Loe raamatut: «Die unfreiwilligen Reisen des Putti Eichelbaum (Steidl Pocket)»

Font:

BERNT ENGELMANN

DIE UNFREIWILLIGEN

REISEN DES

PUTTI EICHELBAUM

Steidl Pocket


13. März 1932. Bei der Reichspräsidentenwahl erhält Hindenburg 49,6%, Hitler 30,1% der Stimmen.

10. April 1932. Beim zweiten Wahlgang wird Hindenburg mit absoluter Mehrheit (53%) gewählt; Hitler kommt auf 36,8%.

31. Juli 1932. Reichstagswahlen. Die NSDAP Hitlers wird mit 37,4% stärkste Partei. Ein konservatives Kabinett v. Papen regiert ohne Mehrheit mit Notverordnungen.

6. November 1932. Bei den Reichstagswahlen erleidet die Nazi-Partei einen Rückschlag, bleibt aber mit 33% Stimmenanteil stärkste Partei. General v. Schleicher löst v. Papen als Reichskanzler ab.

30. Januar 1933. Ein rechtes Bündnis bringt Hitler an die Macht. Die »Gleichschaltung« beginnt.

27./28. Februar 1933. Reichstagsbrand. Ausschreitungen gegen Juden, massenhafte Verhaftungen von Linken.

5. März 1933. Die Reichstagswahl bringt nach dem Verbot der kommunistischen Partei Hitler die nötige Mehrheit zur Errichtung der Diktatur.

1. April 1933. Regierung verfügt Boykott aller jüdischen Geschäfte und sonstigen Einrichtungen. Juden werden aus allen Ämtern entfernt. Erste KZs entstehen.

April / Mai / Juni 1933. Gewerkschaften und Parteien (außer der NSDAP) werden aufgelöst und verboten.

10. Mai 1933. Öffentliche Bücherverbrennung. Der Terror gegen die jüdische Bevölkerung verstärkt sich.

Inhalt

Cover

Titel

Berlin-Wilmersdorf

Zürich – Lugano – Como – Mailand – Rom

Rom

Como – Lugano – Lausanne – Paris – Le Havre

Bermudas – Bahamas – Kuba

Miami – New York

Herbst 1940–41

New York – Fort Dix – Fort Jackson

Fort Jackson – Fort Bragg – New York

Camp Woburn – Boston – Bristol – Chiltern Hills – Plymouth – Omaha Beach

Omaha Beach – Plymouth – Korsika – Rom – Nizza – Neufchâteau – Sommer 1944

Neufchâteau – Thionville – Neufchâteau

Ardennen – Aachen – Frankfurt – Nürnberg – Schirnding – München – Schongau –Fürstenfeldbruck – Berlin

Über den Autor

Bildnachweis

Impressum

Berlin-Wilmersdorf

Als man mir Putti zum ersten Mal zeigte, da war er noch sehr klein, geradezu winzig. Ich war viel größer und konnte sogar schon ohne nennenswerte fremde Hilfe stehen. Ich war (und bin) nämlich fünf Monate älter als er.

Unsere Begegnung fand statt im Sommer 1921, als Putti seine erste Ausfahrt in einem, wie mir später versichert wurde, hocheleganten Kinderwagen unternahm. Es war in Wilmersdorf, das erst ein halbes Jahr zuvor und zusammen mit Charlottenburg, Schöneberg, Friedenau und etlichen anderen Dörfern und Städten der Umgebung von der sich gerade zur Metropole Groß-Berlin mausernden Hauptstadt geschluckt worden war. Dieser Eingemeindung hatten Putti und auch ich es zu verdanken, dass wir gebürtige Berliner sind wie unsere Eltern.

Ich soll damals, beim ersten Anblick von Putti, vor Vergnügen gejauchzt haben, und mein Entzücken kannte angeblich keine Grenzen. Daran kann ich mich zwar nicht erinnern, aber es gibt ein Foto von dieser ersten Begegnung, das für sich selbst spricht.

Meine eigene früheste Erinnerung an Putti, der damals etwa drei Jahre alt war, hat mit Stachel- und anderen Beeren zu tun, die er mir in den Mund zu drücken versuchte, wohl um mir damit eine Freude zu machen. Ich mochte schon damals keine Stachelbeeren, aber Putti blieb beharrlich und probierte es als Nächstes mit roten und schwarzen Johannisbeeren, für die ich auch nichts übrighatte.

Jedenfalls gab es dann aufgeregte Versuche, uns zu säubern, zunächst mit kaltem Wasser aus dem Gartenschlauch, was meine Erinnerung daran so frisch gehalten haben mag. Aber für unsere hellblauen und gelben Bleyle-Anzüge kam jede Hilfe zu spät.

Von diesem bedauerlichen Vorfall abgesehen, war mir Putti damals ein guter, zuverlässiger und fleißiger Arbeitskollege beim Pampe-Anrühren und Kuchenbacken im Sandkasten. Mit Poldi Hirschfeld als dritter Fachkraft und dessen jüngerem Bruder Frank als meist willigem, aber noch anzulernendem Hilfsarbeiter haben wir bis etwa 1928 so manchen Zentner weißen Sandes zu Napfkuchen und kleinem Gebäck verarbeitet, sogar noch, als Putti, Poldi und ich bereits gemeinsam täglich drei bis vier lange Vormittagsstunden in der ersten Klasse der Volksschule verbringen mussten.

Die Schule, die die Wilmersdorfer Stadtväter ans Ende der dort noch unbebauten Babelsberger Straße gestellt hatten, ragte schräg gegenüber unserem Garten als ein hoher, hässlicher grauer Steinkasten aus einer unberührten Wildnis, in der wir später als erfahrene Trapper dem Kriegspfad der tapferen Sioux folgten (oder als Apachen die Bleichgesichter zu vertreiben suchten).


Bernt, Poldi und Putti, 1923 (von links nach rechts)

Als ABC-Schützen aber trauerten wir noch dem Sandkasten nach, den man vom Klassenfenster aus sehen konnte und wo es für uns Wichtigeres zu tun gegeben hätte als das Vollmalen der vielen Reihen einer ganzen Heftseite mit schleifchenverzierten Ostereiern, die nach der Meinung eines uns unbekannten Herrn Sütterlin sämtlich den Buchstaben O bedeuten sollten.

Während der Jahre unserer gemeinsamen Volksschulzeit wurden wir ausschließlich von Herrn Lehrer Strelow unterrichtet, einem schnurrbärtigen, hageren Pommern, der Rohköstler und – unserem Mitschüler Boris Belogusski zufolge, der Familie Strelow in deren Schrebergarten beobachtet hatte – auch ein »Lichtfreund« war, worunter wir uns zunächst wenig vorstellen konnten, aber Boris erklärte es uns, und wir staunten sehr. Herr Strelow, der stets stark nach Knoblauch roch und uns großen Respekt einflößte, brachte seinen mehr als fünfzig Schülern nicht nur die Künste des Schreibens, Lesens und Rechnens bei, sondern auch Turnen, Zeichnen, märkische Heimat- und Naturkunde, ja sogar Religion.

Was den Religionsunterricht betraf, so wurde damals bei den Erst- und Zweitklässlern zwischen den verschiedenen Glaubensbekenntnissen kein Unterschied gemacht. Herr Strelow erteilte ihn für Evangelisch-Lutherische, Reformierte, Juden, Katholiken, Neuapostolische, Russisch-Orthodoxe und auch einen Armenier.

Es gab in Berlin-Wilmersdorf in den Jahren nach dem Ersten Weltkrieg Tausende von Flüchtlingen aus ganz Ost- und Südosteuropa und aus Vorderasien. Knapp die Hälfte der Schüler unserer Klasse waren – meist bereits in Berlin geborene, mit dem Dialekt längst vertraute und von den anderen teils als »knorke«, teils als »doof« befundene – Kinder solcher Emigranten. Herr Strelow gab einen universalen, auf den Zehn Geboten basierenden und mit jugendfreien Geschichten aus dem Alten Testament angereicherten Religionsunterricht für alle – ausgenommen Putti.

Wenn sich Herr Strelow dazu entschloss, die letzten 45 Minuten des Vormittags zur Religionsstunde zu erklären, dann packte Putti, von uns anderen teils mitleidig, teils neidvoll betrachtet, eilig seinen Tornister und ging nach Hause.


Putti, vorn liegend, Bernt im Matrosenanzug, rechts dahinter, und ihre Volksschulklasse, 1928

Als dies das erste Mal geschah, berichtete ich schon beim Mittagessen meinen Eltern von diesem sensationellen Ereignis. Ich erfuhr dann, dass Puttis Eltern und daher auch er »Dissidenten« wären, die keiner der üblichen Religionsgemeinschaften angehörten, und seine Eltern hätten ihn daher vom Religionsunterricht befreien lassen.

»Ja«, so bestätigte mir dann auch Putti, »wir sind Dissidenten. Wir gehen nicht in die Synagoge und auch nicht in die Kirche.«

Ich konnte dem stolz entgegenhalten, dass mich meine Großmutter schon einmal in die Kaiser-Wilhelm-Gedächtniskirche mitgenommen hätte, und dass ich auch bereits – mit Hirschfelds und mit einem geborgten sauberen Taschentuch auf dem Kopf – in der neuen Synagoge in der Prinzregentenstraße gewesen wäre.

Doch damit konnte ich Putti nicht imponieren.

Nur so zum Ansehen, sagte er, wäre er auch schon in Kirchen und Tempeln gewesen, einmal sogar in der weißen Moschee hinter dem Fehrbelliner Platz. Er müsste aber nicht, nicht mal an hohen Feiertagen und sonntags schon gar nicht, eben weil er und seine Eltern Dissidenten seien.

Zwar gab es auch für mich keine solche Pflichten; Religion galt in unserer Familie als jedermanns Privatsache. Aber eine bis dahin bloße Vermutung wurde mir nun zur Gewissheit: Bestimmte, bei keiner anderen mir bekannten Familie anzutreffende Sonntagsbräuche im Hause von Puttis Eltern, die mir und, wie ich wusste, auch meinem Vater sehr gefielen, mussten einfach damit zusammenhängen, dass sie etwas Besonderes, nämlich Dissidenten waren.

Beinahe an jedem Sonntagvormittag, gegen elf Uhr, besuchte mein Vater mit mir Puttis Eltern, die ganz in der Nähe wohnten und an deren Eingangstür auf einem blanken Messingschild Dr. jur. Curt Eichelbaum stand. Mit Onkel Curt, wie ich ihn nannte, war mein Vater seit den Tagen ihrer gemeinsamen Schulzeit eng befreundet.

Als Grund für die sonntäglichen Besuche bei Eichelbaums gab mein Vater an, sie böten ihm Gelegenheit, mit seinem Freund Curt dies oder jenes zu bereden, auch eine Partie Schach zu spielen, und die Kinder könnten sich derweilen mit der elektrischen Eisenbahn oder etwas anderem beschäftigen. Sein Hauptinteresse dort galt jedoch nicht dem Schachspiel, sondern – das fand ich schnell heraus, weil es mir genauso ging – dem mächtigen, reichgeschnitzten Eichenbüfett oder vielmehr dem, was – nur an Sonntagen! – darauf angerichtet war: große Platten und Schüsseln mit Pasteten, Salaten, Räucherlachs, kaltem Geflügel und Braten, Hummermayonnaise und anderen Leckerbissen, Obst und Süßigkeiten noch und noch – Festtagsspeisen für den ganzen Tag, nicht allein für die dreiköpfige Familie Eichelbaum, deren einziges Kind Putti war, sondern auch für alle Freunde und Bekannten, die zu kürzerem oder längerem Besuch kamen, dazu allerlei Getränke, die samt den passenden Gläsern in den Zwillingstürmen zu beiden Seiten der Anrichte bereitstanden.

Während mein Vater und ich nur ein wenig naschten, denn zu Hause erwartete uns ja der Sonntagsbraten meiner Mutter, ließ es sich Onkel Curt gut schmecken, empfahl meinem Vater mal ein Stück Gänsebrust, mal eine Entenleberpastete, vielleicht auch ein Stück geräucherten Stör, und trank am Ende der Schachpartie mit meinem Vater einen Cognac, den Onkel Curt, zumal in Kombination mit einer echten Havanna-Zigarre, ganz besonders schätzte.

Von Onkel Curts Aussehen pflegte mein Vater zu sagen, er wäre Julius Cäsars Ideal eines römischen Senators gewesen – Lasst dicke Männer um mich sein mit glatten Köpfen und die nachts gut schlafen … –, und er hätte auch die dazu passende kühn gebogene Nase.

Aber Onkel Curt war nicht Senator, vielmehr Rechtsanwalt und Notar. Am schmiedeeisernen Gitter der hohen Eingangstür jenes vornehmen Hauses am Pariser Platz, gleich neben dem Brandenburger Tor und mit Blick auf die Straße Unter den Linden, wo Onkel Curt sein Anwaltsbüro hatte, prangte ein emailliertes Schild, das mich ebenso stark beeindruckte wie das Sonntagsbüfett der Dissidenten. Es zeigte einen Adler mit goldgelben Krallen und einem ebenfalls goldgelben Schnabel, ganz ähnlich der Nase von Onkel Curt, und darunter stand: Preußisches Notariat. Daneben hing ein weißes Porzellanschild mit der schwarzen Aufschrift: Dres. C. Eichelbaum, Justizrat I. Friedmann, R. v. Godin, G. Krauss, Rechtsanwälte.

Einmal hörte ich meinen Vater zu Onkel Curt sagen, das sei der Goldgruben eigentlich zu viel: ein Notariat gleich Unter den Linden und eine florierende Anwaltspraxis in der teuersten Gegend Berlins.

»Hast du nicht Angst, damit den Neid der Götter zu erregen?«

»Höchstens deinen«, meinte Onkel Curt dazu trocken. »Wenn du in der Schule etwas besser aufgepasst hättest …«

Er beendete den Satz nicht, wohl im Hinblick auf mich, und als ich meinen Vater später fragte, ob man, wenn man bei Herrn Strelow gut aufpasse, Notar werden könne, lachte er nur.

Puttis Mutter, Tante Lottchen, erklärte mir dann, Onkel Curt wäre im Weltkrieg Offizier gewesen; da hätte man ihm das Notariat nicht gut verweigern können, zumal nach allem, was sie durchgemacht hatten, als ihr Onkel Moritz als Geisel verschleppt worden war.


Curt Eichelbaum mit seinem Sohn

Tante Lottchen, zu Puttis und meiner Volksschulzeit eine elegante, gutaussehende Frau von Mitte Dreißig mit wasserblauen Augen und wohlfrisierten blonden Locken, schlank und zierlich, ja, wie alle betonten, »von größter Zartheit«, war zwar auch in Berlin geboren, aber nach dem frühen Tod ihrer Eltern in Ostpreußen aufgewachsen, in dem südmasurischen Kreis- und Garnisonstädtchen Lyck, nur einen Katzensprung weit entfernt von der Grenze nach Russisch-Polen, eben bei jenem Onkel Moritz, der bei ihr Vaterstelle vertreten und sie – so meine Mutter mit leisem Spott – »wie seinen Augapfel gehütet und in Watte gepackt« hatte. Onkel Moritz, ein ebenso frommer wie reicher jüdischer Geschäftsmann und Junggeselle, hatte für das kleine Lottchen außer dem Kindermädchen noch ein Fräulein als Erzieherin angestellt, sie dann unter der strengen Aufsicht einer Hausdame von Privatlehrerinnen und -lehrern sorgfältig unterrichten lassen, schließlich eigens für das Lottchen eine Gesellschafterin engagiert, die sie auf Schritt und Tritt zu begleiten hatte – auch bei einem Besuch, den das knapp 16-jährige Lottchen ihren Verwandten in Berlin abstatten durfte.

Damals schon lernte Lottchen Onkel Curt kennen, der fast gleichaltrig und glücklicherweise ihr Vetter zweiten Grades war, so dass ihre Gesellschafterin es verantworten zu können meinte, die beiden für Augenblicke allein zu lassen. Das Resultat war eine heimliche Verlobung – heimlich schon deshalb, weil Onkel Moritz sein »Schneeflöckchen«, wie er, später auch Onkel Curt, sein Lottchen nannte, frühestens mit 18 für verlobungsfähig hielt und außerdem Bedingungen stellte, was den Beruf des künftigen Bräutigams betraf: Es kam für ihn allein ein Jurist, und zwar nur ein Richter oder Notar in Frage.

So musste Onkel Curt, der eigentlich Historiker hatte werden wollen, zunächst ein Studium der Rechtswissenschaft beginnen, die Examina glänzend bestehen, promovieren und Reserveoffizier werden. Mit alledem beeilte er sich zwar sehr, aber erst nach neun Jahren – davon waren sie sechs offiziell verlobt – war es im Herbst 1914 soweit, dass der Onkel nichts mehr gegen eine eheliche Verbindung einzuwenden gehabt hätte – nur konnte er nicht um seinen Segen gebeten werden, weil er bei Kriegsbeginn von den Kosaken, die nach Südostpreußen eingefallen waren, zwecks Erpressung von Lösegeld nach Russland entführt worden war.

So hatten Onkel Curt und Tante Lottchen nicht, wie geplant und gemeinsam mit meinen Eltern, Hochzeit feiern können. Sie mussten lange warten – bis 1919. Da endlich kam Onkel Moritz heim, spät, aber unversehrt, denn er war nicht, wie befürchtet, gefesselt und geknebelt in einer Höhle gefangen gehalten worden, sondern hatte den Krieg in einem vornehmen Hotel am Kaspischen Meer recht angenehm verbracht.

Nach der glücklichen Heimkehr von Onkel Moritz hatte Tante Lottchen, inzwischen 29, endlich dessen Segen erhalten, und Onkel Curt, der junge Ehemann, bemühte sich fortan, den Schwiegeronkel Moritz, was die sorgfältige Behütung des »Schneeflöckchens« betraf, noch zu übertreffen.

Wollte Tante Lottchen etwa meine Mutter besuchen, während Onkel Curt noch in seinem Anwaltsbüro war, so ließ er sich von ihr vor ihrem Aufbruch zunächst einmal telefonisch versichern, dass sie bestimmt warm genug angezogen sei, und dann war ihm auch ihre unversehrte Ankunft bei uns sofort telefonisch zu melden. Immerhin hatte sie ja einen Fußweg von fast drei Minuten zurückzulegen und die Berliner Straße zu überqueren, auf der Omnibusse und Straßenbahnen verkehrten.

Es versteht sich fast von selbst, dass Tante Lottchen alle hausfraulichen Künste während ihrer langen Verlobungszeit beigebracht worden waren, aber dass ihr als Ehefrau deren Ausübung untersagt blieb. Die hochherrschaftliche Siebenzimmerwohnung im Hause Badensche, Ecke Babelsberger Straße, erst recht die geräumige Küche, betreute Agnes. Zu deren Unterstützung gab es noch eine Putzfrau, die zweimal wöchentlich sowie zu jedem Großreinemachen kam, ferner eine Waschfrau sowie Frau Pommer, eine ungewöhnlich große und korpulente Schneiderin, die Bett- und Tischwäsche nähte, die schwierigsten Reparaturen ausführte und Putti und mir sehr imponierte, weil sie schon in New York und sogar in Santa Fe gewesen war, dort im Opernballett getanzt und ihren Beruf nur einem Mann zuliebe aufgegeben hatte, der ihr dann abhandengekommen war. Und schließlich gab es noch Ihi, die im Nebenhaus bei den Eltern von Poldi und Frank Hirschfeld den Haushalt betreute und die Agnes zu Hilfe kam, wenn Eichelbaums am Abend 24 Personen zum Essen eingeladen hatten.

Das kam glücklicherweise nicht selten vor, denn es gab dann zum Dessert Fürst-Pückler-Eisbomben, wovon Agnes stets und auf geheimnisvolle Weise reichliche Portionen für die Kinder abzuzweigen verstand.

Agnes, die aus einem schlesischen Dorf nach Berlin gekommen war und an Puttis Pflege und Erziehung von seiner Geburt an einen mindestens ebenso großen Anteil hatte wie Tante Lottchen und gewiss einen größeren als der vielbeschäftigte Onkel Curt, handelte damit gegen die strengen Direktiven unserer Eltern, die meinten, Grießpudding mit Himbeersaft sei gut für Kinder, Fürst-Pückler-Eis aber nur für Erwachsene.

Agnes war katholisch. Nur mit Rücksicht darauf, dass sie sich sonntags stets zur Messe in die weit entfernte Hedwigskirche aufmachte und anschließend einen freien Tag haben sollte, war es – so erfuhr ich später – dazu gekommen, dass bei Eichelbaums an Sonntagen alle regulären Mahlzeiten ausfielen und ersetzt wurden durch das wohlvorbereitete kalte Büfett, das sich dann so großer Beliebtheit erfreute.


Das Hausmädchen Agnes mit Putti, 1933

Agnes war es auch, die »ihrem« Putti von dessen Babytagen an stets und dazu »Hühnchen, Hühnchen, putt, putt, putt« singend die blonden Haare zu einer Art Hahnenkamm lockte, dem er seinen Kosenamen verdankte und den er, je älter er wurde, desto weniger mochte. Doch um Agnes nicht zu kränken, ertrug er die, wie wir dann fanden, »unmännliche« Frisur, bis wir in die Sexta des Treitschkegymnasiums in der Prinzregentenstraße kamen. Da wurde auch aus Putti nunmehr Richard, wie er mit richtigem Vornamen heißt. Nur zu Hause und unter engsten Freunden blieb es bei Putti.

Agnes war es schließlich auch, die an einem Sonntagnachmittag, obwohl sie doch eigentlich frei hatte, schon gegen drei Uhr vom Ausgang zurückkam, sogleich Kaffee kochte, ihn den zahlreich versammelten Freunden und Bekannten servierte und dabei Onkel Curt wissen ließ, in der Küche wartete Herr Beek. Er bäte den Herrn Doktor um dessen juristischen Beistand und dazu um eine kurze Unterredung. Ob sie Herrn Beek wohl schon nach nebenan ins Herrenzimmer führen dürfe?

Onkel Curt, der vor allem große Außenhandelsfirmen und Filmgesellschaften zu Mandanten hatte, auch einigen Berliner Konzernen als Justiziar und der Prominenz als Scheidungsanwalt diente, zeigte sich zunächst ganz verblüfft von diesem Ansinnen. Doch dann erklärte ihm Agnes leise, nun auch unterstützt von Tante Lottchen, dass es sich bei Herrn Beek um keinen völlig Fremden handelte, sondern um den Bräutigam von Hirschfelds Ihi, so dass er also schon fast zur Familie gehörte.

Natürlich bekam Herr Beek, von Beruf Möbelpacker, dem an der linken Hand zwei Finger fehlten und der außerdem, wie wir wussten, in der Schalmeienkapelle des kommunistischen Rotfrontkämpferbundes ein Schlagzeug bediente, die gewünschten Rechtsauskünfte, zumal er sich eigens für diesen Besuch einen Gehrock nebst Glacéhandschuhen und Melone ausgeborgt hatte. Agnes durfte ihm Kaffee und Kuchen servieren, und Onkel Curt schenkte ihm zum Abschluss der Konsultation einen Cognac ein.

Onkel Curt, als Sohn eines wohlhabenden Silberfabrikanten, der Werkstätten in Potsdam und ein von Gardeoffizieren bevorzugtes Geschäft für silberne Militäreffekten Unter den Linden gehabt hatte und auch Hoflieferant des Kaisers gewesen war, hatte bei aller Ungezwungenheit im Freundeskreis und aller Jovialität im Umgang mit bloßen Bekannten und Mandanten sehr exakte Vorstellungen von preußischer Korrektheit und dem jeweils Schicklichen. Er hielt sonst streng auf Konventionen und auf die Heiligung seines Dissidenten-Sonntags. Dass er dennoch Herrn Beek fast eine halbe Stunde davon opferte, während nebenan seine engsten Freunde versammelt waren, zeigte einerseits, dass er die Wichtigkeit einer Bitte, wie sie Agnes in den zwölf Jahren ihrer Zugehörigkeit zur Familie noch nie geäußert hatte, zu erkennen und zu respektieren vermochte. Andererseits sollte sich die Gewährung der Audienz – aber das konnte damals noch niemand ahnen – später für ihn und die Seinen als sehr nützlich erweisen.

Herrn Beeks Besuch, der schnell wieder vergessen war, fand statt am 6. November 1932, einem Wahlsonntag. Schon zum vierten Mal in diesem Jahr wurde in ganz Deutschland gewählt. Im März und April war es in zwei Wahlgängen um die Reichspräsidentschaft gegangen, und der uralte Feldmarschall v. Hindenburg hatte gegen den Naziführer Adolf Hitler gesiegt – mit den Stimmen von Puttis und meinen Eltern.

»Das hätte ich mir niemals träumen lassen«, war meines Vaters melancholischer Kommentar zu Puttis und meinem Geschrei, wir hätten gewonnen, »dass wir noch einmal froh sein würden, dieses bemooste Kriegerdenkmal behalten zu dürfen …«

»Lass mal, Hans«, hatte Onkel Curt ihm entgegengehalten, »solange wir den alten Hindenburg haben, herrscht zumindest Ordnung, und der Hitler hat keine Chance …«

Aber bei den Reichstagswahlen im Juli waren Hitlers Nazis eindeutig Sieger geworden, zum Entsetzen unserer Eltern. Ein paar Tage lang hatten alle Erwachsenen davon geredet, dass nun dieser hergelaufene Halunke mit dem Chaplin-Bärtchen, der nicht mal richtig Deutsch könnte, vielleicht Reichskanzler werden würde.

Auf dem Dach unseres Gymnasiums hatten ein paar ältere Schüler in braunen Hemden, braunen Breeches-Hosen und Schaftstiefeln schon etwas voreilig eine Hakenkreuzfahne gehisst, die der Schuldiener auf Geheiß des Direktors wieder einholen musste. Karlchen Knoops, der zweimal sitzengeblieben und der Älteste in unserer Klasse war, hatte grinsend von einer »Nacht der langen Messer« gesprochen, die jetzt bald käme.

Aber dann war ein Herr v. Papen Reichskanzler geworden. Seine Regierung war, wie Onkel Curt zu meinem Vater gesagt hatte, »ein Schießbudenfiguren-Kabinett, aber immer noch viel besser als die Nazis«, die dann bei den Reichstagswahlen vom 6. November einen Rückschlag erlitten und mehr als zwei Millionen Wählerstimmen wieder verloren.

Nach einigen Wochen der Ungewissheit löste der Reichswehrgeneral v. Schleicher Herrn v. Papen als Kanzler ab, und als wir am Sonntag darauf wieder bei Eichelbaums waren und vom Büfett naschten, fragte Onkel Curt:

»Was meinst du, Hans? Ist die Gefahr jetzt vorüber?«

»Hoffen wir’s«, sagte mein Vater, aber es klang nicht sehr zuversichtlich.

Tante Lottchen, Agnes und meine Mutter trafen derweilen letzte generalstabsmäßige Vorbereitungen zum bevorstehenden Weihnachtsfest. In Eichelbaums großer Wohnung duftete es bereits nach Lebkuchen und Marzipan. Letzteres wurde von Agnes nach Tante Lottchens genauen Anweisungen und einem alten Königsberger Rezept mit sehr viel Rosenöl und in unglaublichen Mengen hergestellt. Tante Lottchen verschenkte es paketweise an alle guten Freunde zu Weihnachten. Nur Hirschfelds bekamen ihr Marzipan jeweils ein paar Tage früher, zu Chanukka, das eigentlich, wie Putti und ich wussten, kein hoher Feiertag war, aber sehr praktisch, weil wir in kurzem Abstand zweimal feiern und Geschenke entgegennehmen konnten, erst bei Hirschfelds und dann zu Hause.

Mit den hohen jüdischen Feiertagen kannten wir uns aus, behielten das aber für uns. Denn an solchen Tagen verschwanden Putti und ich unter dem Vorwand, am Bayerischen Platz fände ein wichtiges Murmel-Turnier statt, in entgegengesetzter Richtung um die Ecke. Unweit der neuen reformierten Synagoge in der Prinzregentenstraße stellten wir uns auf, bei schönem Wetter in etwas größerem Abstand, bei strömendem Regen mehr in der Nähe des Eingangs. Denn die entgegen den strengen religiösen Vorschriften mit Autos und Taxis zum Gottesdienst fahrenden Gemeindemitglieder wollten meist die letzten paar Schritte »anstandshalber« zu Fuß gehen. Wir öffneten ihnen den Wagenschlag, halfen beim Aussteigen, wünschten »guten Jontef (Feiertag)«, was ihr schlechtes Gewissen noch verstärkte, machten einen Diener und hielten die Hand auf.

Die reichlich fließenden Trinkgelder wurden ehrlich geteilt, und so hatten wir erfreulich hohe Nebeneinnahmen, bis uns eines Tages eine vorübergehende Portierfrau erkannte und sofort Tante Lottchen verständigte: »Ick jloobe, Frau Dokta, Ihr Kleener und sein Freund, die machen vorm Tempel den Schammes!«

Damit brach unser gutgehendes Geschäft zusammen. Die eilig entsandte Agnes führte uns ab. Meine Mutter lachte nur, aber Tante Lottchen, die äußerst Zarte, verabreichte Putti zum ersten und wohl auch letzten Mal eine Tracht Prügel, denn sie war über alle Maßen empört:

»Willst du unseren guten Ruf ruinieren? Was wird dein Vater sagen, wenn er hört, dass du seine Praxis zugrunde richtest!?«

Aber es waren andere, die wenige Wochen später das Zugrunderichten von Onkel Curts Praxis besorgten: Am 30. Januar 1933 wurde Hitler Reichskanzler. Die Wilmersdorfer Hitlerjugend, Karlchen Knoops vorneweg, veranstaltete einen Fackelzug und sang abwechselnd das Horst-Wessel-Lied und Wenn’s Judenblut vom Messer spritzt, dann geht’s noch mal so gut …!

»Eine schlimme Sache, gewiss«, hatte Herr Goldstaub, ein gemeinsamer Schulfreund von Onkel Curt und meinem Vater, am folgenden Sonntag dazu gemeint, »aber das läuft sich tot! In ein paar Wochen haben die doch abgewirtschaftet …«

Herrn Goldstaub gehörte der große Atrium-Filmpalast Berliner Straße, Ecke Kaiserallee, und sein Geschäft ging glänzend. Die Leute wollten patriotische Ufa-Filme mit Otto Gebühr als Altem Fritz sehen, vor allem aber die Ufa-Wochenschau, deren Begeisterung für die »Machtergreifung« Hitlers und aller nationalen Kräfte keine Grenzen kannte.

Am Abend des 27. Februar brannte der Reichstag. Viele Leute, auch ein sozialdemokratischer Redakteur aus dem Nebenhaus und ein Bildhauer, den mein Vater kannte und der in der Liga für Menschenrechte aktiv war, wurden noch in der Nacht von SA-Leuten in »Schutzhaft« genommen, verprügelt und misshandelt. In der folgenden Woche hörte man von immer neuen Verhaftungen durch SA- und SS-Leute, die über Nacht zu »Hilfspolizisten« ernannt worden waren.

Auf den Straßen sah man täglich mehr Leute mit Nazi-Parteiabzeichen am Revers oder in braunen Uniformen mit Hakenkreuz-Armbinden und Schaftstiefeln, die sich gegenseitig mit ausgestrecktem Arm und »Heil Hitler« grüßten. Putti erzählte mir, er habe Herrn Strelow getroffen – in brauner Uniform!

Am Zeitungsstand Ecke Berliner Straße sahen wir, wie SA-Leute ganze Packen von Zeitungen »beschlagnahmten« und auf einen Lastwagen warfen.

»Ick muss doch dafier bezahlen!«, jammerte die Zeitungsfrau, aber sie fuhren bereits weiter zum nächsten Kiosk.

Am 5. März war schon wieder Reichstagswahl, die dritte in neun Monaten. Diesmal bekamen die Nazis und die mit ihnen verbündete Kampffront Schwarz-Weiß-Rot die absolute Mehrheit. Selbst Herr Goldstaub meinte jetzt, dass es mindestens ein Jahr dauern könnte, bis der Spuk vorüber wäre und wieder Ordnung herrschte. Die Villa von Tietz, so erzählte er, hätten Hitlerjungen mit Steinen bombardiert, ohne dass die Polizei eingeschritten wäre! Das Haus der Familie Tietz, deren Mitgliedern viele große Warenhäuser gehörten, war ein riesiger dunkelbrauner Palazzo in einem Park an der Kaiserallee. Als Putti und ich am nächsten Tag uns den Schaden ansehen wollten, waren schon alle Fenster wieder verglast und die Scherben beseitigt. In der Woche darauf flüsterten die Erwachsenen von furchtbaren Misshandlungen, denen die vielen Verhafteten ausgesetzt wären. Vor allem die Kommunisten würden von der SA gefoltert! Wir machten uns Sorgen um Herrn Beek, aber Agnes beruhigte uns: Sie wüsste von Ihi, dass er wohlauf wäre.

Als ich am 1. April, einem Sonnabend, morgens zur Schule ging, stand vor dem kleinen Zigarettenladen an der Ecke ein SA-Mann Posten. An der Schaufensterscheibe klebte ein großes gelbes Plakat: DEUTSCHE! WEHRT EUCH! Kauft nicht bei JUDEN!

Wehren?, staunte ich. Gegen die alte Frau Kohnke, die wegen ihres Hüftleidens am Stock ging und uns manchmal Zigarettenbilder schenkte? In ihrem Laden, neben der Muratti Ariston-Reklame, hing das Bild ihres 1916 vor Verdun gefallenen jüngsten Sohnes … Die Nazis waren doch so begeistert von Krieg, Heldentum und patriotischer Opferbereitschaft – warum taten sie der Frau Kohnke das an?

In der Schule hörte ich, dass der neue Minister für Volksaufklärung und Propaganda, Dr. Goebbels, den heutigen 1. April zum Tag des allgemeinen Juden-Boykotts erklärt hätte – als »Kampfmaßnahme zur Abwehr der Gräuelmärchen, die die Juden im Ausland über das neue Deutschland verbreiteten«. Von diesem Dr. Goebbels hatten mein Vater und Onkel Curt am vergangenen Sonntag gesagt, dieser »üble Hetzer« wage es, sich als »Vertreter der Frontkämpfer-Generation« zu bezeichnen, und wäre dabei nie Soldat gewesen!

In der zweiten Stunde kam Herr Reling, der Schuldiener, ohne anzuklopfen in die Klasse, rief »Heil Hitler« und gab grinsend bekannt, unser Direktor, Dr. Levysohn, ein einarmiger Kriegsinvalide, der unseren höchsten Respekt genoss, wäre »mit sofortiger Wirkung bis auf Weiteres beurlaubt«, ebenso der »Nichtarier« Dr. Bamberger und der »Marxist« Wisselmann, unser Zeichenlehrer.