Wie ein Traum aus der Nacht

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Vivian las den Artikel zweimal hintereinander durch, um sich zu vergewissern, daß sie ihn richtig verstanden hatte. Da sie sich allein im Abteil befand, holte sie mühsam einen der großen Koffer aus dem Gepäcknetz und öffnete ihn. Unter einer Lage Seidenpapier lag das Kleid, das sie im Casino getragen hatte. Als sie es ausbreitete, fand sie an der rechten Seite des Rockes, wonach sie gesucht hatte. Dort, wo sie mit dem Knie des Fremden in Berührung gekommen war, saß ein getrockneter Blutfleck.

Als sie ins Frühstückszimmer trat, sah ihr Vater, der bereits am Tisch saß, ihr mit liebevollen Blicken entgegen. Vivian schmiegte ihre Wange an die seine, dann ging sie zur Anrichte, wo auf einer elektrischen Platte ein paar Silberschüsseln warmgehalten wurden.

„Es tut mir leid, aber ich habe die Eier aufgegessen“, sagte er entschuldigend.

„Ich mag sowieso nichts essen“, erwiderte sie und schenkte sich eine Tasse Kaffee ein. Ihr Vater betrachtete sie mit besorgter Miene.

Professor Carrow war ein gesuchter Mineraloge und Kartograph, dessen Arbeit ihn in die interessantesten und ausgefallensten Gegenden der Welt geführt hatte. Während der letzten Jahre hatte er es abgelehnt, Reisen zu unternehmen, bei denen er Vivian nicht mitnehmen konnte. Kein noch so verlockendes Angebot hatte ihn umgestimmt.

Auf diese Weise hatte Vivian für ein junges Mädchen eine etwas ungewöhnliche Erziehung genossen, es dabei aber fertiggebracht, unter seltsamsten Umständen auf sich selbst aufzupassen. Auf einer Fahrt den Waikiki hinauf schlief sie auf einem Sandsack, kochte am Rande der Sahara ein genießbares Mahl und konnte sich in den ausgefallensten Sprachen zumindest verständlich machen.

Wenn sie dann nach Manor House zurückkehrten, genossen sie dort ein beschauliches Glück, bevor sie zu neuen Abenteuern aufbrachen.

Erst Jimmy Loring brachte Unruhe in ihre friedliche Welt. Die Essenszeiten wurden willkürlich geändert, das Gästezimmer renoviert und der Professor bei seinen Studien durch lautes Lachen und Reden gestört.

Als weiser Mann hatte er sich damit abgefunden und geschwiegen. Er machte auch keine Bemerkung darüber, als seine Tochter als veränderter Mensch zu ihm zurückkehrte, die das Lachen verlernt hatte und deren Augen vor ungeweinten Tränen brannten.

„Hast du heute etwas Besonderes vor?“ fragte er. „Wenn du etwas unternehmen möchtest, lasse ich einfach meine Arbeit liegen.“

Vivian schüttelte den Kopf.

„Vielen Dank, Daddy, aber ich werde mich in den Garten setzen und ein paar Näharbeiten erledigen.“

Mit einem kleinen Seufzer griff er nach der neben der Zeitung liegenden Post. Die ersten Umschläge enthielten nur Rechnungen, die er nach einem flüchtigen Blick an Vivian weitergab, weil ihr die Haushaltsführung oblag. Den dritten Brief las er zweimal, bevor er sich dazu äußerte.

„Das hier ist ziemlich wichtig“, stellte er fest, „und ich weiß nicht recht, was ich dazu sagen soll.“

„Um was handelt es sich denn?“ fragte Vivian und blickte von den Rechnungen hoch, die sie sorgfältig geprüft hatte.

„Ich soll in ein fremdes Land reisen“, erwiderte er.

„Wohin?“ erkundigte sie sich ziemlich gleichgültig.

Der Professor las den Brief noch einmal, bevor er antwortete.

„So rede doch, Daddy.“ Vivian wurde ungeduldig. „Müssen wir schon bald abfahren?“

„In diesem Fall kann keine Rede davon sein, daß du mich begleitest.“

„Dann werden wir beide zu Hause bleiben.“

„Das ist es ja eben“, sagte er. „Ich kann mich kaum weigern, weil ich angeblich damit England einen Dienst erweise. Man schickt morgen sogar extra jemand vom Kriegsministerium her.“ Nach einem Blick auf den Brief, rief er: „Du lieber Himmel, nein, er kommt ja schon heute. Ein gewisser Captain Alexander soll mir dem Brief zufolge alles Notwendige erklären können.“

„Steht gar nichts in dem Brief, in welches Land du fahren sollst?“ fragte Vivian, deren Interesse mehr und mehr erwachte.

„Nach Tibet“, erwiderte er.

„Nach Tibet?“ wiederholte sie erstaunt. „Ich habe bisher in dem Glauben gelebt, daß das Land allen Fremden verschlossen ist.“

„Das habe ich auch geglaubt, anscheinend müssen wir auf Captain Alexander warten, um etwas Näheres zu erfahren.“

Vivian erhob sich.

„Wird er zum Lunch hier sein?“ fragte sie.

„Ich denke schon, Liebes. Wenn das Wetter es zuläßt, dürfen wir ihn gegen Mittag erwarten.“

„Mußte er sich ausgerechnet an dem Tag ansagen, an dem wir Reste essen wollen?“ fragte Vivian. „Ich werde wohl mit Nanny beraten müssen, wie wir das Menu ändern können.“

Auf der Schwelle drehte sie sich noch einmal um und sagte mit klarer und fester Stimme. „Daddy, eines mußt du im Auge behalten. Ich begleite dich, ob du nun nach Tibet, Timbuktu oder sonst wohin fährst.“

Ihr Lächeln verwandelte sich wieder in die Vivian, die sie vor vierzehn Tagen gewesen war. Sie warf ihm noch eine Kußhand zu und zog die Tür hinter sich ins Schloß, bevor er auch nur den Mund aufmachen konnte.

Der Professor blieb ein paar Minuten gedankenverloren sitzen, dann ging er in sein Arbeitszimmer, holte einen Atlas hervor und studierte die ziemlich leere Karte des mysteriösen Landes im Norden Indiens. Anschließend entnahm er einer Schreibtischschublade einen Zeitungsausschnitt, der sensationell aufgemacht und entsprechend ungenau die Nachricht enthielt, daß der Dalai Lama, die Reinkarnation Buddhas und nomineller Herr über drei Millionen Untertanen, tot war.

Den ganzen Morgen über suchte der Professor in Büchern und Atlanten ohne großen Erfolg nach Informationen über dieses höchst erstaunliche Land, wußte aber am Ende kaum mehr als zu Beginn seiner Suche. Er unterbrach seine Tätigkeit erst, als er kurz vor Mittag Motorengeräusch hörte. Als er ans Fenster trat, wurde er Zeuge, wie ein Flugzeug auf einer Wiese nicht weit vom Haus entfernt landete.

Während er durch den Garten ging, gesellte sich Vivian zu ihm und faßte ihn am Arm. „Versprich mir eines, Daddy“, bat sie.

„Und was wäre das?“ fragte er liebevoll.

„Falls du dich entschließen solltest, dem Ruf des Vaterlandes zu folgen, äußere die Bitte, daß dich jemand zum Übertragen der Karten begleiten darf.“

„Wenn ich das auch jahrelang nicht mehr selbst erledigt habe, glaube ich doch, meine Fähigkeiten noch nicht ganz verlernt zu haben“, wandte er ein.

„Versprich es mir trotzdem, Daddy, das ist doch wohl nicht zu viel verlangt.“

Der Professor zögerte einen Augenblick.

„Na gut, ich verspreche es dir“, erwiderte er, kurz bevor der Pilot, der seinen Helm in der Hand trug, in Hörweite kam.

Der breitschultrige, dunkelhaarige Captain Alexander hatte ein interessantes Gesicht mit einer breiten Stirn und etwas tiefliegenden Augen. Er schüttelte zuerst dem Professor und dann Vivian die Hand.

„Es tut mir leid, daß ich so kurzfristig angekündigt wurde“, sagte er. „Mir ist sehr wohl bewußt, daß Sie den Brief meines Chefs erst heute morgen erhalten haben können. Hoffentlich habe ich nicht Ihre Pläne für den Tag durcheinandergebracht.“

„Wir führen hier ein sehr ruhiges Leben, so daß man uns meist zu Hause antrifft“, erwiderte der Professor.

„Andernfalls hätte ich eben auf Ihre Rückkehr gewartet“, erklärte der Captain.

Auf dem Weg zum Haus warf ihm Vivian einen neugierigen Seitenblick zu. Sie hatte das vage Gefühl, ihm schon einmal begegnet zu sein, konnte sich aber nicht erinnern bei welcher Gelegenheit. Ohne sie zu beachten, schenkte er seine ganze Aufmerksamkeit dem Professor, bis sie ein bißchen vorwurfsvoll sagte: „Ich habe einen Lunch für Sie vorbereiten lassen, Captain Alexander. Ich hoffe, daß Ihr Gespräch mit meinem Vater nicht mehr als eine Stunde in Anspruch nimmt.“

„Vielen Dank, aber das ist leider unmöglich, Miss Carrow“, erwiderte er. „Nach meiner Unterredung mit dem Professor muß ich sofort nach London zurückkehren.“

„Aber selbstverständlich bleiben Sie zum Lunch“, erklärte der Professor. „Irgendwo müssen Sie doch sowieso essen, warum dann nicht hier.“

„Leider wird das Essen heute wegen Zeitmangel ausfallen, es sei denn, Miss Carrow versorgt mich mit ein paar Sandwiches, die ich mit Dank annehmen würde.“

Sein Lächeln erregte Vivians Unwillen. Der junge Mann war ihr zu selbstsicher. Er wirkte auf sie, als ob er sich um die Gefühle anderer keinen Deut scherte. Sie war nicht nur ärgerlich, daß sie seinetwegen den Speiseplan geändert hatte, was sich inzwischen als unnötig herausgestellt hatte, sondern vor allem irritiert, weil sie ihn zu kennen glaubte, ohne ihn einordnen zu können.

„Wenn Ihnen das lieber ist, werde ich Ihnen selbstverständlich ein paar Sandwiches richten“, erwiderte sie ruhig.

Ohne seine Dankesworte abzuwarten, ging sie in die Küche, wo sie in aller Eile Nanny die entsprechenden Anweisungen erteilte. Nachdem das erledigt war, stahl sie sich auf Zehenspitzen durch die Halle hinaus in den Garten.

Durch das offene Fenster der Bibliothek erklangen Stimmen. Sie schlich sich näher heran, legte sich ein Kissen zurecht und setzte sich unmittelbar unter das Fenster mit dem Rücken zur Hauswand. Ihr Kopf befand sich so auf gleicher Höhe mit den altmodischen, bleigefaßten Fenstern.

„Wir haben nicht vergessen, daß Sie für uns in Afrika und nach der Revolution in China großartige Arbeit erledigt haben“, erklärte Captain Alexander.

„Das ist lange her“, meinte der Professor.

„Mag sein, trotzdem würden Sie sich wundern, wie wenig Änderungen auf ihren Karten angebracht werden mußten. Hier und da ist eine Stadt aufgegeben worden, oder ein Flußlauf hat sich geändert, aber im Großen und Ganzen ist alles geblieben wie es war. Ihre Arbeit macht Ihnen keiner nach. Deshalb kennen wir auch niemand, der besser dazu befähigt wäre, uns eine Karte von Tibet zu verfertigen, geschweige denn die Kenntnisse in Mineralogie besitzt, die in diesem Fall so ungeheuer wichtig sind.“

 

„Vielleicht fangen Sie besser von vorn an, damit ich im Bilde bin, was Sie von mir wollen“, sagte der Professor freundlich.

Vivian hatte bereits nach den ersten belauschten Worten nur mit Mühe einen Ausruf unterdrückt. Es genügte, Captain Alexanders Stimme zu hören, um zu wissen, warum er ihr so seltsam vertraut vorgekommen war. Er war der Mann, der ihr in jener Nacht im Sommerhaus Lady Daltons in Monte Carlo begegnet war.

„Wir müssen bis zum Anfang dieses Jahrhunderts zurückgehen“, sagte Captain Alexander. „Damals spielten sowohl Rußland wie England mit dem Gedanken, sich Tibet wegen seiner ungenutzten Bodenschätze unter den Nagel zu reißen. Vielleicht erinnern Sie sich daran, daß ein Russe namens Dorgieff dem Dalai Lama einzureden vermochte, daß der Zar und das russische Weltreich sich bereitwillig unter die geistige Oberherrschaft von Lhasa begeben würden.“

„Was eine Lüge war“, warf der Professor ein.

„Aber als Folge dieser Lüge schickte der Dalai Lama die Briefe des Vizekönigs von Indien ungeöffnet zurück. Das war natürlich dazu angetan, die Briten in Alarmzustand zu versetzen. Sie schickten eine Expedition nach Lhasa, die bei ihrem Eintreffen dort feststellte, daß der Dalai Lama in die Mongolei geflohen war. Schließlich kamen England und Rußland in einem Vertrag überein, sich nicht in die inneren Angelegenheiten Tibets einzumischen, wobei man uns zugestand, Handelsmissionen einzurichten, eine davon in Gyangtse, ungefähr einhundertfünfzig Meilen im Inneren des Landes.“

„Davon habe ich gehört“, bemerkte der Professor.

„Nach Abschluß der Verträge fiel Tibet in den Status des unzivilisierten und isolierten Landes zurück, aus dem es sich nie ganz gelöst hatte“, fuhr Captain Alexander fort. „Der Fortschritt der letzten dreißig Jahre ist an Tibet unbemerkt vorübergegangen, zumal seine Grenzen allen Ausländern hermetisch verschlossen sind. Es ist schon eine merkwürdige Sache, daß es so etwas heutzutage noch gibt. Wir können nach Australien fliegen, in Indien landen, mit Los Angeles oder Kapstadt telefonieren, wir besitzen aber nicht einmal eine authentische Karte dieses innerasiatischen Landes. Dabei gibt es noch eine schwerwiegendere Seite dieser Angelegenheit als die Tatsache, daß fünf Millionen Menschen ohne die leiseste Ahnung von moderner Zivilisation aufwachsen.“

Da Captain Alexander eine Pause machte, hörte Vivian, daß sich ihr Vater in seinem Sessel bewegte.

„Sprechen Sie weiter“, bat er. „Das alles interessiert mich brennend.“

„Wie Sie aus den Zeitungen wissen, ist der Dalai Lama tot. Die Lamas suchen nach seinem Nachfolger, den sie in diesem oder dem nächsten Jahr finden sollten. Das ist keine leichte Aufgabe, weil das Kind die seltsamsten körperlichen Merkmale aufweisen muß. Für die Klöster, denen ein Großteil des Landes gehört, ist es von immensem politischen Vorteil, ihn innerhalb ihrer Mauern zu finden. Sie schrecken bei ihrer Suche nicht vor Tod und Zerstörung zurück.

„Es ist eine bekannte Tatsache, daß nur wenige Dalai Lamas ihre Volljährigkeit erlangen, weil sie kaum je das Alter von siebzehn Jahren überleben. Gewaltsame Tode sind in Tibet an der Tagesordnung, man kennt dort Gifte, von denen man in Europa keine Ahnung hat. Früher pflegten die Tibetaner mit vergifteten Pfeilen zu kämpfen, heute benutzen sie dazu Feuerwaffen, die den unseren bis ins kleinste Detail nachgearbeitet sind, nicht einmal der Name der Hersteller wird vergessen. Aber ich will zur Sache kommen“, fuhr Captain Alexander fort. „Dem letzten Dalai Lama war die Entwicklung seines Landes völlig gleichgültig. Er tat daher auch nichts, um die riesigen Bodenschätze zu heben, die nur einen ungenutzten Reichtum des Landes bedeuten. Wenn man bedenkt, daß die Bauern dort um ihr nacktes Leben kämpfen müssen, klingt das Ganze wie ein Märchen.

Der Dalai Lama wachte aber eifersüchtig darüber, daß die religiösen Gesetze eingehalten wurden und schloß daher die Grenzen gegen die seiner Meinung nach materielle Außenwelt. Erst nach seinem Tod, also vor zwei Jahren, begannen die Klöster, deren Mönche sich zwar Buddhisten nennen, aber nichts gegen Mord und Totschlag einzuwenden haben, sich aufzulehnen, weil die natürlichen Reichtümer des Landes ihnen nicht zugutekamen.“

„Das ist kaum überraschend“, warf der Professor ein.

„Rußland liebäugelte von jeher mit Tibet, weil niemand besser über die Bodenschätze Bescheid weiß und die Tibetanische Grenze nach Rußland leicht zu öffnen wäre. Und jetzt ist uns zu Ohren gekommen, daß zwischen dem russischen Syndikat und einem der größten Klöster geheime Verhandlungen im Gange sind.

Natürlich wissen wir nichts Bestimmtes, da es uns nicht gelungen ist, einen Agentenring aufzuziehen. Uns sind die Hände gebunden, weil wir praktisch nicht einmal eine Karte des Landes besitzen.

Niemand weiß zum Beispiel genau, wo die Goldminen liegen, in denen es angeblich genügend Gold geben soll, um die ganze Welt damit zu überschwemmen und seinen Preis für immer zu ruinieren. Ob das den Tatsachen entspricht oder nicht, vermag ich nicht zu sagen. Eines ist sicher. England kann nicht tatenlos zusehen, daß der Frieden in Tibet gestört wird. Und aus diesem Grund wenden wir uns an Sie, Professor.“

„Ich denke, es kommt niemand in das Land hinein“, erwiderte dieser.

„Darin liegt tatsächlich die Hauptschwierigkeit. Aber wie ich schon sagte, unterhalten wir in Gyangtse eine Handelsmission. Von dort aus ist es nicht weit zu dem Kloster, von dem im Augenblick die Hauptgefahr ausgeht. Gyangtse liegt außerdem inmitten der Provinz, in der die Goldminen liegen sollen.

Unsere Vorstellungen lauten folgendermaßen: Wir verschaffen Ihnen einen Paß, weil Sie Mr. Andrews, den britischen Handelsagenten besuchen wollen. Von der Grenze aus benutzen Sie die übliche Handelsstraße bis nach Gyangtse. Wenn Sie erst dort sind, liegt es in Ihrem Ermessen, wie Sie vorgehen wollen. Natürlich ist Ihre Aufgabe nicht leicht, aber wir haben dort Leute, die Ihnen auf jede nur mögliche Art behilflich sein werden.“

„Wann müßte ich denn aufbrechen?“ fragte der Professor.

„Sofort“, erwiderte der Captain. „Der September ist der günstigste Monat, um den Sikkim Paß zu überqueren. Außerdem dürfen wir keine Zeit verlieren, weil wir jetzt die Intrige vielleicht noch im Keim ersticken können.

Und um das zu erreichen, sind Sie unsere einzige Hoffnung, Professor. Niemand außer Ihnen ist dieser Aufgabe gewachsen.“

Eine lange Pause entstand, in der Vivian unter ihrem Fenster die Spannung zwischen den beiden Männern beinahe knistern hören konnte.

„Sie sind vermutlich nicht bereit, mir Bedenkzeit zu gewähren“, sagte der Professor schließlich.

„Das ist leider unmöglich“, erwiderte Captain Alexander. „Es dauert seine Zeit, um Ihren Paß zu beschaffen, zumal wir, wie Sie sich denken können, kein Aufsehen erregen wollen, indem wir die Dinge gewaltsam vorantreiben. Je unwichtiger Ihre Reise erscheint, desto besser.

Ich würde vorschlagen, Ihr großes Gepäck mit der Corinthia zu schicken, die am Montag nach Calcutta ausläuft. Sie selbst sollten fliegen, um jedes Aufsehen zu vermeiden, das vielleicht entstehen könnte, wenn die Zeitungen Wind davon bekommen, daß Sie England in Richtung Indien verlassen. Um die Tibetanische Grenze zu erreichen, müssen Sie das halb unabhängige Sikkim durchqueren, wo es natürlich Spione gibt, die alles Ungewöhnliche sofort nach Lhasa berichten.“

Der Professor erhob sich seufzend.

„In Ordnung, ich überlasse alle Vorbereitungen Ihnen.“

„Ich weiß nicht, wie ich Ihnen danken soll“, sagte der junge Mann. „Und jetzt werde ich mich mit meiner guten Nachricht auf der Stelle nach London begeben.“

„Ich möchte übrigens einen Assistenten mitnehmen“, unterbrach ihn der Professor, als ob ihm das jetzt erst eingefallen wäre. „Meine Augen sind nicht mehr die besten, das Zeichnen von Karten bereitet mir zu große Mühe.“

„Ich fürchte ...“ begann Captain Alexander.

„Ohne Assistenten kann ich Ihnen leider nicht helfen“, fiel ihm der Professor ins Wort.

Captain Alexander seufzte.

„Wenn Sie darauf bestehen, Sir“, sagte er schließlich. „Ich kann mich doch wohl darauf verlassen, daß Sie zu diesem Zweck eine absolut vertrauenswürdige Person auswählen. Ein Wort in falsche Ohren, und wir können unsere Hoffnungen begraben.“

„Das ist doch selbstverständlich“, erklärte der Professor. „Und jetzt werde ich Ihnen einen Drink holen und nachsehen, ob die versprochenen Sandwiches fertig sind.“

Vivian hörte die Tür der Bibliothek auf- und zugehen. Sie wollte sich gerade von ihrem Lauscherposten entfernen, als über ihr eine Stimme erklang.

„Pflegen Sie immer die Gespräche Ihres Vaters zu belauschen, Miss Carrow?“

Als sie hochblickte, sah sie Captain Alexander auf dem Fensterbrett sitzen. Im ersten Augenblick fiel ihr keine passende Antwort ein, dann hob sie trotzig das Kinn.

„Es erspart ihm die Mühe, mich anschließend zu informieren“, erwiderte sie.

„Wäre es dann nicht ehrlicher gewesen, vor Beginn der Unterredung zu bitten, daran teilnehmen zu dürfen?“ gab er zurück. „Es fehlte nicht viel, und ich hätte sie hereingebeten, als ich Sie unter dem Fenster hörte. Sie würden keine gute Spionin abgeben, Miss Carrow.“

Vivian errötete vor Ärger.

„Ich habe auch nicht den Ehrgeiz, jemals so tief zu sinken“, fuhr sie ihn an. „Ist es Ihnen nicht gelegentlich auch zu anstrengend?“

Captain Alexander hob belustigt die Augenbrauen.

„Es tut mir übrigens leid, daß Sie meine Blumen nicht bekommen haben“, sagte er ruhig.

Vivian wurde jäh aus ihren Überlegungen gerissen, ob sie ihn wissen lassen sollte, daß sie ihn erkannt hatte oder nicht. Sie hatte zwar die Karte mit den zwei Worten von ihrer Tante zugeschickt bekommen, war aber so sehr mit ihrem Kummer beschäftigt gewesen, um ihr mehr als einen flüchtigen Gedanken zu widmen und hatte sie daher in den Papierkorb geworfen.

„Sie waren also von Ihnen“, stellte sie fest, „ich hätte es mir denken sollen.“

„Natürlich waren sie von mir“, erwiderte er lächelnd. „Ich pflege stets meiner Dankbarkeit Ausdruck zu verleihen, wenn die Leute tun, was ich von Ihnen verlange.“

„Tun sie das sehr oft?“ wollte sie wissen.

„Eigentlich immer.“

„Dann kann ich nur hoffen, daß Sie eines Tages eine Enttäuschung erleben“, sagte sie. „Früher oder später steht nämlich jeder einmal vor den Scherben eines sorgfältig ausgedachten Planes.“

„Es tut mir leid, daß Ihre Wünsche nicht freundlicher sind, zumal ich im Augenblick äußerst zufrieden mit mir bin.“

„Weil Sie glauben, meinen Vater soweit gebracht zu haben, zu tun, was Sie wollen? Da haben Sie sich allerdings geirrt. Das ist nicht Ihr Verdienst. Er glaubt, seinem Vaterland einen Dienst zu erweisen, das ist alles!“

Da in diesem Augenblick die Tür der Bibliothek aufging, sprang er auf und verschwand im Zimmer.

„Vielen Dank, Sir, das ist sehr liebenswürdig von Ihnen“, hörte Vivian ihn sagen.

Sie benutzte die Gelegenheit, um sich ins Haus zu stehlen und ging hinauf in ihr Zimmer, bis das Motorengebrumm des Flugzeugs ihr anzeigte, daß Captain Alexander ihre friedliche Welt verlassen hatte.

Zum ersten Mal, seit sie aus Monte Carlo zurückgekommen war, lächelte sie beinahe glücklich und eilte in die Bibliothek, in der ihr Vater gedankenverloren in seinem Lieblingssessel saß und an seiner Pfeife zog. Die Tochter legte ihm die Arme um den Hals und hauchte einen Kuß auf die kahle Stelle auf seinem Kopf.

„Wir müssen sofort anfangen, Pläne zu machen“, rief sie fröhlich.

„Sei nicht töricht, Vivian“, erwiderte ihr Vater. „Es ist völlig unmöglich, daß du mich begleitest.“

„Ich werde dich auch nicht von Anfang an begleiten, weil ich mich am Montag zusammen mit deinem großen Gepäck auf der Corinthia einschiffe, während du das Flugzeug benutzen wirst. In Darjeeling, wo ich offiziell deinen schrecklich langweiligen Vetter besuche, treffen wir uns dann wieder. Ich habe mir das schon genau zurechtgelegt.“

„Trotzdem ist es unmöglich“, wiederholte er mit fester Stimme.

Vivian trat vor das Fenster und sah hinaus in den Garten.

„Daddy“, begann sie nach ein paar Sekunden ruhig. „Hast du dir eigentlich keine Gedanken gemacht, warum ich so überstürzt aus Monte Carlo zurückgekommen bin?“

 

„Ich hoffte, du würdest mir den Grund zu gegebener Zeit mitteilen.“

„Jimmy Loring hat die Absicht, Marjorie Stubbs zu heiraten“, erwiderte sie mit brechender Stimme. Sie wandte sich dann jedoch um, um ihrem Vater direkt ins Gesicht zu sehen. „Verstehst du denn nicht, Daddy, daß ich nicht in England sein möchte, wenn sie zurückkommen? Ich könnte es nicht ertragen, in den Zeitungen von ihrer Hochzeit zu lesen und Bilder zu sehen ...“

Mit Tränen in den Augen fiel sie neben seinem Sessel auf die Knie und barg ihr Gesicht an seiner Schulter.

„Daddy, lieber Daddy, versteh mich doch“, bat sie gequält.

Ohne zu antworten hielt er sie in seinen Armen. Vivian wußte, daß er sie trotz aller eventuellen Schwierigkeiten nach Tibet mitnehmen würde.

Die Passagiere strömten über die Gangway auf das Schiff, auf dem sie von weißgekleideten Stewards empfangen wurden. Offiziere in goldbetreßten Uniformen hielten Ausschau nach wichtigen Persönlichkeiten, um sie an Bord willkommen zu heißen.

Vivian hatte sich von ihrem Vater in ihre Kabine bringen lassen und begleitete ihn jetzt wieder an Deck. Das Herz war ihr schwer, wenn sie an die vor ihr liegende dreiwöchige Seereise ohne einen Menschen, den sie kannte, dachte.

„Wenn du doch nur mitkommen könntest“, sagte sie. „Es dauert ja eine kleine Ewigkeit, bis wir uns wiedersehen und zu unserem Abenteuer aufbrechen können.“

„Sprich nicht so laut“, mahnte er. „Ich darf gar nicht darüber nachdenken. Unser Komplott bereitet mir ziemlich Gewissensbisse.“

„Mach dir keine Sorgen, es wird schon alles gutgehen.“

„Wenn ich annehmen müßte, daß uns ernsthafte Gefahren drohen, würde ich dich in letzter Sekunde wieder nach Hause schicken.“

Sie traten zur Seite, um einen höheren Offizier vorbeizulassen, der eine Gruppe Inder mit Turbanen begleitete.

„Wer mögen die wohl sein?“ fragte Vivian.

Sie hatte kaum ausgesprochen, als sich ein junger Mann von Mitte zwanzig in europäischer Kleidung aus der Gruppe löste.

„Professor Carrow“, rief er erfreut. „Ich hatte ja keine Ahnung, daß mir auf diesem Schiff das Vergnügen Ihrer Anwesenheit zuteilwird.“

„Leider nicht“, erwiderte der Professor und schüttelte ihm die Hand. „Ich freue mich, Sie wiederzusehen. Wie geht es Ihrem Vater?“

„Er bereitet sich auf sein nächstes Jahr stattfindendes Regierungsjubiläum vor. Die Staatsjuwelen werden bereits poliert und die Elefanten geschmückt.“

„Sie kennen meine Tochter noch nicht“, sagte der Professor. „Vivian, das ist Prinz Kowa. Vielleicht erinnerst du dich daran, daß ich vor einigen Jahren Gast seines Vaters, des Khans von Bhulustra, war.“

„Ihr Vater hat uns unschätzbare Dienste geleistet“, erklärte der Prinz. „Dank seinen Untersuchungen werden bei uns jetzt Saphire gefunden, die dem Staatsschatz von Bhulustra äußerst zuträglich sind.“

„Erzählen Sie mir von sich, lieber Junge“, mischte sich der Professor ein. „Was hat Sie nach England verschlagen?“

„Dieses Jahr ist es mir endlich gelungen, meinen Vater zu überreden, mir einen Besuch Ihres Landes zu gestatten. Ich habe den Besuch von Herzen genossen“, erwiderte der junge Mann.

„Sie haben Ihr Englisch ungeheuer vervollkommt“, stellte der Professor fest.

„Das habe ich meinem schottischen Lehrer zu verdanken, der immer noch bei uns ist und jetzt meinen jüngeren Bruder unterrichtet. Wenn ich Sie richtig verstanden habe, reisen Sie nicht auf diesem Schiff?“

„Leider nein, nur meine Tochter fährt nach Calcutta.“

„Dann hoffe ich auf das Vergnügen, Sie später noch zu sehen.“

Er verbeugte sich, sah Vivian mit seinen dunklen Augen an, schüttelte dem Professor noch einmal herzlich die Hand und begab sich zu seinem wartenden Gefolge zurück.

„Prinz Kowas Vater ist ein unglaublich rückständiger Mann“, erzählte der Professor. „An seinem Land, das an der Grenze Afghanistans liegt, ist der Fortschritt vorübergegangen, weil seine Vorurteile europäischer Zivilisation gegenüber unüberwindlich sind. Seine Kinder haben sich allerdings mit dieser Einstellung nicht abgefunden. Der älteste, verheiratete Sohn verbringt mehrere Monate des Jahres in Paris und Kowa, den du gerade kennengelernt hast, ist ein wilder Bursche, der sich ständig gegen ihn auflehnte und daher so gut wie immer in Ungnade lebte. Trotzdem überrascht es mich nicht sonderlich, daß er schließlich doch noch erreichte, was er wollte. Der Khan ist ein alter Mann und zu sehr von seinen Regierungsgeschäften in Anspruch genommen, um sich viel um seine Sprößlinge kümmern zu können.“

„Ist er ein guter Regent?“

„Das kann man eigentlich nicht sagen. Ich für meine Person hatte in Bhulustra immer das Gefühl, hinter dem Mond zu leben. Wenn ich mich recht erinnere, habe ich dir damals davon erzählt.“

„Ich weiß nur noch, wie wütend ich war, daß ich dich nicht begleiten durfte.“

„Alle Nichtpassagiere von Bord“, riefen die Stewards und trieben die Menge langsam der Gangway zu.

„Auf Wiedersehen, Liebling“, sagte der Professor und nahm seine Tochter ein letztes Mal in den Arm. „Gib auf dich acht, mein Kind, und Gott schütze dich.“

Vivian klammerte sich einen Augenblick an ihn und ließ ihn dann nur widerstrebend los. Als er gegangen war, fühlte sie sich plötzlich sehr verloren und allein.

„Auf Wiedersehen“, rief sie, doch ihre Worte gingen im Krach unter, da gerade die Gangway auf den Kai gesenkt wurde.

Als das Schiff sich in Bewegung setzte, winkte Vivian nur kurz, dann trat sie von der Reling zurück und ging in ihre Kabine.

Vater und Tochter hatten die kommenden Wochen bis in alle Einzelheiten geplant. Nachdem der Professor erst eingewilligt hatte, Vivian mitzunehmen, nahm er regen Anteil an ihrem Komplott, damit kein falscher Schritt ihre Bemühungen zunichtemachte.

Vivian sollte in Calcutta an Land gehen und von dort mit dem Zug nach Darjeeling reisen. Dort würde der Professor, der mit dem Flugzeug reiste, sie treffen und die Pässe mitbringen, mit deren Hilfe sie Sikkim durchqueren konnten. In Darjeeling würden sie auch die Genehmigung der tibetanischen Behörden erhalten, Gyangtse zu besuchen.

Captain Alexander hatte in London keine Zeit verloren. Sein Chef rief noch am gleichen Abend an, um den Professor zu einem baldigen Besuch in London aufzufordern. Bei dieser Gelegenheit teilte ihm dieser mit, daß seine Tochter sowieso einen Besuch in Indien vorgehabt hatte und ohne Schwierigkeiten am Montag abreisen konnte. Sie würde sich um sein großes Gepäck kümmern und dafür sorgen, daß er es bei seiner Ankunft vorfände.

„Er hielt das für eine großartige Idee“, erklärte der Professor nach seiner Rückkehr. „Je weniger Gepäck ich durch den Zoll nehme, desto besser, während du Kompaß, Sextanten und Kameras mitnehmen kannst, ohne unnötiges Aufsehen zu erregen.“

„Sie sind also gern bereit, von mir Gebrauch zu machen“, rief Vivian vergnügt. „Dann dürfen sie sich auch nicht wundern, wenn wir den Spieß umdrehen.“

„Ich werde wegen dieser Sache sicherlich einige Schwierigkeiten bekommen, aber das ist es mir wert, wenn ich dich nur wieder lächeln sehe.“

Vivian errötete und konnte seinem Blick nur mühsam begegnen.

„Sobald ich England im Rücken habe, wird die Vergangenheit tot und vergessen sein“, versprach sie.

Aber das war leichter gesagt als getan. Nach dem Dinner hüllte sie sich in einen warmen Mantel und ging an Deck. Aus den strahlend erleuchteten Gesellschaftsräumen erklang Musik und die Stimmen und das Lachen der Tanzenden, während durch die offenen Bullaugen das Klirren von Gläsern und das Schütteln des Cocktailmixers zu hören war. Plötzlich spürte sie eine unendliche Sehnsucht nach Jimmy. Sie hob das Gesicht gen Himmel, schloß die Augen und lauschte auf das gleichmäßige Schlagen der Wellen an die Schiffswand.

Sie wurde jäh aus ihren Träumen gerissen, als eine kultivierte und liebenswürdige Stimme mit leisem, fremdartigen Akzent fragte.

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