Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden

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Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Für Majid im Iran, dem viele unserer Probleme wie Luxus erscheinen

AXEL STOMMEL

DIE UNERTRÄGLICHE LEICHTIGKEIT DER SCHULDEN

Corona, das Klima und die Schwarze Null


Axel Stommel

Die unerträgliche Leichtigkeit der Schulden

Corona, das Klima und die Schwarze Null

ISBN (Print) 978-3-96317-218-2

ISBN (ePDF) 978-3-96317-752-1

ISBN (ePub) 978-3-96317-753-8

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Inhalt

Vorwort

1 Im Herbst der Schwarzen Null

2 Ein bedenklicher Sonderfall und ein Extremereignis: Haushaltsüberschüsse als Mangelerscheinung, Corona als äußerliche Herausforderung

3 »Schuldenbremsen verlangen Sparpolitik« – ein Denkfehler

4 Der Staat und die privaten Haushalte: Wer wirtschaftet einnahmen-, wer ausgabenbestimmt?

5 Wer nicht investiert, verliert – am Ende gar die Demokratie

6 Tollkühn-resignativer Realismus und die Verwechslung von Schuldenbremse und Steuerbremse

7 Der Staat und die privaten Unternehmen: Bei wem finanzieren sich Kredite regelmäßig selber?

8 Die unerträgliche Leichtigkeit des Verschuldens: Easy Financing oder Steuern & steuern?

9 Der Staat und seine Kreditgeber: Wer steuert wen?

10 Exkurs zu geläufigen, anderslautenden Lehrmeinungen

11 Die Selbstfinanzierungsquoten: Schwer zu erfassen und breit gestreut

12 Theorie und Alltag: Was die »Menschen draußen im Lande« von Staatsschulden halten

13 Die hilfreiche, sich selbst finanzierende Staatsverschuldung: Theorie und Praxis der gegensteuernden Wirtschaftspolitik

14 Durch Schulden zu gutem Klima? Zum ranggemäßen Einsatz wirtschaftspolitischer Instrumente

15 Sonderstellung des Zinssatzes bei Staatsschulden: Nullzinspolitik und die ›Laienidee‹ von der Staatsschuldtilgung

16 Null-Zinsen, Zinsersatzleistungen und Verteilung

17 Kreditlücken mit Steuern auffüllen? Oder lieber umgekehrt?

18 Exkurs zur Upside-Down-Economy und zur Todsünde der Wirtschaftstheorie

19 Praktische Schlussfolgerungen für den Alltag

20 Einseitige Quintessenz

ANHANG zur Anfreundung mit Steuerfragen

Quellen

Dank

Vorwort
I

Wenn der Planet verbrennt, sind Staatsschulden belanglos. Deshalb gilt es, von der Schwarzen Null Abstand zu nehmen und Investitionen in Klimaschutz von der Schuldenbremse auszunehmen.

Solche oder ähnliche Sätze waren immer häufiger zu hören, bevor sie von den Problemen der alles überlagernden Corona-Pandemie verdrängt wurden. Dasselbe Schicksal erlitten die riesigen Investitionslücken in unserer Infrastruktur, in Bildung, Sicherheit, Recht, Ordnung, Informationstechnologie und vieles mehr, die als weitere Gründe für staatliche Neuverschuldungen im Normalbetrieb genannt wurden; außerdem die Furcht vor einer Abschwächung der Konjunktur. Angesichts dieses Bündels an höchst bedenklichen, gleichwohl gewöhnlichen Zuständen erschien die Forderung nach einer beherzten Klima-, Wirtschafts- und Gesellschaftspolitik auf Kredit in weiten Teilen der Fachwelt fast schon wie eine schiere Selbstverständlichkeit.

Und dann, wie aus heiterem Himmel, die Corona-Pandemie. Als im Jahre 1320 die Pest in der zentralchinesischen Provinz Hubei ausgebrochen war, hatte sie noch 25 bis 30 Jahre benötigt, um bis nach Italien vorzudringen. Unter den Bedingungen der fortgeschrittenen Technik und der Globalisierung hat Corona genau dieselbe Strecke in 25 bis 30 Tagen bewältigt; außerdem hat sich das Virus nicht nur auf den Weg nach Europa begeben, sondern es ist in alle Himmelsrichtungen ausgeschwärmt, hat das wirtschaftliche und soziale Leben auf allen Kontinenten wochenlang gelähmt und das Denken der Menschen in grundstürzender Weise beeinflusst.

Dass der Staat in dieser extremen Situation gefordert ist, das Schlimmste zu verhindern und besonders betroffenen Unternehmen und Haushalten mit zusätzlichen Krediten und Zuschüssen unter die Arme zu greifen, um wirtschaftliche Existenzen und ganze Wirtschaftszweige vor dem Ruin zu bewahren, war den politischen Entscheidungsträgern von der Kommissionspräsidentin der EU bis hinab zum Ortsbürgermeister umgehend klar. »Wir tun, was nötig ist«, erklärte deshalb die Kanzlerin, Inhaberin der nach wie vor beim Nationalstaat liegenden, entscheidenden Gestaltungsmacht, mit einem für sie ungewöhnlichen Zug spontaner Entschlossenheit; Schwarze Null und Schuldenbremse ließ sie sogar ohne eigene Anwesenheit (sie befand sich mit Coronaverdacht in häuslicher Quarantäne) auf einer einzigen Sitzung per Kabinettsbeschluss aus der aktuellen Regierungsagenda entfernen.

Aber weder restlos noch für immer. Denn zum einen geht es auch in der extremen Situation der Corona-Krise bei aller gebotenen, unbürokratischer Schnelligkeit nicht darum, den Staat bedenkenlos zu verschulden; ungebremst darf auch in pandemischer Zeit Geld nicht verteilt werden. Zum anderen überdeckt Corona zwar plötzlich alles andere, namentlich die fortschreitende Verschlechterung des meteorologischen und des gesellschaftlichen Klimas. Aber selbst wenn die Corona-Krise länger dauern und mehr Schaden anrichten sollte als alles bisher Dagewesene: Die Corona-Krise wird irgendwann ein Ende haben. Das Klima nicht. Es bleibt bestehen, und zwar sowohl das gesellschaftliche als auch das meteorologische Klima mitsamt jeweiliger Probleme und Gefahren: Nach der Corona-Krise ist mitten in der Klima-Krise.

Für die Schwarze Null dagegen beginnt mit Ende der Corona-Krise ein neuer Frühling. Das konservative Lager mit seiner traditionell unscharfen Programmatik wird die Gelegenheit ergreifen, sich in gewohnter Weise als Wahrer bewährter Werte zu positionieren und – wahrscheinlich im Verein mit weiteren politischen Gruppierungen – Neuverschuldung mit ausdrücklichem Verweis auf den mächtig weiter gewachsenen Schuldenstand ablehnen sowie Schuldenbremse und Schwarze Null in seine aktuelle Programmatik zurückholen. Der von der CDU gestellte Bundeswirtschaftsminister, PETER ALTMAIER, hat dies unverzüglich klar und deutlich angekündigt: »Altmaier stellt schnelle Rückkehr zur Schwarzen Null in Aussicht«, meldet die Nachrichtenagentur Reuters am 23.3.2020 und fährt fort: »›Wenn die Krise überwunden ist und wir hoffen, dass dies in einigen Monaten der Fall sein kann, dann werden wir zurückkehren zur Politik der Sparsamkeit‹, sagte der CDU-Politiker am Dienstag im ZDF. Nach Möglichkeit werde dies auch wieder die Schwarze Null sein.«1

Die Corona-Viren setzen also Schwarze Nullen und Schuldenbremsen außer Kraft. Aber sie töten sie nicht. Corona nimmt sie lediglich aus dem Rampenlicht. Hinter der Bühne mästen die Viren sie sogar. Wenn die Schwarze Null zusammen mit ihrer Partnerin, der Schuldenbremse, zu gegebener Zeit wieder vorne auf der Bühne vor das Publikum tritt, stehen die bekannten Fragen wie eh und je im Raum – nur dass Wirtschaft, Gesellschaft und Staat dann als Folge von Corona ärmer, weiter geschwächt auf einem bedeutend höheren Schuldensockel stehen werden. Die Dreiecksbeziehung zwischen Staatsfinanzierung, Sozial- und Klimapolitik wird dann ziemlich konturscharf sichtbar, spätestens dann werden Fragen der Belastung, der Schuldentragfähigkeit sowie die Frage, welche Aufgaben der Staat zu übernehmen habe und wie sie zu finanzieren seien, hochaktuell.

 

Diese Fragen gründlich zu bedenken ist deshalb nie zu früh, aber schnell zu spät. Wenn der Handlungsbedarf dringend ist, ist der Bedarf an durchdachten Entscheidungen groß; aufgeregtes, spontan-unbedachtes Reagieren hat sich selten als hilfreich beim Lösen von Problemen erwiesen. Gerade diejenigen, welche die Herausforderungen nicht nur durch Extremereignisse ernst nehmen, sondern auch Klimawandel und soziale Spaltung unserer Gesellschaft, beides allmähliche, gewissermaßen schleichend fortschreitende Erscheinungen, tun deshalb gut daran, die maßgeblichen Sachverhalte und Zusammenhänge von Grund auf zu betrachten und in Ruhe zu Ende zu denken.

Die Aufgabe ist anspruchsvoll. Die vorliegende Schrift soll dafür leicht fassliche Hilfen bereitstellen. Um überschaubar zu bleiben, konzentriert sie sich auf Fragen, die mit der Verschuldungsthematik in engerem Zusammenhang stehen. In wesentlichen Passagen stellt sie einen themenspezifischen Extrakt aus den Anfangskapiteln meiner umfangreichen, ein Jahr zuvor erschienenen Schrift »BASICS DER ÖKONOMIE – HERRSCHENDE LEHREN AUF DEM PRÜFSTAND, BAND 1: WIRTSCHAFTSPOLITIK, STAAT UND STEUERN« dar, die es übrigens soeben in die Shortlist des Hans-Matthöfer-Preises für Wirtschaftspublizistik geschafft hat – ein ziemlich erstaunlicher Vorgang, wenn man bedenkt, dass die »Basics« vorherrschenden Lehrmeinungen, wie sie auch in der Auswahl-Jury vertreten sind, durchgängig dezidiert widersprechen.

II

Auf den kommenden Seiten erscheinen Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung und des sozialen Zusammenhalts im Mittelpunkt der Betrachtung. Vom Klima und von Corona wird dagegen vergleichsweise selten ausdrücklich die Rede sein.

Dennoch stehen Klima und Corona ständig unausgesprochen über bzw. hinter den Ausführungen – das Klima als Extremfall einer allmählich, aber ziemlich beständig wachsenden krisenhaften, ökonomisch getriebenen Entwicklung, Corona als Extremfall eines urplötzlich ausbrechenden Krisenereignisses, als einmaliger, weitestgehend externer (»exogener«) Schock; Juristen nennen es »höhere Gewalt«.

Nebenbei fegen Corona und das Klima gemeinsam die interessierte Vorstellung vom Staat als ärgerlichem Hindernis der Entwicklung, als dem gesellschaftlichen Akteur, der nur möglichst »schlank« zu ertragen sei, vom Platz. Ist es doch ganz offensichtlich der Staat und sonst niemand, der sich um die Eindämmung des Virus kümmert, die Gesundheitsversorgung organisiert, diverse gesundheits- und klimapolitische Grenzwerte setzt, die Lebensgrundlage von Menschen und Unternehmen auch in Zeiten der Not aufrecht erhält sowie Wirtschaft und Gesellschaft durch die Krise steuert. Das Erscheinungsbild des Staates wandelt sich in den Augen vieler bislang skeptischer Zeitgenossen über Nacht von einem verschlafenen, gefräßigen Taugenichts zum rettenden Ritter. Erstaunt wird registriert, dass der Staat durchaus fähig ist, Interessen des gemeinen Wohls durchzusetzen, wenn er denn will; Schuldenbremsen und Schwarze Nullen sowie die EU-Regeln zur maximalen Staatsverschuldung jedenfalls kann er von einem Tag auf den nächsten geradezu mühelos außer Kraft setzen.

Dass Fragen der wirtschaftlichen Entwicklung mitsamt der Rolle des Staates auf den kommenden Seiten also durchweg ausdrücklich besprochen werden, während Corona und das Klima unausgesprochen über bzw. hinter den Ausführungen stehen, ist dem Umstand geschuldet, dass wir in einer wirtschaftlich und sozial instabilen Gesellschaft von sozioökonomischen Fragen und Auseinandersetzungen fast vollständig in Atem gehalten werden. In heftig umkämpfte bzw. gefährdete, instabile sozioökonomische Verhältnisse verstrickt, werden wir außer Stande sein, jene Aufmerksamkeit und jene Ausdauer, jene Verhandlungsbereitschaft und jene Einigungskraft aufzubringen, welche jede effektive Umwelt- und Klimapolitik zwingend erfordern. Eine nicht auflösbare Beziehung zwischen dem sozialen und dem meteorologischen Klima hat sich deshalb herausgebildet: Sozioökonomische und Klimapolitik sind untrennbar miteinander verbunden.

Für die Menschen im globalen Süden besitzt dieser Sachverhalt eine noch größere Bedeutung als für uns Europäer. Trotzdem sind die vielen Armen im globalen Süden zu aktivem Klimaschutz kaum imstande, ja nicht einmal die Klimaflüchtlinge selber kümmern sich um das Klima, weil sich ihre gesamten Anstrengungen notgedrungenerweise auf ihr tägliches Ein- bzw. Auskommen richten.

Aber auch bei uns in Europa skandierten Frankreichs Gelbwesten in ihrem »wilden«, spontanen Protest gegen eine von der Regierung mit klimapolitischen Argumenten begründete Benzinpreiserhöhung: »Die Reichen reden über das Ende der Welt; wir haben Angst vor dem Ende des Monats.« Ein erträgliches, ausgewogenes Sozialklima ist mithin unerlässliche, grundlegende Voraussetzung für Erfolge im Kampf um ein erträgliches, meteorologisches Klima, und zwar sowohl innerhalb jeweiliger als auch zwischen den verschiedenen Nationen. Im Übrigen führt uns die Corona-Krise brandaktuell vor Augen, wie der bloße Gedanke an Investitionen in Klimaschutz unter dem Druck aktueller Probleme allerorts ganz nach hinten auf der Agenda rutscht – unter den Tagesordnungspunkt »Verschiedenes«, wenn überhaupt.

III

In den vorangegangenen Schilderungen ist eine nähere Bestimmung des Verhältnisses von Wirtschafts- und Klimapolitik enthalten, nämlich dass das eine, die Wirtschafts- und Sozialpolitik, die Basis des anderen, der Klimapolitik, ist. Insofern gilt: Die Ökonomie ist der Ökologie vorgelagert.

Dementsprechend ist festzuhalten, dass es die ökonomische Entwicklung einschließlich ihrer wissenschaftlich-technischen Implikationen ist, welche die gegenwärtige, bedrohliche ökologische Entwicklung mit all ihren Auswirkungen auf Klima und Umwelt hervorgebracht hat, nicht umgekehrt. In diesem Sinne ist festzuhalten, dass die bisher einzig signifikanten, vorübergehenden ökologischen Erfolge Folgen einschneidender, vorübergehender ökonomischer Krisen sind: Die Ölkrise in den 1970er Jahren, der Zusammenbruch der Ostblockstaaten und ihrer Wirtschaften in den 1990ern und die Finanzkrise von 2008 ff. hatten den ansonsten unablässig wachsenden Ressourcenverbrauch und die daraus resultierenden, das Klima bedrohlich verändernden Emissionen jeweils vorübergehend gesenkt. Die Corona-Krise wird mit Wucht dazukommen.

Die Erkenntnis, dass Ökonomie und Ökologie nur gemeinsam erfolgreich sein können, wird zwar, von notorischen Leugnern eines menschengemachten Klimawandels abgesehen, mittlerweile erfreulicherweise kaum noch bestritten. Aber diese Erkenntnis erfasst nicht die Spezifik im Verhältnis der beiden zueinander: Der Klimawandel ist kein Problem neben anderen, insbesondere ist er kein Problem neben der Ökonomie. Vielmehr ist die Klimakrise ein Ausfluss der Ökonomie; in ihr bündeln sich problematische sozioökonomische Entwicklungen und Wirkungen auf einzigartige Weise sowie in bisher unbekanntem Ausmaß.

Diese Lage der Dinge erklärt, warum das Klima, aber auch Corona auf den kommenden Seiten durchgängig im Focus der Aufmerksamkeit stehen, obwohl von ihnen eher selten ausdrücklich die Rede sein wird. Ökonomie und Ökologie können nicht von Anfang an sowie durchgängig in Eins gesetzt werden. Das müssen sie aber auch nicht. Sie dürfen nur nicht als jeweils einzige, voneinander Unabhängige betrachtet und bedacht werden.

Dass das Klima und seine Veränderungen als konzentrierter, natürlicher Ausfluss sozioökonomischer Probleme selbst wieder zurückwirkt und die wirtschaftliche Basis nichts weniger als zu zerstören vermag, stellt die dargelegte Beziehung zwischen Ökonomie und Ökologie nicht infrage. Vielmehr erhöht die zerstörerische Rückwirkung die Bedeutung des Dargelegten auf dramatische Weise. Letztlich zeigt sie, dass menschliches Handeln auf der erreichten Entwicklungsstufe von Produktion, Wissenschaft und Technik im Stande ist, nicht nur gesellschaftliche, sondern auch selbstläufige, übergreifende Naturprozesse mit weltweiten Wirkungen hervorzubringen und auszulösen: Die übermächtige Natur schlägt zurück.

Teltow, im April des Corona-Jahres 2020

A. S.

1Reuters, 24.3.20, https://de.reuters.com/article/virus-deutschland-finanzen-idDEKBN21B0WF.

1 Im Herbst der Schwarzen Null

»Progressive Politiker*innen, die eine scharfe Trennlinie zur konservativen Wirtschaftspolitik ziehen wollen, sollten sich deshalb ein anderes Gebiet als jenes der Staatsverschuldung suchen. Für einen solchen Vorstoß bietet sich etwa die Gerechtigkeit des Steuersystems an

TOM KREBS2

Schon vor der Corona-Krise ist die Forderung nach höherer staatlicher Verschuldung immer häufiger und immer lauter zu vernehmen. Während sie anfangs noch den von TOM KREBS erwähnten »Progressiven« vorbehalten war, dringt sie allmählich tief in den Kreis der etablierten, neoklassischen Wirtschaftswissenschaften und ihrer Gefolgschaft in Politik und Journalistik ein. Jede Befürchtung einer sich eintrübenden Konjunktur wirkt in dieselbe Richtung, außerdem die gewaltig an Dynamik gewinnende Klimadebatte.

»Eine Schuldenbremse stellt zumal in Zeiten negativer Zinsen kein durchdachtes Konzept staatlicher Wirtschaftspolitik dar.« Diese oder ähnliche Aussagen finden demgemäß schon vor Corona die Zustimmung von so unterschiedlichen Personen und Institutionen wie etwa

•dem Bundesverband der Deutschen Industrie (BDI) und

•dem Deutschen Gewerkschaftsbund (DGB), von

•MICHAEL HÜTHER vom Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ebenso wie von

•MARCEL FRATZSCHER vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) und

•JENS WEIDMANN von der Bundesbank, von

•den Nachdenkseiten und der taz, von

•der SPD, den Grünen und der Linken, ja Teilen der CDU; sie findet übrigens auch die Zustimmung von

•MATTEO SALVINI von der autoritären, semifaschistischen Lega in Italien.

Kurz gesagt: Die Einschätzung, Schuldenbremsen seien ganz allgemein von gestern, wenn nicht seit jeher verfehlt, findet die Zustimmung einer recht ungewöhnlichen, herbstbunten Koalition.3 Das ist der Herbst der Schwarzen Null.

Ohne es auszusprechen, plädieren die Kritiker von Schuldenbremse und Schwarzer Null in ihrem anschwellenden Chor jedoch immer zugleich dafür, sach- und leistungsfähigkeitsgerechte Steuern für Vermögende durch Anleihen bei Vermögenden zu ersetzen. Neue Verschuldung umgeht, ersetzt, ja sie verhindert sach- und leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung.

Grundsätzlich gilt: Staatseinnahmen = Steuern + Neuverschuldung. Das eine wächst auf Kosten des anderen und umgekehrt (vergleichsweise unbedeutende, weitere staatlichen Einnahmequellen wie Gebühren und Beiträge, Zölle, Privatisierungserlöse, Gewinnabführung öffentlicher Betriebe und Zentralbankgewinne bleiben im Interesse einer Konzentration auf das Wesentliche außer Betracht).

Die Staatsschulden selber werden in der Regel über Wertpapierausgaben des Bundes und der Länder finanziert, die überwiegend von in- und ausländischen Banken und Zentralbanken, Versicherungen, Vermögensverwaltungsgesellschaften und anderen institutionellen Anlegern stellvertretend für ihre vermögenden Eigentümer bzw. Auftraggeber gekauft werden; private Kleinanleger spielen nur eine unbedeutende Rolle.

Dass die Kritiker von Schwarzer Null und Schuldenbremse den bloßen Gedanken an eine sach- und leistungsfähigkeitsgerechte Besteuerung mit ihren Plädoyers zugunsten neuer Schulden verdrängen, bemerkt man jedoch gewöhnlich nicht, und zwar sogar gerade dann nicht, wenn man aufmerksam zuhört. Denn diese Konsequenz kommt ja gerade nicht zur Sprache. Sie wird vielmehr von einer Vielzahl zutreffender Argumente aus den Bereichen von Infrastruktur und Konjunktur, Sozialem, Klima und Weltgeschehen unauffällig übertönt bzw. versteckt.

 

Stellvertretend hierfür sei die Argumentation von MARCEL FRATZSCHER, dem Leiter des DIW, wiedergeben. In seinem Beitrag »›Die schwarze Null schützt künftige Generationen nicht‹«4 führt er zur Begründung seiner Forderung, »dass die Bundesregierung mit ihrem Dogma der schwarzen Null bricht«, an: Instandsetzung der Infrastruktur, Verbesserung der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen, globale Handelskonflikte, die endlose Brexit-Hängepartie, die schwächelnde Automobilindustrie, explodierende Mietpreise, soziale Polarisierung, Stärkung von Bildung, Innovation und Sozialsystemen, dringende steuerliche Entlastung von Unternehmen, Bekämpfung des Niedriglohnsektors, Förderung der Eigenverantwortung, Konjunktur- und Wachstumsförderung ganz allgemein, Generationengerechtigkeit im Besonderen sowie einiges mehr.

Hinter diesem Feuerwerk zweifelsfreier, dringend behandlungsbedürftiger Zu- bzw. Missstände verschwindet der bloße Gedanke daran, dass es lohnend sein könnte zu prüfen, ob die dringenden öffentlichen Aufgaben auch anders finanzierbar sind, nämlich aus ordentlich vollzogener sowie sach- und leistungsfähigkeitsgerecht gestalteter Besteuerung; das Für und Wider der Finanzierungsalternativen abwägend zu bedenken, entfällt damit wie von selbst, gewissermaßen automatisch.

Folglich denkt man nicht an die Konsequenzen, die der Austausch von Steuereinnahmen gegen Verschuldung hinter sich herzieht. Vielmehr erscheinen Kreditaufnahmen, Lockerung der Schuldenbremsen bzw. das Ende der Schwarzen Null, mit einem Wort: neue Staatsverschuldung schlicht und einfach als alternativlos, um sicherzustellen, dass der Staat in der Lage bleibt bzw. in die Lage kommt, seine wachsenden Aufgaben einigermaßen ordentlich zu erfüllen. In ihrer unauffälligen Präsentation als scheinbare Selbstverständlichkeiten rufen die Verschuldungsplädoyers naturgemäß keine Bedenken hervor – Selbstverständlichkeiten bedenkt man nicht, erst recht nicht, wenn sie eh schon alternativlos erscheinen. Kurz: Vermehrte staatliche Verschuldung erscheint erstens alternativlos sowie zweitens im allgemeinen Interesse; sie ist daher unbedingt zu begrüßen, mehr noch: Es sieht so aus, als wäre öffentliche Verschuldung von jedem zu fordern, der sich Gedanken um die Zukunft macht.

Auf diesem Wege kann die Botschaft von der guten, der fortschrittlichen Verschuldung die Strecke zur Duldung, wenn nicht gar zur handlungsleitenden Überzeugung widerspruchslos und unkontrolliert passieren, obendrein ohne dass es überhaupt jemand merkt.

Widerspruchslos, unkontrolliert und unbemerkt – diese Kombination ist bedenklich, wenn es um gewichtige Alternativen der Wirtschaftspolitik geht, nämlich um Fragen der Finanzierung unseres Staates und seiner durch seine Finanzlage bestimmten wirtschaftspolitischen Handlungsspielräume. Denn, von der Entwicklung unserer natürlichen Umgebung mitsamt Klima sowie den Fragen von Krieg und Frieden abgesehen, gilt: Nichts, rein gar »nichts beeinflusst den Wohlstand einer Nation und ihrer Menschen mehr als die Wirtschaftspolitik.« (JOSEPH STIGLITZ)5

Zwar steht außer Frage, dass Staatsschulden kein Teufelswerk sind, wie die verbliebenen, hartgesottenen Anhänger der Sparpolitik glauben mögen. Aber daraus folgt keineswegs zwingend, dass eine umfassende, situationsunabhängige, prinzipielle Abkehr von Schuldenbremse und Schwarzer Null geboten ist.

Warum nicht? Zunächst ganz einfach deshalb, weil die allgemein verbreitete Gleichsetzung von Schuldenbremse bzw. Schwarzer Null mit Austeritäts- bzw. Sparpolitik auf einem erstaunlichen, weil leicht erkennbaren Denkfehler beruht.

Der Denkfehler gehört vorab korrigiert, damit man alsdann fehlerfrei weiterdenken kann. Die Korrektur erfolgt in Kapitel 3. Sie wird kurz und schmerzlos zu bewerkstelligen sein.

Um zu verhindern, dass zum einen ein bedenklicher Sonderfall sowie zum anderen das Corona-Extremereignis den Blick auf das Allgemeine, Regelmäßige verstellen, werden jedoch zuvor das Phänomen der zeitweiligen deutschen Haushaltüberschüsse sowie einige Aspekte der Coronakrise näher betrachtet, um beide sachgemäß einordnen zu können.

2TOM KREBS, Jenseits der schwarzen Null: Die Schuldenbremse, die wir brauchen, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, Nr. 10/19, S. 12.

3Das gewerkschaftsnahe Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) hat sogar erstmals zusammen mit seinem Pendant auf Arbeitgeberseite, dem Institut der Deutschen Wirtschaft (IW) ein gemeinsames »Policy- Paper« verfasst. Das Papier trägt den Namen »Für eine solide Finanzpolitik: Investitionen ermöglichen!«, und plädiert, anders als der Titel vermuten lässt, engagiert für die Aufgabe von Schuldenbremse und Schwarzer Null zugunsten erhöhter Neuverschuldung.

Von der Friedrich-Ebert-Stiftung, die der SPD nahesteht, wurde dieses politische Statement noch unmittelbar vor Ausbruch der Corona-Epidemie mit einem Sonderpreis der Hans-Matthöfer-Stiftung für Wirtschaftspublizistik 2020 ausgezeichnet.

4In: Der Tagesspiegel vom 17.12.2019, S. 15.

5JOSEPH STIGLITZ, Europa spart sich kaputt – Warum die Krisenpolitik gescheitert ist und der Euro einen Neustart braucht, München 2016, S. 93.