leyder! dahin gekommen, daß die meisten junge ledige Landleute die Züchtigung der gesetzlich bestimmten Abbüßung wenig mehr achten, ja viele darunter öffters darmit ihr Gespött treiben.“17 Das patriarchale Zugrecht verursachte und verstärkte in dieser Denkweise exakt jenes Phänomen, das es eigentlich zu verhindern galt: die starke Vermehrung unehelicher Bevölkerungsteile, deren Versorgung ein großes Problem für die Gemeinden darstellte. Die voreheliche Sexualität wurde vom Gericht problematisiert und der Abbau von Ehehindernissen gleichzeitig als Lösung präsentiert. Dadurch konnte die voreheliche Sexualität zu einem taktischen Instrument ehewilliger AkteurInnen avancieren, weil man in dem hier vorgestellten reformorientierten richterlichen Lager geneigt war, diese durch die Eheschließung nachträglich zu legitimieren. Denn, so das Gericht, „[dem öffentlichen Interesse (Interesse publicum)] ist mächtig daran gelegen, und es kan auch anderst nicht als der Wille des Landes-Fürsten seyn, daß das Land nicht je mehr und mehr, mit Bastarden ausgefüllt, und beschwärt werde.“18

So thematisierte das Gericht in seinen konkreten Urteilen wiederum unmissverständlich, dass die Sittengesetze ihre Wirkung in großen Teilen der Bevölkerung eingebüßt hatten. Im reformorientierten Lager war man bereit, diesen Umstand durch die flexible Gerichtspraxis zu korrigieren. Hier kritisierten einige Obereherichter den inkorrekten Einsatz des Zugrechts und seine negativen Konsequenzen für die öffentlichen Interessen, die im Sinne der Staatsräson mit den Absichten der Regierung zur Deckung gebracht werden sollten. Noch expliziter wurde das in der folgenden Gesetzeskritik:

„Allein, da diesem an sich recht Patriotischen Systema, […] noch immer die Strenge der Gesäzen vor dem Licht stehet, und so wohl der Modus probandi in matrimonialibus, als das Zug-Recht der Vögten, Verwandten usw. deutlich und mit dörren Buchstaben, vorgeschrieben, so kann mann dermalen, so gerne man auch wollte, von dieser Richtschnur nicht abgehen, und muß solche als die einzige Norman decidendi erkennen.“19

Damit kam zum Ausdruck, dass es diesen Richtern nicht mehr um die quasi fürstliche Regierung und Disziplinierung ihrer Untertanen ging. Ihre patriotischen Gedanken kreisten um das öffentliche Interesse, um das Gesamtwohl einer Bevölkerung, um die patriotisch interpretierte Staatsräson. Nicht die Erfüllung der veralteten Gesetze war in diesem reformorientierten Lager primäres Regierungsziel, sondern, wie Regula Wyss in Anlehnung an Foucault formuliert, „der Prozess des Regierens selbst“.20 Dadurch wurde möglich, dass in Ehebelangen „auch die adeliche Famille inn ihren darwider gemachten oppositionen nicht begründt befunden“ und mit ihren Zugrechtsklagen abgewiesen wurde, der Geburtsstand als symbolisches Kapital also tendenziell an Bedeutung einbüßte.21

Die Motive hinter den ehebegünstigenden Forderungen dieses Gerichtsteils lassen sich nicht nur implizit erkennen, sondern auch explizit in der Quellensprache nachweisen: Das patriarchale Zugrecht intermediärer Parteien sollte so stark wie möglich eingeschränkt werden, weil von diesem Lager im Ehegericht „die Beförderung der Heurath als dem Wohl des Staats angemessen“ betrachtet wurde.22 Die reformorientiert gesinnten Teile im Ehegericht bezichtigten die Gemeinden, dass ihre Angst vor dem wirtschaftlichen Scheitern von Ehen „fürs künftige alle heyrath der minder bemitelten Unterthanen lediglich von dem guten Willen ihrer Gemeinden abhängig machte; eine Willkühr deren äußerst schädliche Folgen sich in kurzem mit Macht, und zu gröstem Nachtheil der Copulation würden empfinden lassen“.23 Anhand dieser Aussagen lässt sich der Populationismus, der grundsätzlich die soziale Ausweitung des Ehestands forderte, unzweifelhaft auch im Oberchorgericht verorten.24

Bezeichnenderweise waren nur diejenigen Eheschliessungen von der grundsätzlichen Förderung ausgeschlossen, die „einer gesunden Politic“ entgegenstanden:25 Die Eheschliessungen von alten und kranken Menschen. „[…] nach dem allgemeinen Lauff der Natur [könne] der Zwek der Ehe wegen dem Alter [oder eben dem Gesundheitszustand] der Verlobten nicht erreicht werden.“26 So waren auch jene Stimmen im Oberchorgericht, die die Eheschließungen fördern wollten, der Meinung, dass „Heiraten von alten und gebrechlichen Menschen mit dem Zweck dieses gesellschaftlichen Bandes keiner wegen, und in keinerley Sinn übereinstimmt[e]“.27 Sie gehorchten nicht der Natur, der eine gute Regierung zu folgen und zum Durchbruch zu verhelfen hatte. Auch diese Argumentation fand sich bereits bei den Populationisten wieder, die ehepolitisch auf Bevölkerungsvermehrung und nicht auf Altersvorsorge abzielten. Der biopolitische Impetus dieses ehegerichtlichen Flügels zeigte sich in der Forderung nach einer Ehepolitik, die nur die ‚gesunde‘ und auf Fortpflanzung gerichtete Sexualität förderte. Diese Forderung konnte allerdings auch bedeuten, dass die Eheschließung den „Arzneygelehrten“ zufolge in den Gerichtsakten als ein „dienliches Heilungsmittel“ gegen die „hysterischen üblen“, jener „Krankheit des Weibes“, erscheinen konnte.28 Dieses war der Fall von Magdalena Koch, die 1770 Johann Rudolf Müller zu heiraten begehrte, von ihren Verwandten aber der „Nervenkrankeit“ bezichtigt wurde. So existierten durchaus auch innerhalb der biopolitischen Argumentation unter den Richtern Spannungen, wenn die Frage im Raum stand „[w]as für gutes […] bey dieser Ehe für die Societet und für die Eheleut selbst zu hoffen“ war.29

Wie genau diese bevölkerungspolitisch motivierten Positionen Eingang in das Gericht fanden, ist schwierig zu eruieren und kann hier nicht erschöpfend behandelt werden. Eine sehr plausible Möglichkeit, das zeigt Wyss für Bern in eindrücklicher Weise auf,30 waren personelle Querverbindungen zwischen Sozietäten und Regierungsorganen. Eine solche Verquickung zwischen der Oekonomischen Gesellschaft und dem Oberchorgericht sticht hervor und konkretisiert sich in der Person von Johann Rudolf Tschiffeli. Dieser war von 1755 bis zu seinem Tod 1780 Sekretär des Berner Oberchorgerichts, hatte großen Einfluss auf die revidierten bernischen Chorgerichtssatzungen und war gleichzeitig eine bedeutungsvolle Figur in der Bewegung der ökonomischen Patrioten. In der Literatur ist dieser als „milder Menschenfreund“ beschrieben worden, der angeblich „durch seinen Einfluss und durch seine Verwendung […] das traurige Los vieler Menschen gemildert“ habe, was zu der ehepolitischen Stoßrichtung der hier vorgestellten Oberchorrichter passen würde.31 1759 gründete er die Oekonomische Gesellschaft von Bern. Er zeichnete sich neben seinen vorwiegend landwirtschaftlichen Schriften dadurch aus, dass er sich für bessere Verhältnisse der Heimatlosen im Kanton Bern einsetzte.32 Dazu passt die Tendenz im Oberchorgericht, die Ehe breiteren Schichten zugänglich zu machen. Die bevölkerungspolitischen Absichten dieses richterlichen Lagers, das in Tschiffeli für fast die Hälfte des Untersuchungszeitraums über einen einflussreichen Verbündeten verfügte, standen in großem Widerspruch zur kommunalen und patriarchalen Logik und bevorzugten aufgrund ihrer Politik die eigensinnigen Eheabsichten prekarisierter AkteurInnen. Man war also in diesem tendenziell ehefördernden bevölkerungspolitischen Lager des Oberchorgerichts in reformabsolutistischer Manier gewillt, die Macht der Intermediären zu Gunsten eines zentralisierten Gewaltmonopols und eines direkteren Zugriffs auf die Untertanen einzuschränken. Dazu war man auf den Eigensinn und die Justiznutzung der AkteurInnen gewissermaßen angewiesen. Sie eröffneten dem sich entwickelnden Staat einen direkten Zugriff auf einen gerade dadurch zunehmend intim werdenden Bereich des Lebens, der zuvor vom sozialen Nahraum mehr oder weniger sichtbar und kollektiv überwacht und reguliert wurde.

3.3.2 Das ständisch-patriarchale Lager

Wie bereits erwähnt, war das Oberchorgericht allerdings kein einstimmiges Organ, sondern vereinte – im Großen und Ganzen – zwei oppositionelle ehepolitische Meinungslager in seinen Reihen. Das jetzt vorgestellte Lager wird als ‚patriarchales‘ charakterisiert, das noch stark einer geburtsständischen Sittenlogik verhaftet war. So fand sich im Gericht auch dieses tendenziell traditionellen Werten verpflichtete Lager wieder, das konsequent am ständisch-patriarchal verfassten Ehegesetz festhielt und disziplinarische Funktionen akzentuierte. Dieses Lager beabsichtigte, dem patriarchalen „Willen und [der gesetzlichen] Vorschrift des Hohen Gesäzgebers, der dem oberen Ehegericht in seinem Eyd ausdruklich anbefiehlt‘ alle Ihre Urtheile und Erkanndtnußen nach dem buchstäblichen Innhalt gegenwärtiger Sazungen auszufällen’“.1 Es verfolgte einen weniger gnädigen und daher auch weniger flexiblen Umgang mit dem Gesetz, wenn es darum ging, den eigensinnigen Ehebegehren zu begegnen.

Wie anhand des Verhältnisses zwischen bewilligten und abgelehnten prekären Eheschließungen aufgezeigt werden konnte, begegneten sich die Vertreter der entgegengesetzten Positionen im Oberchorgericht in den Urteilen ungefähr in einem Verhältnis von 3:2 (bewilligt zu abgelehnt). Somit bildete sich auch in der konkreten gerichtlichen Praxis das ambivalente diskursive Verhältnis zwischen Vertretern der patriarchalen Ehegesetze, die tendenziell einer hausväterlichen Ökonomik folgten und in physiokratischer Sichtweise die Überbelastung der natürlichen Ressourcen durch eine Übervölkerung befürchteten, und Vertretern einer reformorientierten populationistischen Bevölkerungspolitik ab. Den Spannungsbogen zwischen den beiden Lagern benannte das Oberchorgericht im Fall einer Vaterschaftsklage in Bezug auf das Ehegesetz gleich selbst: Die „[…] Ehegerichts Ordnung manifestiert deutlich die Absicht und den Zwek deß weisen Gesezgebers, die Sidtenlosigkeit und Verführung einzuschränken, soviel möglich Heurathen zu bewürken, mithin eheliche Kinder anstatt unehelicher zu erzielen […]“.2

Jene Richter, die die patriarchale Gewalt zu stützen versuchten, erblickten in prekären Eheschließungen tendenziell eher Sittenlosigkeit und Verführung und bekämpften damit gewissermaßen das Projekt der Populationisten, so viele Heiraten wie möglich zu bewilligen, um uneheliche Geburten zu vermeiden und dadurch die Gesundheit und das Bevölkerungswachstum zu befördern. Aus diesen Gründen betonten die Vertreter einer patriarchal akzentuierten Ehepolitik in ihrer kritischen Haltung gegenüber Heiraten auch moralische Bedenken und die Gefahren für eine ständisch organisierte Gesellschaft. Diesem Lager war es wichtig, dass das Brautpaar „nicht nur Alters halb […] gleich, sondern auch [die] übrige Umstände […] übereinzukommen – mithin eins des andern wohl wehrt zu seyn“ hatte. Eheverbindungen, die diesem Anspruch nicht genügten, verstießen „wider die Anständigkeit und gute Sitte“.3 Folglich legten die ständisch-patriarchal ausgerichteten Oberchorrichter den Fokus auf „gleichheit des Stands, Herkommens, Vermögens[,] Alters beydseitiger Partheyen“ und deren „guten Leumden“.4

In der Frage der Altersentsprechung bildete sich tendenziell eine Schnittmenge zwischen geburtenförderndem populationistischem Lager und der ständisch-patriarchalen Gerichtspartei. Gerade dieser Umstand konnte zu einstimmigen Gerichtsentscheiden führen. Das Argument der Standesgleichheit stellte auch nicht zwangsläufig einen fundamentalen Meinungsunterschied zwischen den Parteien dar, wurde aber doch mit deutlich unterschiedlichen Vorzeichen versehen. Die Brautleute sollten „von gleicher Condition und Mittlen“ sein, weil die ständisch-patriarchale Moral dies verlangte.5 Dieser Moral ging es primär darum, „[d]ie Ehre der Bürger und Unterthanen […][,] das kostbarste Kleinod, das dem Landesfürsten zur Aufrechterhaltung und Beschützung […] anvertraut seyn kann“, zu bewahren.6 Damit verteidigten diese Richter ein Ehrkonzept, das durch ungleiche Heiraten bedroht war, beziehungsweise ‚verletzt‘ wurde. Dementsprechend galt es diese Verbindungen abzuwehren, weil dadurch auch das eigene ständische „Ehrgefühl“ bedroht war.7 Dagegen sollten standesgleiche Eheschließungen gefördert werden, um die ständische Ordnung zu stabilisieren. Damit bekannten sich diese Richter eindeutig zu einer Kultur der Ehre, in der diese als soziales Kapital verstandene Ressource in ihrer gesellschaftlichen Bedeutung zu erhalten war.8 „Dis-portion“, ob des Alters oder des Standes wegen, konnte deswegen „nicht viel gutes andeute[n]“, beziehungsweise der patriarchal interpretierte „Zwek des Ehestands […] nicht in einem einicher seiner Theilen erreicht werden“.9 Ungleichheit widersprach für dieses hausväterlich geprägte Lager „allen Regeln der Sittenlehre“.10 Während der Ehezweck im bevölkerungspolitisch reformorientierten Lager ein ‚natürlicher‘ war, dem es gegen ständische Argumente zum Durchbruch zu verhelfen galt, akzentuierten die Vertreter einer patriarchalen Urteilslogik also vor allem den sittlich-moralischen Zweck der Eheschließungen: die Aufrechterhaltung einer ständischen Ordnung, die immer auch mit Ausgrenzung zusammenhing.11 Denn die Aufrechterhaltung dieser Ordnung war auf das Engste mit der Moral der Gesellschaft und ihrem Glauben daran verknüpft. Die Standesgrenzen und ständische Privilegien zu bewahren, war deswegen das oberste Ziel dieser Richter. Darum bestritten sie auch „die volkommene Vähigkeit“ der prekarisierten ehewilligen Akteure, „die zu einem vernünftigen und klugen Haus-Vater erforderet [wurde]“12. Das stellte wiederum sowohl eine moralische als auch ökonomische Bedrohung für die ständisch verfasste Gesellschaft dar, „[…] wo gänzl[iche] Armuth, Natur-Fehler [hier vermeintliche Blindheit], und schlechte Aufführung verbunden“ waren. So vermutete dieser restriktive Teil des Oberchorgerichts wesentlich früher als der ehebegünstigende Teil, „dass benebst dem Mann, Weib und allfällige Kinder der Gemeinde eine beschwerliche Last“ verursacht würde.13 Und so griffen die das patriarchale Zugrecht unterstützenden Ehegegner unter den Richtern tendenziell die Argumente der opponierenden Gemeinden, Gesellschaften und Familien auf und stellten den Leumund der Ehewilligen in Frage. Diese Fraktion unterstützte im Gericht jenes Gnadenverständnis, das der von Max Weber exemplarisch dargestellten doppelten Prädestination nahekam und weiter oben referiert wurde: Reichtum war ein äußeres Zeichen für göttliches Wohlgefallen sowie ein frommes Leben und widerspiegelte auch die jeweilige Ehre der Menschen. Im Gegenzug waren Armut und ein schlechter Leumund in dieser Auffassung mindestens Indizien für mangelnde eheliche Würde. Wie bereits ausgeführt, stellte die Ehe im 18. Jahrhundert in Bern nach wie vor eine Gnadengabe dar, die nur den Ehewürdigen zuteilwerden sollte, also jenen, die sich in dieser patriarchalen Vorstellungswelt im wortwörtlichen Sinn um diese Institution im Vorfeld verdient gemacht hatten. Mit der Ehe war „es umb mehr als zeitliches Guth zu thun“14, aber gerade deswegen mussten für dieses ehepolitische Lager äußere Anzeichen und Indizien gegeben sein. Denn unter anderem daran konnte die Ehewürdigkeit der Ehebegehrenden festgemacht werden.

Žanrid ja sildid
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