Loe raamatut: «Alles ist beseelt», lehekülg 2

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Wie vielleicht abzusehen war, plädiere ich dafür, White nicht zum Fenster rauszuwerfen – zumindest noch nicht gleich. Bitte behalten Sie ihn drinnen, bis Sie diese Seiten fertig gelesen haben. Denn ich möchte mich dafür starkmachen, dass Animismus durchaus praktikabel ist – mich sachte, behutsam, spielerisch dafür starkmachen, aber auch ganz ernsthaft.

Historisch gesehen ist der große Feind des Animismus das Christentum, Seite an Seite mit den kolonialistischen und kapitalistischen Unternehmungen, die es mit hervorbrachte. In meinem Plädoyer für den Animismus argumentiere ich aber nicht gegen das Christentum – da eben, wie White darlegte, der menschgemachte Dualismus nicht mehr dadurch belegt wird, wer in die Kirche geht und wer nicht. Das philosophische Gegenteil des Animismus ist weniger der historische Feind Christentum als eine tiefer verwurzelte, fast unsichtbare Weltsicht, die, wenngleich sie zu großen Teilen dem Christentum entstammen mag, heutzutage auch alle möglichen nichtchristlichen Überzeugungen stützt, ob atheistische, materialistische oder theistische.

Diese grundlegende Weltsicht, das philosophische Gegenteil des Animismus, ist auch als Kartesianismus bekannt, benannt nach dem französischen Philosophen des 17. Jahrhunderts René Descartes, ihrem deutlichsten Vertreter. Hier ist eine Kurzfassung:

Die physische Welt existiert, mit oder ohne uns. Sie ist leblos: weder lebendig noch im Besitz eines Bewusstseins. In diese Welt werden Geschöpfe mit Bewusstsein geboren, wie wir, die sich der physischen Welt für eine Weile bewusst werden, dann sterben und somit aufhören, sich ihrer bewusst zu sein. Dann besteht die physische Welt ohne sie fort. Das trifft auf den Einzelnen zu – ich wurde geboren, ich erfahre die Welt, ich werde sterben – wie auch auf kosmischer Ebene: Zuerst gab es kein Leben, kein Bewusstsein; dann entstand Leben und zusammen mit ihm, irgendwann, Bewusstsein; und das Leben wird wieder vergehen, spätestens wenn die Brennstoffvorräte der Sonne aufgebraucht sind und sie unser Sonnensystem verschlingt.B Und die physische Welt wird fortbestehen.

Wenn Sie diesen Absatz aufmerksam lesen, dürften Sie ihn kaum als ungewöhnlich empfinden – wohl eher als ziemlich offensichtlich. Der Kartesianismus ist keine esoterische, obskure, schwer zu entschlüsselnde Lehre. Vielmehr handelt es sich, zumindest wie ich den Begriff gebrauche, einfach um eine Bezeichnung für den Glauben, der vorige Absatz sei eine vernünftige Beschreibung gewisser grundlegender Bestandteile der Realität. Falls Sie den Aussagen in diesem Absatz zustimmen – unabhängig davon, woran Sie sonst noch so glauben –, können Sie sich selbst, wie die meisten von uns, als Kartesianer betrachten.C

Dieses Buch möchte zeigen, dass es mit diesem Absatz ein Problem gibt. Das Problem besteht nicht etwa darin, dass die Aussagen des Absatzes falsch wären – es ist noch viel schlimmer. Das Problem besteht darin, dass diese Aussagen unstimmig sind.

Es besteht ein riesiger Unterschied zwischen falschen und unstimmigen Aussagen, und er zeigt sich, wenn wir Aussagen über einen Mann namens Anton mit ähnlichen Aussagen über ein Stück Tapete vergleichen. Wenn ich sage, Anton habe Hunger, wenn Anton tatsächlich gerade eine große Mahlzeit verspeist hat und ihm beim Gedanken an auch nur eine weitere Gabel schlecht wird, dann ist meine Aussage falsch. Diese »Falschheit« ist recht leicht zu verstehen. Es braucht bloß das kleine Wort »kein«. Ich habe gesagt, Anton habe Hunger. In Wirklichkeit hat Anton keinen Hunger. Also ist meine Aussage inkorrekt.

Behaupte ich aber, die Tapete habe Hunger, werden Sie mich wahrscheinlich ein bisschen schräg anschauen. In dem Fall denken Sie wahrscheinlich, mit mir stimme etwas nicht. Wenn ich sage, Anton habe Hunger, können Sie mir einfach antworten, nein, das stimmt gar nicht, Anton hat keinen Hunger, und nicht weiter daran denken. Sage ich aber, die Tapete habe Hunger, werden Sie mich wahrscheinlich nicht korrigieren und sagen, nein, die Tapete hat gar keinen Hunger. Es ist genauso seltsam, zu sagen, die Tapete habe keinen Hunger, wie zu sagen, die Tapete habe Hunger; Hunger ist einfach kein Wort, das sich sinnvoll auf Tapete anwenden ließe. Anstatt mich zu korrigieren und mir zu sagen, nein, die Tapete hat jetzt gerade keinen Hunger, würden Sie überlegen, was Sie eigentlich von mir denken, und falls ich auf meiner Aussage bestünde und es damit ernst zu meinen schiene, würden Sie sich fragen, ob ich womöglich ein bisschen irre sei. Und dasselbe würden Sie wahrscheinlich denken, wenn ich stattdessen darauf bestünde, dass die Tapete keinen Hunger habe. Sie würden denken, dass ich – nun ja, etwas von der Rolle sei.

Wie kaum überraschen dürfte, möchte ich mit diesem Buch zeigen, dass die grundlegende Weltsicht aus besagtem Absatz – die kartesianische Weltsicht – weder richtig noch falsch ist wie die Aussage über Anton, sondern unstimmig wie die Aussage, die Tapete habe Hunger (oder keinen). Parallel zu diesem Argument möchte ich zeigen, dass es eine andere grundlegende Weltsicht gibt, die nicht unstimmig ist.

Und ja, die grundlegende Weltsicht, von der ich behaupte, sie sei im Gegensatz zur kartesianischen stimmig, ist der Animismus. Genau wie die Grundlage des Kartesianismus trägt die des Animismus unterschiedlichste und potenziell widersprüchliche Weltauffassungen. Im Einzelnen sind viele dieser Weltauffassungen schriftlich belegt, manche durch Angehörige überlebender animistischer Völker, andere durch Anthropologen, die versucht haben, in animistische Kulturen einzutauchen. Betrachten wir diese faszinierende Vielfalt in ihrer Gesamtheit, sieht die grundlegende animistische Weltsicht – die den vielen heutigen oder früheren Varianten des Animismus in der ganzen Welt gemein ist – wie folgt aus:

Die physische Welt ist nicht leblos. Alles in ihr ist in irgendeiner Weise (nicht unbedingt einer biologischen) lebendig und bewusst; das heißt, alles in ihr ist erfahrend. Diese Erfahrung nimmt höchst unterschiedliche Formen an und kann von der menschlichen Erfahrung völlig abweichen. Trotzdem kann diese Erfahrung manchmal – womöglich sporadisch, womöglich ungeregelt, womöglich auf traumähnliche Art und Weise – Menschen antreffen und von ihnen angetroffen werden.

Die animistische Weltsicht ist ziemlich genau das Gegenteil der kartesianischen, und sollten Sie überzeugte Kartesianerin sein – welcher Spielart auch immer: religiös, materialistisch, existenzialistisch, humanistisch usw. –, wird Ihnen der vorige Absatz unstimmig erscheinen. Er muss ihnen sogar unstimmig erscheinen. Zu behaupten, ein Stein sei erfahrend, ist nicht so anders, als zu sagen, die Tapete habe Hunger. In der grundlegenden Annahme jeglicher kartesianischen Weltsicht existiert die physische Welt unabhängig von allem Bewusstsein. Sie ist leblos – das heißt, nicht erfahrend –, außer jenen wenigen Bestandteilen, die lebendig und bewusst sind. Für einen Kartesianer kann Animismus nur unstimmig sein.

Aber wenn Animismus einem Kartesianer unstimmig erscheinen muss, wie können wir Kartesianer ihn dann fair beurteilen? Die Antwort ist offensichtlich: Wir müssen aus unserem Kartesianismus hinaustreten. Anders gesagt müssen wir unseren Glauben an die Grundsätze aus dem ersten kursivierten Absatz beiseitelegen, zumindest vorübergehend. Das ist leichter gesagt als getan. Wie können wir aufhören, an Dinge zu glauben, die so offensichtlich und selbstverständlich wahr erscheinen?

Gar nicht – solange sie so offensichtlich und selbstverständlich wahr erscheinen. Natürlich können wir so tun als ob, aber solange wir es nicht wirklich ernst meinen, solange wir nicht zu der Überzeugung gelangen, dass unser grundlegender Kartesianismus gar nicht so offensichtlich und selbstverständlich wahr ist, können wir es vergessen mit einer fairen Chance für den Animismus.

Somit stellt sich dieses Buch zwei eng miteinander verbundene Aufgaben. Nicht nur muss es uns Argumente bieten, warum die Annahmen des grundlegenden Animismus stimmig sind; zuerst muss es die des Kartesianismus auseinandernehmen, um glaubwürdig zu zeigen, dass sie eben nicht offensichtlich und selbstverständlich wahr sind. Erst dann ist die einstige Kartesianerin in der Lage, den Animismus fair zu beurteilen.

Um diese doppelte Mission zu erfüllen, ziehen wir kreuz und quer durch die Lande. Wir lernen etwas über die bekömmlichen Eigenschaften von Teerwasser, lesen Limericks über Bäume und Göttlichkeit, tauchen kurz ein in die Verzweiflung des größten Philosophen der englischsprachigen Welt, werfen einen Blick auf den Unterschied zwischen Autos auf einer Schnellstraße und fallenden Steinen, erfahren, warum so viele Professoren Artikel über Zombies schreiben, versenken uns in das Bewusstsein von Fledermäusen und Gürteltieren, sehen einem Mann dabei zu, wie er sich in einen Raben verwandelt, und einem anderen, wie er zum Elch wird, picknicken neben einer Eisenbahn, die sich Albert Einstein ausgedacht hat, messen die Schärfe von Chilis, betrachten Hamlet bei seiner eigenen Betrachtung von Suizid und überlegen, ob man von einer zufälligen Begegnung sagen kann, sie sei bedeutsam.

Am Ende von all dem kehren wir dann zu Lynn White Jr. und seiner intellektuellen Bombe zurück. Sollte mein Versuch erfolgreich sein, wird Whites Wunsch nach einer praktikablen Entsprechung zum Animismus nicht mehr so abwegig wirken wie vielleicht jetzt gerade. Sollte ich keinen Erfolg haben, werden Sie zumindest eine Reise hinter sich haben, von der ich hoffe, dass sie gleichermaßen aufregend und spielerisch ist.

Dieses Buch ist aus einer spielerischen Haltung heraus geschrieben, und ich wünsche mir, dass es Spaß macht. Aber ich habe es auch in vollem Ernst geschrieben. Ich hoffe, es wird in beiderlei Haltung gelesen.

ADas Anthropozän bezeichnet unsere jetzige geologische Epoche, eine Epoche, die sich durch erhebliche menschliche Auswirkungen auf die Geologie und die Ökosysteme des Planeten Erde auszeichnet.

BVielleicht spielt sich dieses kosmische Drama auch in anderen Teilen des Universums ab, vielleicht in anderen Universen – wir werden es nie erfahren.

CDiese Haltung lässt sich mit einer ganzen Menge weiterer Glaubensvorstellungen kombinieren. Religiöse Menschen können sie mit dem Glauben an die göttliche Schöpfung und ein nichtkörperliches Leben nach dem Tod vereinen; Materialisten mit einem Glauben an die Körperlichkeit des Bewusstseins; Existenzialisten können Wertschätzung für die Absurdität des Seins und die damit einhergehende Freiheit und Verantwortung hinzufügen; säkulare Humanisten einen Glauben an den intrinsischen Wert menschlichen Lebens und Gefühls usw. Trotz ihrer vielen und oftmals unüberbrückbaren Differenzen beruhen all diese Glaubensüberzeugungen – wie auch fast alle anderen – fest auf der Grundlage des Kartesianismus wie im kursivierten Absatz beschrieben. Aus diesem Grund bezeichne ich den Kartesianismus als »grundlegende« Weltsicht – er bildet das grundsätzliche Weltbild, in der Regel nicht hinterfragt und als selbstverständlich geltend, das einer Vielzahl verschiedener Weltsichten als Basis dient.

Die erste Behauptung des Kartesianismus lautet, die physische Welt existiere, mit oder ohne uns. Das ist gleichbedeutend mit der Aussage, die physische Welt bestehe aus Stoff – oder, eleganter ausgedrückt, aus Materie –, und dieser Stoff sei nun mal da, ob wir ihn nun wahrnähmen oder nicht. Im Kapitel »Der Gute Bischof« besuchen wir einen Philosophen, der die radikale Behauptung aufstellt, Materie existiere nicht – dass sogar das Konzept von Materie unstimmig sei.

KAPITEL 1
Der Gute Bischof
Worin das Konzept von Materie hinterfragt und von einem Stuhl geträumt wird.

1744 veröffentlichte der Bischof des irischen Cloyne das erfolgreichste Buch seines Lebens.28 Siris: Eine Kette von Philosophischen Betrachtungen und Untersuchungen über die Tugenden des Teerwassers erreichte innerhalb eines Jahres sechs Auflagen. 1752, ein Jahr vor seinem Tod, veröffentlichte der Bischof eine Fortsetzung, Weitere Gedanken zur Teerwasserfrage.

Das bischöfliche Teerwasserrezept empfahl, ein Quart Holzteer in ein großes Glasgefäß zu geben und mit einer Gallone kaltem Wasser zu übergießen. Vier Minuten lang mit einer Kelle oder einem Stab umrühren, dann achtundvierzig Stunden stehen lassen. Danach die Flüssigkeit abgießen. Die Farbe sollte nicht heller sein als die von französischem Weißwein, nicht dunkler als die von spanischem. Abends und morgens eine halbe Pinte auf leeren Magen trinken; Kinder und »empfindliche Personen« sollten die Flüssigkeit verdünnt und dafür öfters trinken.

Diese Kur, so der Bischof, heile allerlei Beschwerden. Er beschreibt eine Familie mit sieben Kindern während einer Pockenepidemie. Sechs der Kinder tranken Teerwasser und »durchstanden die Infektion sehr gut«. Das siebte »konnte nicht dazu bewegt werden, Teerwasser zu trinken«, und uns wird zu verstehen gegeben, dass es starb. Teerwasser kuriere wirksam »so viele purulente Geschwüre«, dass der Bischof es schließlich auch bei »anderen Verdorbenheiten des Blutes« anwandte, darunter »kutane Ausbrüche« und die »schändlichsten Krankheiten […] Pleuritis und Peripeumonie«.

Der Autor der Siris – vom großen Philosophen Immanuel Kant später als »der Gute Bischof« bezeichnet – bewarb Teerwasser so energisch aus Sorge um seine Gemeinde. In Cloyne, einer abgelegenen, armen Gegend, waren kurz zuvor die Pocken und Dysenterie ausgebrochen – oder wie es der Bischof anschaulich nannte, die »blutige Ruhr«.

Ein Brief aus dieser Zeit an einen britischen Abgeordneten – »Die Plagen Irlands« – beschreibt das Land des Bischofs als »die elendigste Szenerie universellen Leides, von der je in der Geschichte zu lesen war«.29 Neben Krankheiten litt die Bevölkerung unter einer »Knappheit von Brot (die mancherorts einer Hungersnot gleichkommt)«. So sehr mangelte es an Brot, dass der Bischof in einer Solidaritätsgeste gegenüber seiner Gemeinde Mehl zum Pudern seiner Perücke erst wieder nach der Ernte verwendete.

Der Bischof glaubte, er habe eine günstige Möglichkeit gefunden, einer darniederliegenden Bevölkerung zu guter Gesundheit zu verhelfen. Doch nicht nur sollte sein Erfolgsbuch die physiologischen Tugenden des Teerwassers darlegen und dessen Wirksamkeit wissenschaftlich erklären. Das dritte Ziel bestand darin, wie es in der Stanford-Enzyklopädie der Philosophie heißt, »den Leser durch eine Aneinanderreihung kleiner Schritte zu einer Reflexion über Gott zu führen«30. Das Wort »Siris« im Titel stammt vom griechischen Wort für »Kette«, und die bischöfliche »Kette von Philosophischen Betrachtungen« führt, trotz einiger Schlenker, vom Teerwasser zur Theologie.

Was uns, wenn auch ein wenig abrupt, zu Gott bringt.

Die Tugenden des Teerwassers sind im Laufe der letzten Jahrhunderte größtenteils in Vergessenheit geraten, nicht jedoch die früheren Schriften des Bischofs. Es sind diese frühen Arbeiten, verfasst, als er sich mit Mitte zwanzig als Forschungsstipendiat am Dubliner Trinity College durchschlug, die ihn heute zu einer bekannten, wenn auch missverstandenen Figur machen. Denn in diesen frühen Schriften bestritt George Berkeley, der spätere Bischof von Cloyne, eindringlicher und wirkungsvoller als alle anderen Philosophen die Existenz von Materie.

Sagt jemand zu Ihnen: »Du bist so materialistisch«, meint die Person in der Regel, Sie seien übermäßig auf Konsumartikel fixiert, möglicherweise auf Kosten von Wichtigerem wie menschlichen Beziehungen oder noblen Anliegen. Aber Materialismus kann auch etwas anderes bezeichnen als Shopping-Gier: Nämlich den in universitären Kreisen verbreiteten Glauben, das Universum und alles darin könne zufriedenstellend allein durch Materie erklärt werden. Das heißt, es könne zufriedenstellend erklärt werden, ohne dass es eines Gottes bedürfe, eines Geistes, einer Bestimmung oder eines Sinnes, die darüber hinausgehen, was wir aus Materie erschaffenen Menschen mit unseren aus Materie erschaffenen Gehirnen selbst erfinden.

Wer anderer Meinung ist als die Materialisten, meint in der Regel, etwas existiere zusätzlich zur Materie – der menschliche Geist, Gott, eine Lebenskraft –, doch räumt er meist ein, dass Materie natürlich auch existiere. Materie ist physischer Stoff: Stühle, Tische, Steine, Wasser, Atome. Die Debatte zwischen Materialisten und Nichtmaterialisten betrifft normalerweise eher die Frage, ob es irgendetwas neben der Materie gebe, und nicht, ob Materie an sich existiere.

Berkeley widersprach beiden Lagern. Er glaubte, Materie existiere überhaupt nicht. Und obwohl diese Ansicht wie eine wahnsinnig radikale Doktrin wirken mag, nahm Berkeley selbst sie gar nicht so wahr, sondern eher als etwas mit ein wenig Reflexion völlig Selbsterklärendes. Nicht nur das, ganz nebenher schafft sie etwas für einen Bischof überaus Nützliches: Sie beweist die Existenz Gottes.

Wir alle träumen, und manche von uns erleben Halluzinationen oder haben sie schon erlebt. In unseren Träumen und Halluzinationen sehen, fühlen, hören, riechen und schmecken wir; wir erfahren Freude und Schmerz; und solange wir uns in ihnen befinden, glauben wir voll und ganz an ihre Realität. Wenn wir aufwachen, wird uns klar: »Oh, das war ein Traum.« Häufig, zumindest in der heutigen westlichen Welt, sagen wir: »Das war nur ein Traum.«

Wenn man es sich recht überlegt, meinen wir damit, dass die Gegenstände im Traum aus keiner Materie bestanden, Materie im Sinne von echtem Stoff. Alles hat sich in unserem Kopf abgespielt. Sind wir aber wach und sehen einen Stuhl, nehmen wir an, wir sähen gerade ein Stück richtig toller Materie. Und wir nehmen an, diese echte Materie verdeutliche dadurch, dass sie da ist, dass wir jetzt in der Realität leben, während wir vorher im Schlaf – als unsere Stühle aus keiner Materie bestanden – in einem Traum lebten.

In meinem Traum sehe ich einen Stuhl. Ich stolpere dagegen und stoße mir den Fuß – aua! Im Traum bin ich davon überzeugt, es sei ein echter Stuhl, aus echter Materie. Darum kann ich ihn sehen, und darum tut es weh, wenn ich dagegenrenne. Trotzdem sage ich nach dem Aufwachen ohne zu zögern, ich hätte mit meiner Überzeugung aus dem Traum falsch gelegen und es habe dort gar keinen echten Stuhl gegeben (also keinen Stuhl aus Materie).

Ich sage also bedenkenlos, dass ich manchmal (im Schlaf oder in einer Halluzination) Dinge sehe und fühle und durch sie verletzt werde, selbst wenn es dort keine Materie gibt, die ich sehen, fühlen oder durch die ich verletzt werden könnte. Berkeley fragte im Grunde, warum ich, wenn ich das für meine Träume einräume, trotzdem beharrlich annehme, echte Materie verursache auch nur einen meiner Sinneseindrücke – die im Wachzustand miteingeschlossen. Wenn der Traum-Stuhl nicht aus Stoff bestehen muss, warum dann der Wach-Stuhl? Zugegebenermaßen sind die Verhaltensmuster des Wach-Stuhls gesetzmäßiger als die des Traum-Stuhls – er verwandelt sich nicht plötzlich in einen rosafarbenen Elefanten –, aber warum sollte eine gewisse Gesetzmäßigkeit im Verhalten denn Materie implizieren?

Berkeley argumentierte sogar, der Unterschied zwischen Träumen und dem, was wir als Realität bezeichnen, sei ausschließlich eine Frage von Gesetzmäßigkeit. In der Regel folge die Realität Gesetzen, wie sie unser gesunder Menschenverstand und unsere Naturwissenschaften festgelegt hätten, während das bei Träumen häufig nicht der Fall sei. Die Vorstellung von Materie trage aber nichts zu unserem Verständnis von Gesetzmäßigkeiten bei. Wir gewönnen nichts durch sie – sondern verlören sogar etwas, da Materie ein völlig bedeutungsloser Begriff sei.

Ich sitze in meinem Arbeitszimmer am Schreibtisch und schreibe. Ich bekomme Durst. Ich verlasse das Arbeitszimmer, schließe die Tür hinter mir und gehe in die Küche. Ich mache mir einen Tee. Ich gehe zurück in mein Arbeitszimmer, öffne die Tür und sehe meinen Bürosessel – ich nehme an, es sei derselbe Bürosessel, auf dem ich saß, bevor ich mir meinen Tee holen ging. Eines der größten Argumente zugunsten der Existenz von Materie ist, dass etwas während meiner gesamten Abwesenheit in meinem Arbeitszimmer geblieben sein muss und dass dieses zurückgelassene Etwas erklärt, wie der Sessel dort gewesen sein kann, als ich das Zimmer verließ, und noch immer dort ist, wenn ich zurückkomme. Das ist die grundlegende Funktion von Materie: Sie existiert, selbst wenn wir uns ihrer nicht bewusst sind. Ihr ist es egal, ob wir sie sehen oder nicht.

Wir geraten jedoch in Schwierigkeiten, sobald wir versuchen, uns diese Materie vorzustellen – diesen materiellen Sessel, der in meinem Arbeitszimmer geblieben ist. Was meinen wir damit? Wie ist er? Ist er braun? Hat er eine feste Rückenlehne und eine weich gepolsterte Sitzfläche? Wiegt er fünf Kilo? Ist er bequem? Sieht er gut aus?

Das Problem besteht darin, was wir mit all diesen Eigenschaften meinen. Braun ist etwas, das ich sehe. Ich kann mir kein Braun vorstellen, ohne mir vorzustellen, Braun zu sehen. Klar, ich kann ein mathematisches Modell elektromagnetischer Wellen einer bestimmten Frequenz entwerfen – aber der Gedanke an elektromagnetische Wellen ist ein völlig anderer als der Gedanke an Braun (versuchen Sie’s ruhig). Ohne zu sehen, oder zumindest ohne mir vorzustellen, dass ich sehe, verliert »Braun« allen Inhalt – es ist ein leeres Wort.

Dasselbe ließe sich für »fest« oder »weich gepolstert« sagen. Diese Eigenschaften spüre ich. Ich kann mir etwas Festes oder weich Gepolstertes nur vorstellen, indem ich mir vorstelle, es anzufassen. Ohne einen Tastsinn sind »fest« und »weich gepolstert« leere Wörter. Die Wörter sind an Sinneseindrücke gebunden.

Dasselbe gilt sogar dafür, fünf Kilo zu wiegen. Fünf Kilo ist eine Beschreibung dafür, wie schwierig es ist, etwas anzuheben oder herumzuschieben. Ich kann mir keine fünf Kilo vorstellen, ohne mir auszumalen, etwas anzuheben oder herumzuschieben. Die Bedeutung ist an das Gefühl gebunden, welchen Widerstand etwas meiner realen oder imaginierten Handlung entgegensetzt.

Wenn ich mir in der Küche meinen Tee koche, kann ich mir mühelos meinen Sessel in meinem Arbeitszimmer vorstellen. Ich stelle ihn mir braun vor, fest und weich gepolstert und fünf Kilo schwer. Damit habe ich keinerlei Schwierigkeit. Aber all diese Eigenschaften sind von mir abhängig – oder von jemandem wie mir. Um einen Sinn zu ergeben, erfordern sie mein Sehvermögen, meinen Tastsinn, mein Empfinden, etwas zu schieben oder hochzuheben. Doch der materielle Sessel in meinem Arbeitszimmer soll sich ja gerade dadurch auszeichnen, dass er nichts mit mir zu tun hat. Er braucht mich nicht. Ich könnte in der Küche durch ein Gasleck sterben – die gesamte Welt und jedes Lebewesen in ihr könnte an einer plötzlichen und geheimnisvollen Krankheit sterben –, und der materielle Sessel stünde noch immer im Arbeitszimmer.

Aber was ist dann dieser materielle Sessel? Er ist nicht braun, weil er nicht gesehen oder imaginär gesehen wird. Er ist nicht fest oder weich gepolstert, weil er nicht berührt oder imaginär berührt wird. Er wiegt keine fünf Kilo, weil er nicht angehoben oder herumgeschoben wird, ob in der Realität oder in der Vorstellung. So seltsam es klingen mag, der materielle Sessel hat keine Eigenschaften.D

An dieser Stelle ruft normalerweise jemand: Moment mal. Der Sessel ist ja in Wirklichkeit eine Ansammlung von Atomen. Und das sei schließlich eine Eigenschaft. Selbst wenn niemand braun sehe oder fest oder weich gepolstert spüre oder sich vorstelle, irgendetwas herumzuschieben, seien die Atome ja da.

Aber leider, leider kann ich mit den Atomen dasselbe anstellen wie gerade mit dem Sessel. Atome sollen Dinge sein, die ein bestimmtes Gewicht haben, eine bestimmte Größe und bestimmte Eigenschaften, durch die sie andere Atome abstoßen oder anziehen. Doch selbst wenn ihr Gewicht sehr viel geringer ist als das eines Sessels, muss ich immer noch an Herumschieben oder Hochheben denken, um mir Gewicht überhaupt vorstellen zu können. Um mir Größe vorstellen zu können, muss ich mir Sehen vorstellen. Um mir Abstoßen oder Anziehen vorzustellen, muss ich mir vorstellen, einen Schub oder Zug zu spüren. Ohne mir diese Sinneseindrücke vorzustellen, sind »Größe«, »Gewicht« und »Anziehung« leere Wörter. Obwohl ich ein Atom also nie so direkt wie den Sessel wahrnehme, muss ich, damit das Wort »Atom« überhaupt eine Bedeutung hat, auf meine Sinneseindrücke zurückgreifen. Ziehe ich die Sinneseindrücke des Sehens, Fühlens und Schiebens von meiner Vorstellung eines Atoms ab, bleibt nichts von dieser Vorstellung übrig. Genau so, wie nichts vom Sessel übrig bleibt.

Wenn wir also davon ausgehen, es gebe Materie – Stoff, dessen Existenz nicht davon abhängt, wahrgenommen zu werden –, dann hat diese Materie gar keine Eigenschaften. Aber zu sagen, Materie habe keine Eigenschaften, ist, als würde man sagen, das Wort sei eine leere Chiffre – es bezieht sich auf nichts. Warum, fragte Berkeley, sollten wir unser Verständnis dessen, was existiert, mit einem bedeutungslosen Begriff wie »Materie« verwechseln? Stattdessen schlug er vor: Esse est percipi (aut percipere). Oder verständlicher: Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen).

Dieses »Sein« ist genau das »Sein« unserer Träume und Halluzinationen. In ihnen machen wir oftmals Erfahrungen, die genauso real sind wie die im Wachzustand, aber wenn wir aufwachen, sehen wir uns nicht genötigt, auf einen bedeutungslosen Begriff (»Materie«) zurückzugreifen, um dem Ganzen Rückhalt zu verleihen. Und wenn wir in unseren Träumen keine Materie brauchen, um Dinge wahrzunehmen, warum sollten wir sie sonst irgendwo brauchen?

Aber nicht nur unsere Träume und Halluzinationen kommen großartig ohne Materie aus. In Computerspielen kann man ziemlich genau wie in unserer normalen Welt durch virtuelle Welten reisen. Wenn Sie mit Ihrem virtuellen Auto hundert Meter nach Westen fahren, dann nach Norden, dann nach Osten, dann nach Süden, landen Sie an demselben virtuellen Ort, an dem Sie losgefahren sind. Vielleicht ist es ein Platz mit einem hübschen Springbrunnen. Als sie westwärts vom Springbrunnen weggefahren sind, haben Sie aufgehört, ihn wahrzunehmen. Als Sie vom Norden her, dem letzten Abschnitt Ihrer Fahrt, wieder darauf zugesteuert sind, haben Sie ihn wieder wahrgenommen. Der Springbrunnen ist wie der Sessel in meinem Arbeitszimmer – etwas, das ich oder Sie zurückgelassen und nicht mehr wahrgenommen haben und zu dem wir dann zurückgekehrt sind und es wieder wahrgenommen haben.

Im Computerspiel gehen Sie nicht davon aus, dass ein materieller Springbrunnen an einem festen Ort geblieben war, während Sie herumgefahren sind. Sie akzeptieren, dass der Springbrunnen nicht fortwährend existiert hat; bestimmte Bedingungen haben bei Ihrer Rückkehr die Spiel-Software das Bild des Springbrunnens neu schaffen lassen. Der Springbrunnen im Computerspiel existiert nicht, wenn er nicht wahrgenommen wird.

Mit derselben Einbildung spielen die Matrix-Filme. Ist man eingestöpselt, navigiert man durch eine stimmige Welt, die wie unsere wirkt. In einer eindrücklichen Szene aus Matrix Reloaded gibt es ein saftiges Rindersteak und ein Stück Schokoladentorte, die die Figur des Merowingers in einem Restaurant isst, bevor er zum Sex auf die Toilette verschwindet. Steak und Torte sind überaus sinnlich (den Sex sehen wir nicht). Doch statt Materie liegt ihnen ein Computercode zugrunde. Die herrlichen Geschmäcker und Gefühle brauchen keine Materie, um zu existieren.

Niemand glaubte Berkeley. Seine Philosophie ließ zahlreiche Limericks, Scherzgedichte, entstehen – immerhin war er Ire. Das Problem des Sessels, der im Arbeitszimmer weiterexistiert, wenn ich gerade in der Küche bin, erschien als das Problem eines Baumes, der im Innenhof einer Universität weiterexistiert, wenn alles schläft:

Einst meinte ein Jungphilosoph,

Gott müsse wohl denken: Recht doof!

Wenn er fände den Baum,

wie der stände im Raum,

selbst wenn niemand da wäre im Hof.

Berkeleys Schwäche war, dass er es selbst »recht doof« fand, dass der Baum nicht weiter im Innenhof der Universität existieren sollte – oder eben der Sessel im Arbeitszimmer. Seine Reaktion illustriert ein zweiter Limerick:

Werter Herr, Ihr Staunen wirkt toll,

im Innenhof bin ich, jawoll!

Drum steht auch der Baum

fortwährend im Raum,

erfasst von Gott, hochachtungsvoll.

Wie in seinem Traktat über Teerwasser kommt der Bischof am Ende auf Gott zu sprechen. Aber wie. Nicht nur glaubt Berkeley, esse est percipi sei selbsterklärend für jeden, der mal drüber nachdenke – er glaubt auch, dass darin ein klarer Beweis für die Existenz Gottes liege. Der Anfangsidee, der Baum im Innenhof der Universität müsse wahrgenommen werden, um zu existieren, fügt er hinzu, dass es absurd wäre, anzunehmen, der Baum schaue kurz im Dasein vorbei und verschwinde dann wieder, je nachdem, ob gerade Menschen den Hof beträten oder verließen. Sein Fazit? Etwas anderes als ein Mensch müsse den Baum wahrnehmen – und ihn fortwährend wahrnehmen, damit er fortwährend existieren könne. Und wer ist der einzige Kandidat, um den Baum immer wahrzunehmen? Gott natürlich. Der entsprechende Syllogismus, ein aus zwei Prämissen gezogener logischer Schluss, sieht dann wie folgt aus:

Esse est percipi. (Sein ist Wahrgenommenwerden.)

Der Baum existiert fortwährend.

Deshalb wird der Baum fortwährend wahrgenommen (und das einzige Wesen, das den Baum fortwährend wahrnehmen kann, ist Gott, und deshalb muss Gott den Baum fortwährend wahrnehmen, und deshalb existiert Gott).

Zugegebenermaßen ist das Fazit dieses Syllogismus ein bisschen verschachtelt. Aber es geht noch verschachtelter, etwa wenn man ein paar weitere von Berkeleys Ideen zu Gott unterbringen will, wie in diesem Versuch der Philosophin Lisa Downing (der Sie überzeugen könnte, auf keinen Fall hauptberuflich Philosoph zu werden):

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