Loe raamatut: «Europarecht», lehekülg 6

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c) Grenzüberschreitender Sachverhalt

99

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit setzt weiterhin, wie alle Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren), das Vorliegen eines grenzüberschreitenden Sachverhaltes voraus. Anders als in Art. 49 AEUV für die Niederlassungsfreiheit und Art. 56 AEUV für die Dienstleistungsfreiheit ist dieses Erfordernis zwar für die Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht ausdrücklich im AEUV normiert. Es ist dennoch anerkannt, dass rein interne Sachverhalte, bei denen sich ein Arbeitnehmer gegen Behinderungen durch seinen Heimatstaat ohne Bezug zu einer Tätigkeit in einem anderen Mitgliedstaat wendet, nicht dem Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit unterfallen (EuGH, Urt. v. 28.3.1979, 175/78 – Saunders –, Rn. 11; Urt. v. 28.6.1984, 180/83 – Moser –, Rn. 15).

100

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit kommt somit typischerweise zur Anwendung, wenn ein Staatsangehöriger eines Mitgliedstaates eine Beschäftigung in einem anderen Mitgliedstaat ausübt bzw. sich zur Arbeitssuche in einen anderen Mitgliedstaat begibt (sog. Wanderarbeitnehmer). Sie ist aber ebenfalls einschlägig bei Arbeitnehmern, die in einem Mitgliedstaat einer Berufstätigkeit nachgehen, in diesem Staat aber nicht ihren Hauptwohnsitz haben (sog. Grenzgänger). Dies gilt unabhängig von dem konkreten Wohnort und der Staatsangehörigkeit des Arbeitnehmers (EuGH, Urt. v. 18.7.2007, C-212/05 – Hartmann –, Rn. 17; Urt. v. 13.12.2012, C-379/11 – Caves Krier –, Rn. 25).

3. Keine Bereichsausnahme, Art. 45 Abs. 4 AEUV

101

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet nach dem Wortlaut des Art. 45 Abs. 4 AEUV keine Anwendung auf Beschäftigungsverhältnisse in der öffentlichen Verwaltung. Die Bereichsausnahme soll sicherstellen, dass die Mitgliedstaaten solche Stellen den eigenen Staatsangehörigen vorbehalten können, „die ein Verhältnis besonderer Verbundenheit des jeweiligen Stelleninhabers zum Staat sowie die Gegenseitigkeit der Rechte und Pflichten voraussetzen, die dem Staatsangehörigkeitsband zugrunde liegen“ (EuGH, Urt. v. 26.4.2007, C-392/05 – Alevizos –, Rn. 70).

102

Aufgrund des Sinnes der Bereichsausnahme wird der Begriff der öffentlichen Verwaltung vom EuGH eng ausgelegt, um den Anwendungsbereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit nicht über das nach dem Gesetzeszweck erforderliche Maß hinaus einzuschränken. Entscheidend ist nicht die institutionelle Zugehörigkeit der Stelle zur öffentlichen Verwaltung, sondern welche konkreten Tätigkeiten von dem Amtsinhaber ausgeübt werden. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet daher grundsätzlich auf die Beschäftigung in der öffentlichen Verwaltung Anwendung, es sei denn, die Tätigkeiten des Amtsträgers beinhalten eine unmittelbare oder mittelbare Teilnahme an der Ausübung hoheitlicher Befugnisse und an der Wahrnehmung solcher Aufgaben, die auf die Wahrung der allgemeinen Belange des Staates und anderer öffentlicher Körperschaften gerichtet sind und die zugleich eine besondere Verbundenheit des Stelleninhabers zum Staat erfordern (EuGH, Urt. v. 26.4.2007, C-392/05 – Alevizos –, Rn. 69 f.; Urt. v. 10.9.2014, C-270/13 – Haralambidis –, Rn. 43 ff.). Die hoheitlichen Befugnisse müssen von den Stelleninhabern zudem tatsächlich regelmäßig ausgeübt werden und dürfen nicht nur einen geringen Teil ihrer Tätigkeiten ausmachen (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, C-47/02 – Anker –, Rn. 63; Urt. v. 10.9.2014, C-270/13 – Haralambidis –, Rn. 58). Allein die Tatsache, dass mit der Beschäftigung die Berufung in ein Beamtenverhältnis einhergeht, kann somit den Vorbehalt zugunsten eigener Staatsangehöriger nicht begründen (EuGH, Urt. v. 3.7.1986, 66/85 – Lawrie-Blum –, Rn. 26).

103

Allgemein kommt die Bereichsausnahme für die Streitkräfte, Polizei und sonstige Ordnungskräfte, die Rechtspflege, die Steuerverwaltung, den Diplomatischen Dienst sowie Stellen in staatlichen Ministerien, die mit der Ausarbeitung von Rechtsakten, ihrer Durchführung und mit Aufsichtsfunktionen betraut sind, in Betracht.

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii) › IV. Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit

IV. Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit

104

Eine Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit liegt vor, wenn durch die Maßnahme eines Verpflichtungsadressaten der Gewährleistungsinhalt der Arbeitnehmerfreizügigkeit eingeschränkt wird. Wie bei allen Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren) können sich Beeinträchtigungen zum einen aus unmittelbar oder mittelbar diskriminierenden Maßnahmen ergeben (Gleichheitsrecht) und zum anderen aus beschränkenden Maßnahmen (Freiheitsrecht).

1. Diskriminierungsverbot

105

Aufgrund des Diskriminierungsverbotes aus Art. 45 Abs. 2 AEUV stellen zunächst unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfende unterschiedliche Behandlungen von inländischen Arbeitnehmern und Arbeitnehmern aus anderen Mitgliedstaaten eine Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit dar. Beispiele sind die unterschiedliche steuerliche Behandlung von inländischen und ausländischen Arbeitnehmern oder die Zahlung einer geringeren Vergütung an Staatsangehörige aus anderen Mitgliedstaaten (EuGH, Urt. v. 14.2.1995, C-279/93 – Schumacker –, Rn. 47).

106

Neben den unmittelbar an die Staatsangehörigkeit anknüpfenden Maßnahmen sind auch mittelbare Formen der Diskriminierung als Beeinträchtigungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit anzusehen, die durch die Anwendung anderer Unterscheidungsmerkmale tatsächlich zu dem gleichen Ergebnis führen wie unmittelbar diskriminierende Maßnahmen (EuGH, Urt. v. 12.2.1974, 152/73 – Sotgiu –, Rn. 11; Urt. v. 2.3.2017, C-496/15 – Eschenbrenner –, Rn. 35). Als Fallgruppen mittelbarer Diskriminierungen im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit kommen in Betracht: Die Forderung nach einem Wohnsitz in dem Beschäftigungsstaat (EuGH, Urt. v. 7.5.1998, C-350/96 – Clean Car Autoservice –, Rn. 30), Spracherfordernisse (EuGH, Urt. v. 6.6.2000, C-281/98 – Angonese –, Rn. 45), die Nichtberücksichtigung von Beschäftigungszeiten im Ausland bei der Bemessung einer Dienstalterszulage (EuGH, Urt. v. 30.9.2003, C-224/01 – Köbler –, Rn. 109) oder die generelle Befristung von solchen Arbeitsverhältnissen, die im Wesentlichen von Staatsangehörigen anderer Mitgliedstaaten ausgeübt werden (EuGH, Urt. v. 2.8.1993, C-259/91 – Allue –, Rn. 21).

2. Beschränkungsverbot

107

Nach ständiger Rechtsprechung des EuGH ist anerkannt, dass über den Wortlaut des Art. 45 Abs. 2 AEUV hinaus auch unterschiedslos auf inländische und ausländische Arbeitnehmer Anwendung findende Regelungen und Maßnahmen eine Beeinträchtigung der Freizügigkeit der Arbeitnehmer darstellen, wenn sie geeignet sind, einen Staatsangehörigen eines Mitgliedstaats daran zu hindern oder davon abzuhalten, von den Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit Gebrauch zu machen (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 96). Nach der Auffassung des EuGH verfolgt die in Art. 45 AEUV garantierte Arbeitnehmerfreizügigkeit das Ziel, den Unionsbürgern die Ausübung beruflicher Tätigkeiten aller Art im Gebiet der Union zu erleichtern. Ihr sei daher ein Beschränkungsverbot für sämtliche Maßnahmen zu entnehmen, die ihre Ausübung durch einen Unionsbürger behindern oder weniger attraktiv machen können. Die Beeinträchtigung kann sowohl vom Herkunftsstaat des Arbeitnehmers als auch vom Aufnahmemitgliedstaat ausgehen (EuGH, Urt. v. 28.2.2013, C-544/11 – Petersen –, Rn. 36).

108

Eine Beeinträchtigung in diesem Sinne liegt etwa vor, wenn ein Mitgliedstaat den in seinem Staatsgebiet wohnhaften Steuerpflichtigen eine Befreiung von der Einkommensteuer nur gewährt, wenn sie von einem dort ansässigen Arbeitgeber beschäftigt werden, nicht aber, wenn sie von einem Arbeitgeber mit Sitz in einem anderen Mitgliedstaat beschäftigt werden (EuGH, Urt. v. 28.2.2013, C-544/11 – Petersen –, Rn. 46). In der Bosman-Entscheidung hat der EuGH zudem in Bezug auf Fußballprofis eine übermäßige Behinderung des grenzüberschreitenden Vereinswechsels in der Forderung von Ablösesummen gesehen, die nach Vertragsende von dem neuen Verein an den alten Verein des Spielers gezahlt werden mussten, selbst wenn diese Ablösesumme auch bei Spielerwechseln zwischen Vereinen aus einem Mitgliedstaat anfiel (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 100; Urt. v. 16.3.2010, C-325/08 – Olympique Lyonnais –, Rn. 35).

109

Die Grenzen des Beschränkungsverbotes sind nicht abschließend geklärt. In der Bosman-Entscheidung hat der EuGH unter Bezugnahme auf die zur Warenverkehrsfreiheit ergangene Rechtsprechung in der Rs. Keck jedenfalls solche Maßnahmen als Beschränkungen bezeichnet, die spezifisch den Zugang des Arbeitnehmers zum Arbeitsmarkt behindern (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 102 f.; Urt. v. 24.11.1993, C-267/91 – Keck –, Rn. 17). In der Rs. Graf hat der EuGH weiterhin entschieden, dass eine Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit durch eine unterschiedslos wirkende Maßnahme nur bestehe, wenn diese den Zugang der Arbeitnehmer zum Markt beeinflusse (EuGH, Urt. v. 27.1.2000, C-190/98 – Graf –, Rn. 23). Zu ungewiss und zu indirekt wirkende Ereignisse seien insoweit nicht geeignet, den Arbeitnehmer daran zu hindern oder davon abzuhalten, sein Arbeitsverhältnis von sich aus zu beenden, um eine unselbständige Tätigkeit bei einem anderen Arbeitgeber auszuüben (EuGH, Urt. v. 27.1.2000, C-190/98 – Graf –, Rn. 24 f.). Ob und ggf. in welchem Umfang in Übertragung der Grundsätze der Keck-Rechtsprechung zur fehlenden Beeinträchtigung der Warenverkehrsfreiheit durch Verkaufsmodalitäten bloße Berufsausübungsregeln nicht als Behinderungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit zu qualifizieren sind, ist bislang nicht abschließend geklärt.

3. Beeinträchtigungen durch Private

110

Speziell im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit können Beeinträchtigungen auch durch Private entstehen. Der EuGH hat die Ausdehnung des Anwendungsbereiches der Arbeitnehmerfreizügigkeit auf die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten mit dem Argument begründet, dass die Arbeitsbedingungen in vielen Mitgliedstaaten teilweise durch Gesetze oder Verordnungen und teilweise durch von Privatpersonen geschlossene oder vorgenommene Verträge oder sonstige Akte geregelt würden. Eine Beseitigung der Hindernisse für die Arbeitnehmerfreizügigkeit sowie deren einheitliche Anwendung wären gefährdet, wenn die Anwendung auf behördliche Maßnahmen beschränkt bliebe (EuGH, Urt. v. 6.6.2000, C-281/98 – Angonese –, Rn. 33 ff.). Insofern wirkt die Arbeitnehmerfreizügigkeit unmittelbar auf die Rechtsverhältnisse zwischen Privaten ein (sog. unmittelbare Drittwirkung).

111

Die Arbeitnehmerfreizügigkeit findet insbesondere auf Kollektivregelungen im Arbeits- und Dienstleistungsbereich Anwendung, etwa auf Verbandssatzungen von Sportverbänden oder Tarifverträge (EuGH, Urt. v. 12.12.1974, 36/74 – Walrave –, Rn. 16, 19; Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 82). Die Kollektivregelungen sind dabei nicht nur am Diskriminierungs-, sondern auch am Beschränkungsverbot zu messen (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 96). Darüber hinaus hat der EuGH private Arbeitgeber an das Diskriminierungsverbot gebunden. Die Arbeitnehmerfreizügigkeit solle eine nichtdiskriminierende Behandlung auf dem Arbeitsmarkt gewährleisten und gelte insoweit „für alle die abhängige Erwerbstätigkeit kollektiv regelnden Tarifverträge und alle Verträge zwischen Privatpersonen“ (EuGH, Urt. v. 6.6.2000, C-281/98 – Angonese –, Rn. 34; Urt. v. 17.7.2008, C-94/07 – Raccanelli –, Rn. 45). Eine Erstreckung des Beschränkungsverbotes auf private Arbeitgeber ist dagegen bislang nicht erfolgt.

A › Arbeitnehmerfreizügigkeit (Michael Rafii) › V. Rechtfertigung

V. Rechtfertigung

112

Wie bei den anderen Grundfreiheiten (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren) kann eine Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit gerechtfertigt sein. Dafür muss ein Rechtfertigungsgrund vorliegen und die Maßnahme geeignet sowie erforderlich und angemessen sein (EuGH, Urt. v. 13.12.2012, C-379/11 – Caves Krier –, Rn. 48).

1. Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes

113

Zunächst ist zu prüfen, ob für die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit ein Rechtfertigungsgrund vorliegt.

a) Ordre-Public-Klausel

114

Gem. Art. 45 Abs. 3 AEUV stehen die Gewährleistungen der Arbeitnehmerfreizügigkeit unter dem Vorbehalt der aus Gründen der öffentlichen Ordnung, Sicherheit und Gesundheit gerechtfertigten Beschränkungen. Mit dem Rechtfertigungsgrund können sowohl unmittelbar und mittelbar diskriminierend wirkende Maßnahmen als auch Beschränkungen gerechtfertigt werden.

115

Aufgrund der systematischen Stellung ist umstritten, ob der Rechtfertigungsgrund lediglich auf die in Art. 45 Abs. 3 AEUV genannten Mobilitätsrechte Anwendung findet oder auch auf die in Art. 45 Abs. 2 AEUV erwähnten Arbeitsbedingungen. Für eine Anwendung des Rechtfertigungsgrundes auf sämtliche Absätze des Art. 45 AEUV sprechen die einheitliche Schutzbereichsgewährleistung für die Arbeitnehmerfreizügigkeit in Art. 45 AEUV sowie die Konvergenz der Grundfreiheiten, da der identische Rechtfertigungsgrund in Art. 52 AEUV einheitlich für alle Gewährleistungen der → Niederlassungsfreiheit gilt.

116

Die Begriffe öffentliche Ordnung, öffentliche Sicherheit und öffentliche Gesundheit sind unter Berücksichtigung der Rechtsprechung des EuGH in der Freizügigkeitsrichtlinie (RL 2004/38/EG) näher definiert. Die Gründe der öffentlichen Ordnung und Sicherheit müssen nach Art. 27 Abs. 2 UAbs. 1 S. 1 Freizügigkeitsrichtlinie direkt an das Verhalten des Betroffenen anknüpfen. Das persönliche Verhalten muss gem. Art. 27 Abs. 2 UAbs. 2 S. 1 Freizügigkeitsrichtlinie zudem eine tatsächliche, gegenwärtige und erhebliche Gefahr darstellen, die ein Grundinteresse der Gesellschaft berührt. Ein nationales Gesetz, das eine Ausweisung von strafrechtlich verurteilten Ausländern ohne nähere Prüfung der vorgenannten Einschränkungen vorsieht, ist mit dem Unionsrecht unvereinbar (EuGH, Urt. v. 29.4.2004, C-493/01 – Oliveri –, Rn. 100). Eine Rechtfertigung von Maßnahmen aus Gründen der öffentlichen Gesundheit setzt gem. Art. 29 Freizügigkeitsrichtlinie voraus, dass die Maßnahme zur Abwehr von Krankheiten mit epidemischem Potenzial i.S.d. einschlägigen Rechtsinstrumente der Weltgesundheitsorganisation bzw. sonstige übertragbare, durch Infektionserreger oder Parasiten verursachte Krankheiten erfolgt.

b) Zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls

117

Eine Maßnahme, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer beschränkt, kann auch im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit zulässig sein, wenn mit ihr ein berechtigter, mit dem Vertrag vereinbarer Zweck verfolgt wird und sie aus zwingenden Gründen des Allgemeininteresses gerechtfertigt ist (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 104; Urt. v. 28.2.2013, C-544/11 – Petersen –, Rn. 47). Noch nicht abschließend geklärt ist, ob unter Berufung auf zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls mittelbare Diskriminierungen gerechtfertigt werden können (→ Grundfreiheiten: Allgemeine Lehren).

118

Ein zwingendes Erfordernis des Gemeinwohls im Bereich der Arbeitnehmerfreizügigkeit ist insbesondere die Verwirklichung beschäftigungspolitischer Ziele, die etwa zur Verringerung der Arbeitslosigkeit dienen. Der EuGH erkennt den Mitgliedstaaten bei der Auswahl der geeigneten Maßnahmen grundsätzlich einen weiten Beurteilungsspielraum zu (EuGH, Urt. v. 11.1.2007, C-208/05 – ITC –, Rn. 39). Weiterhin zählt zu den zwingenden Erfordernissen des Gemeinwohls die Notwendigkeit, die Wirksamkeit der steuerlichen Überwachung zu gewährleisten (EuGH, Urt. v. 28.2.2013, C-544/11 – Petersen –, Rn. 50). In der Rs. Bosman hat der EuGH aufgrund der sozialen Bedeutung des Fußballs „die Aufrechterhaltung eines Gleichgewichts zwischen den Vereinen unter Wahrung einer bestimmten Chancengleichheit und der Ungewißheit der Ergebnisse zu gewährleisten sowie die Einstellung und Ausbildung der jungen Spieler zu fördern“ als zwingende Erfordernisse des Gemeinwohls angesehen (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 106).

2. Verhältnismäßigkeit

119

Neben dem Vorliegen eines Rechtfertigungsgrundes für die Beeinträchtigung der Arbeitnehmerfreizügigkeit muss die Maßnahme auch geeignet sein, die Verwirklichung des in Rede stehenden Zweckes zu gewährleisten und darf nicht über das hinausgehen, was zur Erreichung dieses Zweckes erforderlich ist (EuGH, Urt. v. 11.1.2007, C-208/05 – ITC –, Rn. 37; Urt. v. 13.12.2012, C-379/11 – Caves Krier –, Rn. 48).

120

In der Rs. Bosman hat der EuGH z.B. die Verpflichtung zur Zahlung einer Transferentschädigung zur Förderung der Chancengleichheit der Vereine als ungeeignet angesehen, da die Regelung nicht verhindere, dass sich die reichsten Vereine die Dienste der besten Spieler sichern könnten (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 107). Dagegen sei die Aussicht auf eine Transferentschädigung zwar grundsätzlich geeignet, Vereine zur Ausbildung junger Spieler zu motivieren. Allerdings fehle es an der Erforderlichkeit, weil nur eine begrenzte Anzahl junger Spieler tatsächlich in der Zukunft Berufsspieler werden würden, so dass die Aussicht auf eine Entschädigung wegen ihres Eventualitäts- und Zufallscharakters letztlich kein ausschlaggebender Faktor für die Vereine sei und zudem andere, ebenso wirksame Mittel zur Erreichung dieses Zieles zur Verfügung stehen würden, die die Freizügigkeit der Arbeitnehmer nicht beeinträchtigten (EuGH, Urt. v. 15.12.1995, C-415/93 – Bosman –, Rn. 108 f.).

A › Assoziierungsabkommen (Maximilian Oehl)

Assoziierungsabkommen (Maximilian Oehl)

I.Überblick121 – 127

II.AA im System der auswärtigen Beziehungen der EU128 – 138

1.AA als außenpolitisches Instrument der EU128, 129

2.Typisierung von AA130 – 138

a)Beitrittsassoziierung132 – 134

b)Freihandelsassoziierung135, 136

c)Entwicklungsassoziierung137

d)Nachbarschaftsassoziierung138

III.Kompetenz und Verfahren beim Abschluss von AA139 – 145

1.Kompetenz der Union139 – 141

2.Abschlussverfahren142 – 145

IV.Institutionelle Struktur von AA146 – 148

V.Übliche rechtliche Wirkungen von AA149 – 157

1.Allgemeines150 – 152

2.Unmittelbare Anwendbarkeit von AA153, 154

3.Sekundäres Assoziationsrecht155, 156

4.Sonstige gemeinsame Merkmale157

Lit.:

P. Pescatore, Die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs zur innergemeinschaftlichen Wirkung völkerrechtlicher Abkommen, FS für H. Mosler, 1983, 669; J. Tavassi, The regime of international investments within the Association Agreements: towards a new comprehensive regulation?, JWIT 13 (2012), 144; W. Tiede/J. Spiesberger/C. Bogedain, An der Schwelle zum Binnenmarkt: Wirtschaftlicher Teil des Assoziierungsabkommens zwischen der EU und der Ukraine, WiRO 23 (2014), 321; G. Van der Loo/P. Van Elsuwege/R. Petrov, The EU-Ukraine Association Agreement: Assessment of an Innovative Legal Instrument, EUI Department of Law Research Paper No. 2014/09.

A › Assoziierungsabkommen (Maximilian Oehl) › I. Überblick

I. Überblick

121

Assoziierungsabkommen (AA) sind völkerrechtliche Verträge gem. Art. 217 AEUV, welche die EU nutzt, um mit Drittstaaten bzw. teilweise auch Internationalen Organisationen privilegierte Partnerschaften von einer gewissen Dauerhaftigkeit einzugehen. Aktuell bestehen Assoziierungsabkommen mit den folgenden Staaten bzw. Organisationen: Ägypten, Albanien, Algerien, Bosnien- und Herzegowina, Chile, Georgien, Israel, Jordanien, Kosovo, Libanon, Marokko, Mazedonien, Moldau, Montenegro, Palästinensische Befreiungsorganisation (PLO), Serbien, Tunesien. Darüber hinaus existieren AA, die bereits teilweise bzw. vorläufig in Kraft getreten sind mit Singapur, der Ukraine und Zentralamerika (Costa Rica, El Salvador, Guatemala, Honduras, Nicaragua, Panama).

122

Grundsätzlich ebenfalls als AA einzustufen sind das EWR-Abkommen (→ Europäischer Wirtschaftsraum [EWR]) sowie die Abkommen mit den AKP-Staaten (→ Entwicklungszusammenarbeit). Abzugrenzen von AA ist die weiterreichende sog. verfassungsrechtliche oder interne Assoziierung als EU-Mitgliedstaat bzw. die Assoziierung sui generis als → Überseeische Länder und Gebiete (ÜLG) i.S.d. Art. 198 ff. AEUV.

123

Damit ein Assoziierungsabkommen i.S.d. Art. 217 AEUV vorliegt, müssen unterschiedliche Anforderungen vorliegen. Unterhalb dieser Schwelle sind geschlossene Verträge abhängig von ihrem jeweiligen inhaltlichen Schwerpunkt als Kooperations- oder Partnerschaftsabkommen bzw. sog nichtpräferentielle Handelsabkommen i.S.d. Art. 207 AEUV (→ Freihandelsabkommen) zu qualifizieren. Diese beinhalten oftmals eine weniger weitreichende Partnerschaft. Die Abgrenzung zwischen jenen und AA war allerdings in der Vergangenheit in der EU-Praxis nicht immer trennscharf. Überzeugend ist es, nur jene Abkommen, die auf Art. 217 AEUV beruhen und dessen Tatbestandsmerkmale erfüllen, als AA zu bezeichnen.

124

Damit die Voraussetzungen des Art. 217 AEUV vorliegen, muss zunächst das Gegenseitigkeitsmerkmal erfüllt sein. Zwar ist eine sog. asymmetrische Assoziierung grundsätzlich zulässig. Allerdings muss der assoziierte Staat hierbei zumindest in irgendeiner Form auch eigene Rechte übertragen bekommen. Er darf nicht lediglich der EU-Entscheidungsfindung untergeordnet sein, ohne auf diese in irgendeiner Weise Einfluss nehmen zu können.

125

Ferner muss das jeweilige AA ein gemeinsames Vorgehen vorsehen. Hierunter sind gemeinsame Organe (z.B. Assoziationsräte und -ausschüsse, s. Rn. 146 f.) zu verstehen, welche zur Durchführung der Assoziierung eingerichtet werden und für die Vertragsparteien bindende Entscheidungen fällen können (sog. sekundäres Assoziationsrecht, s. Rn. 155 f.). Zwar bestehen auch bei Partnerschafts- und Kooperationsabkommen in der Regel gemeinsame Organe, deren Beschlüsse entfalten jedoch für gewöhnlich keine Bindungswirkung.

126

Schließlich wird als letztes normiertes Merkmal verlangt, dass auch besondere Verfahren hergestellt werden, womit u.a. Streitschlichtungsverfahren bzw. Verfahren zu einem möglichst einfachen Erlass von sekundärem Assoziationsrecht gemeint sind.

127

Jenseits dieser geschriebenen Merkmale verlangen viele Stimmen in der Literatur überzeugenderweise ein Element der Dauerhaftigkeit, das die Assoziierung kennzeichnet. Dieses Merkmal spiegelt sich auch in der Praxis, AA oftmals für unbestimmte Zeit abzuschließen (vgl. bspw. Art. 82 Israel-AA oder Art. 93 Marokko-AA), wider.

A › Assoziierungsabkommen (Maximilian Oehl) › II. AA im System der auswärtigen Beziehungen der EU

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