Loe raamatut: «Alles ist beseelt», lehekülg 3

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Ein X existiert zur Zeit Z, falls, und nur falls, Gott einen Impuls hat, der einem Wollen entspricht, dass, falls ein finiter Verstand in Z sich in den richtigen Umständen befindet (z. B. an einem bestimmten Ort, in die richtige Richtung oder durch ein Mikroskop blickend), dieser wiederum einen Impuls haben wird, von dem wir behaupten könnten, er sei die Wahrnehmung eines X.31

Bei so viel Verschachtelung könnte einem Materie bei allen Schwächen fast noch lieber sein.

Berkeleys Problem war, dass er auf zwei Hochzeiten gleichzeitig tanzen wollte. Eigentlich sogar erst auf einer, dann auf noch einer und dann auf noch einer. Er wollte »Sein ist Wahrgenommenwerden«. Und er wollte, dass Objekte (wie der Baum oder der Sessel) fortwährend existieren. Und er wollte bestimmte Vorstellungen behalten, die er schon von Gott hatte.

Dieses ganze verschachtelte System lässt sich stark vereinfachen, wenn wir zwei Ideen fusionieren. Die erste Idee lautet, dass »Materie«, wie wir gesehen haben, eigentlich bloß als Platzhalter für »nicht wahrgenommene Existenz« fungiert. Das Problem der Existenz, die niemand mitbekommt, löst der materielle Baum, weil das nun mal ist, was Materie tut. Sie ist da, ob’s einem gefällt oder nicht; sie ist da, egal ob irgendwer etwas mit ihr zu tun hat oder nicht. Aber wie wir auch gesehen haben, hat dieser Platzhalter keinen Inhalt. Ob Baum oder Sessel oder Atom, um mehr als eine leere Chiffre zu sein, benötigt es unsere Wahrnehmung, ob nun die echte oder die imaginierte. »Nicht wahrgenommene Existenz« und »Materie« laufen in Wirklichkeit auf dasselbe unstimmige Konzept hinaus – ein Konzept, das zwar nach einem Konzept klingt, weil wir Wörter dafür haben, aber eigentlich gar kein Konzept ist, weil diese Wörter leer sind. Ohne Wahrnehmung können wir kein Konzept von der Welt haben, obwohl wir uns hier ständig etwas vormachen – immer wenn wir glauben, Dinge bestünden aus Materie.

Die zweite Fusion geschieht zwischen dem Wahrnehmenden und dem Wahrgenommenen. Eigentlich lautet Berkeleys Gleichung nicht »Sein ist Wahrgenommenwerden«, sondern: »Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen)«. Nicht nur der Baum existiert im Innenhof, wenn ein Student ihn ansieht – der Student existiert ebenso. (Berkeley bezeichnete den Baum als Vorstellung und den Studenten als Geist, meinte damit aber nichts anderes als eben das: etwas Wahrgenommenes und einen Wahrnehmenden.) Versuchen wir allerdings, den Wahrnehmenden oder das Wahrgenommene vom jeweils anderen abzugrenzen, landen wir am Ende wieder bei der Leere. Gibt es keinen Wahrnehmenden (den Studenten), gibt es auch nichts wahrzunehmen (den Baum), und somit kann der Baum nicht existieren. Aber dasselbe gilt für den Wahrnehmenden (den Studenten). Hat der Wahrnehmende keine Wahrnehmungen, ist er kein Wahrnehmender und existiert also auch nicht. Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden ist wie ein Tanz – und, wie es Berkeleys irischer Landsmann William Butler Yeats in seinem Gedicht Unter Schulkindern ausdrückte: »Wo trennt man nur den Tänzer und den Tanz?«32 Wir können sie nicht voneinander trennen. Ohne einen Tänzer gibt es keinen Tanz; und ohne einen Tanz gibt es keinen Tänzer. Ohne einen Wahrnehmenden gibt es nichts Wahrgenommenes; und ohne das Wahrgenommene gibt es keinen Wahrnehmenden.

Wenn Sie sich fragen, wer oder was Sie eigentlich sind, und dieses Ding ausfindig machen wollen, indem Sie all Ihre Sinneseindrücke, Gefühle, Gedanken, Glaubensvorstellungen, Fantasien, Erinnerungen, Überzeugungen abziehen – kurz gesagt alles, was Sie wahrnehmen –, um das »Ich« hinter all dem zu finden, bleibt Ihnen am Ende kein »Kern-Ich«, das all diese Dinge wahrnimmt. Es bleibt Ihnen gar nichts. Es bleibt nichts übrig. Selbst wenn Sie Ihre Augen schließen, ist Ihnen immer noch warm oder kalt, Sie fühlen sich wohl oder unwohl, hören alle möglichen Geräusche oder Ihren Herzschlag, Sie riechen die Luft oder schmecken den Speichel in Ihrem Mund. Sie können sich nicht von Ihren Wahrnehmungen lösen. Die Welt ist nicht losgelöst vom wahrnehmenden Subjekt – aber genauso wenig ist das wahrnehmende Subjekt losgelöst von der Welt.

Dasselbe gilt, wenn Sie die Grenze zwischen Ihrem Körper und der Welt bestimmen wollen. In Ihrem Darm schwimmen Millionen von Bakterien, ohne die Sie nicht überleben könnten – und die Bakterien auch nicht ohne Sie. Sind sie ein Teil von Ihnen? Sie haben keine gemeinsame DNA. Und trotzdem, würden Sie die Bakterien entfernen, würden Sie selbst sterben. Oder denken Sie an Ihren Körper, wenn Sie gerade eingeatmet haben – ist die Luft in Ihren Lungen ein Teil von Ihnen oder losgelöst von Ihnen? Auch die Luft brauchen Sie zum Überleben. Betrachten Sie diese Luft als einen Teil von sich und atmen aus, hat ein Teil von Ihnen Sie soeben verlassen und sich mit der Atmosphäre vermischt. Betrachten Sie diese Luft als keinen Teil von sich, ist Ihr Körper mit einer fremden Substanz gefüllt – allerdings einer, ohne die es Sie gar nicht geben würde. Ein Teil dieser Substanz wird von Ihrem Blut aufgenommen und kreist durch Ihren gesamten Körper, dringt auch in die allerletzte Zelle ein und ermöglicht Ihnen, alles zu tun, was Sie je tun – am Leben zu bleiben mit inbegriffen. Sind das Sie oder sind Sie das nicht? Ihre Fingernägel, Ihr Schleim, Ihre Haare, all das sind Sie und nicht Sie. Ihre Haut schält sich fortlaufend ab. Die Atome in Ihrem Körper werden laufend von anderen Atomen ersetzt; rein physisch gesehen sind Sie nach einer gewissen Zeit ein komplett neues Modell.E Essen wandert in Ihren Mund und verlässt Sie durch Ihren Anus. Die Welt ist ein Teil von Ihnen, und Sie sind ein Teil der Welt.

Fügen wir die beiden obigen Fusionen aneinander, können wir uns keine Welt ohne Wahrnehmung vorstellen und keine Wahrnehmung ohne Welt. Paradox ist das nur, solange wir darauf bestehen, die Welt als getrennt von uns selbst zu begreifen. Sind der Tänzer und der Tanz eins – der Wahrnehmende und das Wahrgenommene –, verschwindet das Paradox.

Ich denke, der spätere Bischof von Cloyne wollte auf ebendiesen Punkt hinaus, bis ihm Gott in die Quere kam. Aber er kam ganz nah ran. Berkeley sah klar die Absurdität und Leere der Vorstellung von Materie und der einer Existenz, die von Wahrnehmung getrennt ist – ihm zufolge handelt es sich um dieselbe Vorstellung. Er löste diese Absurdität mit einer Art universeller Wahrnehmung, die er Gott zuschrieb. Der Baum existiert fortwährend, weil Gott ihn fortwährend wahrnimmt, und esse est percipi.

Es gibt noch eine andere Lösung für das Problem des Fortwährens, und obgleich Berkeley sie direkt vor der Nase hatte, sah er sie nicht.

Esse est percipi (aut percipere) – Sein ist Wahrgenommenwerden (oder Wahrnehmen). Genau da steht’s, in der Klammer.

Was wäre, wenn der Baum im Innenhof selbst wahrnähme? Was wäre, wenn der Baum, in Berkeleys Terminologie, ein Geist wäre?

Bis vor nicht allzu langer Zeit wäre man für die Idee, Bäume nähmen wahr, auf dem universitären Innenhof ausgelacht worden – Gelehrte wollten nichts davon hören. Heute sehen Wissenschaftler das anders. Im Kapitel »Sein oder Nichtsein« schauen wir uns später an, was sie zu sagen haben. Fürs Erste reicht es, Folgendes anzumerken: Falls Bäume tatsächlich wahrnehmen, müsste es Berkeley nicht mehr »recht doof« finden, dass der Baum weiter im Raum stände, »selbst wenn niemand da wäre im Hof«. Schließlich wäre der Baum – ein Geist – dann selbst »im Hof«, und mehr brauchte es nicht.

Wenn wir dächten, dass nicht nur Bäume, sondern auch Steine und Flüsse und Wolken Geister in Berkeleys Sinn seien – also wahrnehmend –, würden wir die Welt sehr anders empfinden. Es wäre eine Welt, wie sie der Homo sapiens während des Großteils seiner Vorgeschichte erfahren hat – also während weit über 90 Prozent der Zeit, die wir als Spezies existieren. Nach wie vor mit der Wildnis verbunden, erfahren viele indigene Völker diese Welt auch heute noch.

Diese Sichtweise wird gemeinhin als Animismus bezeichnet. In der Regel nahm sie immer dann und dort ab, wenn Menschen sich vom Jagen und Sammeln ab- und der Landwirtschaft zuwandten, wo Pflanzen und Tiere von, in Yuval Hararis Worten33, »gleichberechtigten spirituellen Partnern« zu »stummen Besitzgütern« wurden. Systematisch verurteilt und ausgerottet wurde der Animismus in großen Teilen der Welt durch Berkeleys Religion, das Christentum, das der Natur innewohnende, nichtmenschliche Geister mit Heiligen ersetzte – Männer und Frauen, die nicht in Bäumen oder Flüssen lebten, sondern im Himmel. Oftmals ging die christliche Missionierung einher mit kolonialistischem Genozid und ökologischer Zerstörung durch einen Ressourcenabbau auf Land, das Europäer den ursprünglichen Bewohnern abgenommen hatten. So gibt es heute, anteilsmäßig zur Weltbevölkerung, nur noch sehr wenige Animisten.

Den meisten von uns ist die Erfahrung des Animismus völlig fremd, und in den meisten europäisch geprägten Gesellschaften gilt sie einfach als falsch – ob es einem gefalle oder nicht, die westliche Wissenschaft habe bewiesen, dass die Dinge anders lägen, als Animisten glaubten. Nehmen wir allerdings im Sinne des Guten Bischofs ernst, dass die Welt nicht von uns getrennt ist und wir nicht getrennt von der Welt sind – dass wir uns keine Welt ohne Wahrnehmung vorstellen können und keine Wahrnehmung ohne Welt, dass esse est percipi (aut percipere) –, dann regen sich in uns vielleicht erste Zweifel an unserem »Wissen« und noch grundlegender daran, wie wir eigentlich zu diesem gekommen sein wollen.

DMan könnte versuchen, die Eigenschaftslosigkeit des Sessels zu umgehen, indem man sagt, er habe die Eigenschaft, die Wahrnehmung eines Sessels hervorzurufen, wenn er durch einen Menschen oder einen anderen wahrnehmenden Akteur wahrgenommen werde. Das ist im Grunde das, was Kant mit seinem »Ding an sich« versuchte. Allerdings bleibt diese neue »Eigenschaft« so abhängig von der menschlichen Wahrnehmung wie jede andere auch, da sie ohne echte oder imaginäre menschliche Wahrnehmung verschwindet. Außerdem bringt sie die Absurdität mit sich, dass in einem Universum, in welchem nie Leben entstanden wäre, sogenannte »Dinge« »existieren« würden, deren einzige Eigenschaft wäre, in nichtexistenten Lebewesen eine bestimmte Wahrnehmung hervorzurufen.

EFür eine vom Roboteringenieur Steve Grand verfasste erhellende Diskussion siehe https://stevegrand.wordpress.com/2009/01/12/where-do-those-damn-atoms-go.

Wenn Berkeley recht hat und Materie ein unstimmiges Konzept ist, es stattdessen nur Wahrnehmen und Wahrgenommenwerden gibt, dann gerät die grundlegende Lehre des Kartesianismus – dass die physische Welt mühelos ohne jegliches Bewusstsein existieren kann – in arge Bedrängnis. Die grundlegende Lehre des Animismus – dass die physische Welt aus Erfahrenden besteht – würde dann einen eleganten Ausweg aus dem Dilemma bieten (wenngleich keinen im Sinne Berkeleys, dem ja die Vorstellung eines allwahrnehmenden Gottes lieber war).

Berkeley zufolge können wir unterscheiden, was real ist und was nicht, ohne auf die Vorstellung von Materie zurückgreifen zu müssen, indem wir nach Gesetzmäßigkeiten in unserer Erfahrung Ausschau halten: Das Reale zeigt sich uns in Form verlässlicher Gesetzmäßigkeiten, während ein Traum oder eine Halluzination das nicht tun. Demgegenüber gilt nach einem der Lehrsätze des grundlegenden Animismus, dass Menschen mit anderen Erfahrenden, aus denen die physische Welt besteht, in Kontakt treten können – und dass dieser Kontakt oftmals ungeregelt, sporadisch, spontan und traumartig ist.

Im Kapitel »Der Heilige David« untersuchen wir nun das Verhältnis zwischen dem Realen und dem Gesetzmäßigen.

KAPITEL 2
Der Heilige David
Worin ein Fehler der westlichen Wissenschaft aufgedeckt wird und ein Philosoph sich mit Brettspielen aus der Melancholie rettet.

Warum fällt ein Stein zu Boden, wenn ich ihn fallen lasse? Für gewöhnlich lautet die Antwort: aufgrund der Schwerkraft.

Das ist eine recht seltsame Antwort. »Schwerkraft« steht hier für die Vorstellung, dass zwei Massen, ungehindert durch andere Kräfte, sich immer aufeinander zubeschleunigen. Der Stein ist eine Masse; die Erde ist eine Masse; sie beschleunigen sich aufeinander zu; also fällt der Stein auf die Erde (und die Erde fällt hinauf zum Stein, aber weil sie so riesig ist, bloß ein winziges bisschen). Aber wie sind wir eigentlich auf die Idee gekommen, dass sich zwei beliebige frei bewegliche Massen immer aufeinander zubeschleunigen – die Idee der Schwerkraft?F

Wir sind darauf gekommen, indem wir viele Massen beobachtet und gesehen haben, dass sie sich wirklich jedes Mal so verhalten. Jedes einzelne Mal, wenn wir einen Stein haben fallen lassen, ist er gefallen. Unser ganzes Leben lang, und schon lange davor, ist der Mond um die Erde herumgefallen und die Erde um die Sonne.G Und jedes Mal, wenn wir einen Schritt gemacht haben, sind auch wir gefallen – und haben uns in der Regel mit unserem vorderen Fuß wieder aufgefangen. (Gehen ist eine Aneinanderreihung abgefangener Stürze, wie man bei Babys sehen kann, die es gerade ausprobieren. Beim Baby werden die Stürze häufig noch nicht so gut abgefangen.) Selbst zwei Billardkugeln im Weltall oder in einer anderen reibungslosen Umwelt beschleunigen sich immer aufeinander zu.

Da wir jedes Mal, wenn wir zwei Massen aufmerksam beobachtet haben, zum Schluss kamen, dass sie sich aufeinander zubeschleunigen, solange keine anderen Kräfte auf sie einwirken, haben wir beschlossen, ein Gesetz zu erfinden – das Gesetz der Schwerkraft –, dem zufolge zwei solcher Massen sich immer aufeinander zubeschleunigen.

An diesem Gesetz sind zwei Dinge bemerkenswert.

Erstens entstammt es unseren eigenen Beobachtungen. Es ist nicht so, als würde zuerst das Gesetz bestehen – »Massen beschleunigen sich immer aufeinander zu« –, und die Massen würden dann wie gute Bürger dem Gesetz gehorchen. Nein – vielmehr ist das Gesetz Ausdruck der beobachteten Tatsache, dass wir, wenn wir aufmerksam hingeschaut haben, bis jetzt immer diese Beschleunigung gesehen haben.

Beobachte ich eine große Straße voller Autos mit guten Bürgern am Steuer, könnte mir auffallen, dass jeder einzelne die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h einhält. Hier handelt es sich um einen Fall, in dem ein Gesetz vorschreibt, was zu tun ist, und gute Bürger halten sich daran. Es ist nicht vergleichbar mit der Situation beim Gesetz der Schwerkraft. Die Situation beim Gesetz der Schwerkraft ist, als würden wir bemerken, dass sich alle Bürger an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h halten, ohne dass Schilder oder Vorschriften überhaupt eine Geschwindigkeitsbegrenzung ausgesprochen hätten – um dann zu sagen: »Hm, es wirkt wie eine Tatsache, dass, wann immer wir gerade hinschauen, niemand die 50 km/h überschreitet – stellen wir mal eine Vermutung über das allgemeine Verhalten dieser Bürger an und sagen, sie fahren nie schneller als 50 km/h. Diese Vermutung nennen wir dann ›Gesetz‹.«

Jetzt, da wir unser »Gesetz« haben, mag irgendein Naivling daherkommen und sagen: »He, guckt mal, diese Bürger halten sich alle an die Geschwindigkeitsbegrenzung von 50 km/h. Warum tun sie das?«

Was sollen wir diesem Naivling antworten? Wir könnten sagen: »Ach ja, wir haben gerade ein Gesetz entdeckt. Demnach fahren Bürger nie schneller als 50 km/h. Sie fahren alle so aufgrund dieses Gesetzes.«

Mit dieser Logik stimmt etwas nicht. Solange Geschwindigkeitsbegrenzungen bestanden, war das Gesetz eine gute Erklärung für das Verhalten, weil das Gesetz vom Verhalten getrennt war; es führte überhaupt erst zum Verhalten. Doch in unserem Fall trägt das Gesetz gar nichts zu unserem Wissen über das Verhalten bei. Es ist nicht getrennt vom Verhalten – vielmehr ist es aus dem Verhalten heraus entstanden, es ist dessen Bezeichnung. Das Gesetz ist nichts anderes als eine erneute Feststellung, dass wir durchweg eine Reihe von Tatsachen beobachtet haben.H

Wenn wir sagen, ein Stein falle jedes Mal, wenn wir ihn fallen lassen, weil er dem Gesetz der allgemeinen Schwerkraft gehorche, befinden wir uns in einer vergleichbaren Lage. Wir haben dieses Gesetz erfunden, weil wir immer gesehen haben, dass sich frei bewegliche Massen aufeinander zubeschleunigen. Jetzt einfach zu sagen, dass sich derlei frei bewegliche Massen aufgrund dieses Gesetzes immer aufeinander zubeschleunigen, ist doch ziemlich seltsam. Oder?

Dann schnallen Sie sich mal gut an, es wird noch viel seltsamer.

Der zweite bemerkenswerte Punkt an unserem Gesetz ist, dass es auf einer wesentlichen Annahme über den Lauf der Welt basiert. Das Gesetz nimmt als gegeben an, dass sich Massen, wenn sie sich in der Vergangenheit immer aufeinander zubeschleunigt haben, es auch zukünftig tun werden.

Auf den ersten Blick wirkt diese Annahme recht vernünftig, und ich würde wetten, dass wir ihr fast alle zustimmen. Allerdings entdeckte in den 1730er-Jahren ein sehr junger schottischer Philosoph – wie Berkeley war er zur Zeit seiner bedeutendsten Schriften noch keine dreißig –, dass diese Annahme ganz und gar nicht vernünftig ist. Und seitdem hat es niemand geschafft, ihn zu widerlegen.

Besagter Philosoph war über seine Entdeckung überhaupt nicht glücklich. Er schrieb:

Zunächst sehe ich mich durch die menschenleere Einsamkeit, in die mich meine Philosophie geführt hat, in Schrecken und Verwirrung gesetzt; ich könnte mir einbilden, ich sei ein seltsames, ungeschlachtes Ungeheuer, das, nicht geeignet, sich unter die Menschen zu mischen und mit Menschen zu leben, aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen worden und völlig einsam und trostlos gelassen worden ist. […] Alle Welt verschwört sich mir feindlich entgegenzutreten und zu widersprechen.34

Wir könnten ihn wohl der Übertreibung verdächtigen. Welche Wahrheit kann er schon entdeckt haben, die ihn zu einem »seltsamen, ungeschlachten Ungeheuer« machen würde, »aus allem menschlichen Verkehr ausgestoßen«?

Und ja, vielleicht hat er wirklich ein bisschen übertrieben. Aber stellen Sie sich mal vor, jemand würde heute behaupten, er habe einen fatalen Fehler in der gesamten westlichen Wissenschaft entdeckt, von Isaac Newton über Albert Einstein, Stephen Hawking bis zu Richard Dawkins und darüber hinaus. Ein Denkfehler, durch den das gesamte Gerüst der Naturwissenschaften in Zweifel gezogen würde, weil dessen Grundlage zerstört wäre: die Experimentalmethode selbst. Und was, wenn diese Person das nicht nur behaupten würde, sondern damit auch noch recht hätte? Und was, wenn … ihr niemand zuhören würde, ihrem Denken keinerlei Beachtung geschenkt würde? Was, wenn sie sogar verleumdet, beleidigt, zurückgewiesen und geschmäht würde – weil sie eine Wahrheit ausgesprochen hätte, die niemand hören wollte oder konnte?

So erging es David Hume in den meisten Kreisen seiner Zeit. Aber Hume war ein so netter Kerl, so sanftmütig und gutherzig, dass er doch noch ein paar Freunde fand, die gewillt waren, ihm seine Ideen nachzusehen und ihm etwas Ablenkung zu verschaffen von dem, was er als »denkbar beklagenswerteste Lage […] umgeben […] von der tiefsten Finsternis« beschrieb.

Und so konnte Hume die schreckliche Wahrheit, die er entdeckt hatte, ignorieren – was er auch anderen nahelegte, sollte irgendwer seine Schriften lesen und verstehen –, indem er sich Zerstreuungen suchte:

Da die Vernunft unfähig ist, diese Wolken zu zerstreuen, so ist es ein glücklicher Umstand, daß die Natur selbst dafür Sorge trägt und mich von meiner philosophischen Melancholie und meiner Verwirrung heilt, sei es, indem sie die geistige Überspannung von selbst sich lösen läßt, sei es, indem sie mich aus ihr durch einen lebhaften Sinneseindruck, der alle diese Hirngespinnste verwischt, gewaltsam herausreißt. Ich esse, spiele Tricktrack [Backgammon], unterhalte mich, bin lustig mit meinen Freunden. Wenn ich mich so drei oder vier Stunden vergnügt habe und dann zu jenen Spekulationen zurückkehre, so erscheinen sie mir so kalt, überspannt und lächerlich, daß ich mir kein Herz fassen kann, mich weiter in sie einzulassen.35

Gott sei Dank gibt’s Brettspiele.

Die schreckliche Wahrheit, die Hume entdeckte, ist sehr einfach und sehr kompliziert. Denn aus einem simplen Grund gehen wir davon aus, dass zwei Massen sich auch zukünftig aufeinander zubeschleunigen werden: Weil sie es in der Vergangenheit immer getan haben. Nicht, weil es da draußen ein Schild gäbe oder ein Gesetz, erlassen von Gott, Newton oder Einstein; wie wir gesehen haben, gibt es in diesem Sinne gar kein Gesetz. Obwohl wir unsere vergangenen Beobachtungen in einem mathematischen Gesetz beschrieben und verankert haben und es schaffen, uns vorzumachen, Massen würden es befolgen, bleibt dieses Gesetz unsere Fiktion.I Das Gesetz entstammt dem Verhalten, nicht das Verhalten dem Gesetz. Aber weil unser Glaube daran so stark ist, machen wir einen wichtigen Schritt: Wir lösen das Gesetz von der Vergangenheit und verleihen ihm einen neuen Status – nicht als Resümee dessen, was wir beobachtet haben, sondern als Prognose dessen, was wir beobachten werden. Durch diesen Schritt wird eine Reihe von Beobachtungen zu etwas, das wir kühn prädiktives Gesetz nennen.

Aber warum, fragte Hume, ziehen wir diesen voreiligen Schluss? Warum gehen wir davon aus, zwei Massen würden sich auch zukünftig aufeinander zubeschleunigen, wie sie es in der Vergangenheit immer getan haben? Ist es denn vernünftig, davon auszugehen? Anders gefragt: Warum denken wir, auf dieser grundlegendsten Ebene unserer Physik, dass die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit?

Das ist einfach, mögen Sie sagen. Und ja, auf jeden Fall wirkt es einfach. Die Zukunft ist schon immer wie die Vergangenheit gewesen. Jeden Morgen geht die Sonne auf, wie seit Milliarden von Jahren. Bei jedem neuen Experiment mit zwei Massen beschleunigen sich diese aufeinander zu, wie in jedem Experiment zuvor – und jedes Mal, wenn wir einen Stein fallen lassen, und bei jedem Schritt, den wir machen, folgt das erwartete Fallen. Mit jedem neuen Tag erfahren wir wieder und wieder eine Zukunft, in der dieselben Gesetze gelten – das heißt, dieselben Phänomene auftreten – wie in der Vergangenheit. Und weil die Zukunft bislang immer war wie die Vergangenheit, ist es doch wohl ausgesprochen vernünftig anzunehmen, dass sie es auch immer sein wird.

Ebendiese Argumentation wurde von Hume zunichtegemacht.

Hier ist sie nochmals in ihrer einfachsten Form, bezogen auf unsere beiden Massen:

1.Zwei frei bewegliche Massen haben sich schon immer aufeinander zubeschleunigt.

2.Deshalb werden sich zwei frei bewegliche Massen immer aufeinander zubeschleunigen.

Hume sah, dass diese beiden Aussagen noch kein Argument ergeben. Etwas fehlt – eine versteckte Prämisse. Damit die Aussagen wirklich ein Argument ergeben, fügte er die notwendige zweite Prämisse hinzu. Dann lautet das Argument wie folgt:

1.Zwei frei bewegliche Massen haben sich schon immer aufeinander zubeschleunigt.

2.Die Zukunft wird immer wie die Vergangenheit sein.

3.Deshalb werden sich zwei frei bewegliche Massen immer aufeinander zubeschleunigen.

Jetzt funktioniert das Argument auf jeden Fall. Es ist ein perfekter Syllogismus. So weit, so gut – Hume scheint unsere Argumentation eher gerettet zu haben, als dass er sie vernichtet hätte. Was also regte ihn so auf? Na, die zweite Prämisse. Die erste Prämisse ist unangreifbar – eine einfache faktische Aussage. Aber wie können wir wissen, fragte Hume, dass die zweite Prämisse wahr ist? Wie können wir wissen, ob die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit?

Hume erkannte, dass wir eigentlich dasselbe Argument wie für die beiden Massen verwenden. In seiner ursprünglichen, unvollständigen Form sieht das so aus:

1.Die Zukunft ist schon immer wie die Vergangenheit gewesen.

2.Deshalb wird die Zukunft immer wie die Vergangenheit sein.

Aber wie wir weiter oben bei den Massen gesehen haben, ist diese Argumentation ungültig. Ihr fehlt die zweite Prämisse. Fügen wir also wie oben die zweite Prämisse ein:

1.Die Zukunft ist schon immer wie die Vergangenheit gewesen.

2.Die Zukunft wird immer wie die Vergangenheit sein.

3.Deshalb wird die Zukunft immer wie die Vergangenheit sein.

Da ist aber was ganz Seltsames passiert mit dem Argument! Es sieht ja kaum noch aus wie ein Argument: Das Fazit wiederholt einfach die zweite Prämisse, und die erste Prämisse ist irrelevant. Da ist was gewaltig schiefgelaufen.

Was geschehen ist, ist recht leicht zu sehen. Die ganze Zeit – unser ganzes Leben lang – haben wir aus vergangenen Erfahrungen geschlossen, um die Zukunft vorherzusagen. Nachdem wir wiederholt gesehen haben, wie zwei frei bewegliche Massen sich aufeinander zubeschleunigen, legt uns die Erfahrung nahe, dass sie sich auch weiterhin aufeinander zubeschleunigen werden. Aus vergangenen Erfahrungen zu schließen, um die Zukunft vorherzusagen, funktioniert allerdings nur, wenn die Zukunft wie die Vergangenheit ist. Falls sich die Zukunft von der Vergangenheit unterscheidet, ist unsere vergangene Erfahrung natürlich kein guter Leitfaden.

Somit ist es sinnlos, aus vergangener Erfahrung schließen zu wollen, die Zukunft werde sein wie die Vergangenheit, denn Schlussfolgerungen aus vergangener Erfahrung funktionieren nur, wenn wir bereits wissen, dass die Zukunft tatsächlich wie die Vergangenheit sein wird. Aber genau das wissen wir ja nicht und wollen es herausfinden! Und so bricht dieser Syllogismus in sich zusammen.

Kein Wunder, dass sich Hume »völlig einsam und trostlos« fühlte, als »ein seltsames, ungeschlachtes Ungeheuer« und »in Schrecken und Verwirrung gesetzt«. Er hatte soeben bewiesen, dass fast unser gesamtes Denken eben nicht durchdacht ist.

Könnten wir mit irgendeiner anderen Argumentation der Frage zu Leibe rücken, ob nun die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird? Gibt es denn gar keinen Ausweg aus Humes Folgerung? Wir suchen und suchen und suchen – und entdecken zu unserer Bestürzung, dass auch sonst nichts im Angebot steht. Wovon können wir uns denn überhaupt leiten lassen bei einer solchen Frage, wenn nicht von unserer Erfahrung? Auf die Gesetze der Physik können wir uns nicht verlassen, weil sie, wie wir gesehen haben, selbst bündige Zusammenfassungen unserer Erfahrung sind, keine extern erlassenen Gesetze. Die physikalischen Gesetze sind selbst auf ebenjene Annahme angewiesen, die wir gerne beweisen würden. Somit können wir in keiner Weise wissen, nicht einmal auf einfachstem Niveau, ob die Zukunft weiter so sein wird, wie es die Vergangenheit war.

Das wäre ja schon schlimm genug, aber das Ganze hat eine noch gravierendere Auswirkung. Da wir keinerlei Grund haben zu der Annahme, die Zukunft werde wie die Vergangenheit sein, haben wir auch keinerlei Grund zu der Annahme, es wäre je legitim, aus vergangener Erfahrung zu schließen, egal zu welchem Zweck. Vergessen Sie nicht jene zweite Prämisse: Aus vergangener Erfahrung zu schließen, setzt immer voraus, dass die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit. Aus vergangener Erfahrung zu schließen, ist somit immer unvernünftig.

Moment, Moment, Moment. »In Ordnung«, mögen Sie sagen, »dann ist es halt nicht in Stein gemeißelt, dass die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird. Aber es ist zumindest sehr wahrscheinlich. So viel liegt wohl auf der Hand. Die Zukunft ist immer wie die Vergangenheit gewesen – das war hundert Fantastilliarden Mal so, und kein einziges Mal wäre sie nicht wie die Vergangenheit gewesen –, also selbst wenn ich nicht beweisen kann, dass es auch weiterhin so sein wird, kann ich zumindest auf die riesige Wahrscheinlichkeit bauen, dass es so sein wird.«

Entschuldigen Sie bitte die Miesmacherei, aber nein. Allein der Gedanke, es sei wahrscheinlich, dass die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit, setzt voraus, aus vergangener Erfahrung zu schließen. Wenn Sie eine Million Mal willkürlich Spielkarten aus einem Stapel ziehen und jede zehnte ist ein König, könnten Sie versucht sein, daraus zu folgern, dass zukünftig, wenn Sie bloß genügend Karten ziehen, jede zehnte ein König sein wird. Aber selbst diese probabilistische Folgerung setzt voraus, dass die Zukunft wie die Vergangenheit sein wird. Falls die Zukunft nicht wie die Vergangenheit sein sollte, haben Sie keinen Grund zur Annahme, dass auch nur dieselben Wahrscheinlichkeiten wie in der Vergangenheit gelten würden. Ob wir nun Sicherheiten oder Wahrscheinlichkeiten begründen wollen, jene zweite Prämisse brauchen wir. Und wir haben sie nicht.

Langsam wird ersichtlich, warum Hume über seine Folgerungen so bestürzt war. Nicht nur können wir nicht sicher sein, dass die Zukunft sein wird wie die Vergangenheit; die meisten von uns nehmen es wohl ganz gut hin, nicht wissen zu können, ob sich zwei Massen auch noch morgen Nachmittag aufeinander zubeschleunigen werden. Vielleicht, vielleicht gibt es ja einen Gott, der genau dann beschließen wird, die Physik seines Kosmos zu ändern; oder vielleicht sind die Gesetze der Physik auf eine Art und Weise zeitgebunden, die die Wissenschaftler noch nicht entdeckt haben.

Doch Humes Argumentation zerstört noch weitaus mehr als diese Gewissheit. Sie zerpflückt nicht nur unsere Gewissheit – sie zerpflückt auch, was wir für wahrscheinlich halten. Weil es nicht legitim ist, je aus vergangener Erfahrung zu schließen, können wir gar keine Ahnung haben, ob Massen auch noch morgen ihr Ding machen werden. Wir können nicht mal eine Ahnung von der Wahrscheinlichkeit haben, ob das so sein wird.

Es ist, als ob wir in ein Casino gingen und dort entweder auf Schwarz oder nicht Schwarz setzen dürften. Nur wissen wir gar nicht, worin das Spiel besteht. Wir haben keine Ahnung, wie die Chancen stehen, dass Schwarz auftaucht, die sich von 0 (unmöglich) bis 100 Prozent (Schwarz ist das einzig mögliche Ergebnis) erstrecken könnten. Roulette spielen wir nicht; eigentlich haben wir keine Ahnung, was wir da spielen. Sollen wir setzen? Und wie?

Tasuta katkend on lõppenud.

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