Vom Lügen und vom Träumen

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Vom Lügen und vom Träumen
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Birgit Müller-Wieland

Vom Lügen und vom Träumen

Roman in sechs Geschichten


Die Drucklegung dieses Buches wurde gefördert

durch die Kulturabteilungen des Landes Oberösterreich

sowie von Stadt und Land Salzburg.


www.omvs.at

ISBN 978-3-7013-1283-2

eISBN 978-3-7013-6283-7

© 2021 OTTO MÜLLER VERLAG SALZBURG-WIEN

Alle Rechte vorbehalten

Satz: Media Design: Rizner.at

Umschlaggestaltung: Leo Fellinger

Für Jan und Maja

Pandora floh mit der Büchse, um die Hoffnung zu bewahren.

Irmtraud Morgner,

Amanda. Ein Hexenroman

Ich hatte das namenlose blaue Boot nicht vergessen, und es hatte auch mich nicht vergessen.

Viet Thanh Nguyen,

Die Geflüchteten

Inhaltsverzeichnis

1.Nun also auch wir

2.Ein ungeheures Lachen über die ganze Welt

3.Von den Gedichthüten

4.Der Geigenbauer

5.Havanna

6.Was ich nicht gesehen habe

***

Schlussakkord

Nachhall

Nun also auch wir

An jenem Abend, der Salomes Leben in ein Davor und ein Danach teilen würde, zündete sie die beiden weißen Kerzen am Tisch und jene am Silberleuchter auf dem Fensterbrett an, während Hannes mit dem Geschirrtuch über der Schulter leise vor sich hin pfiff.

Geschickt hob er mit einem Löffel das Fruchtfleisch aus der ledrigen Avocadohülle, füllte es in eine Schüssel und zerstampfte alles zu einem gelbgrünen Brei, den er mit Salz, Pfeffer und Zitronensaft würzte.

Salome hörte ihn hinter ihrem Rücken hantieren und pfeifen, öffnete ruckartig die Holzschublade am Tisch, in der sie das Besteck aufbewahrten, und legte Messer und Gabel neben die beiden Teller.

„Vergiss die Muskatnuss nicht“, sagte sie, ohne sich umzudrehen. Hannes pfiff weiter, etwas Dynamisches, das sie nicht kannte, sie lächelte.

Die Küche hinter ihr war geräumig mit der Herdinsel in der Mitte, vor ihr der Holztisch mit den Stühlen neben der Kredenz – ein Miteinander von Alt und Neu, so, wie die ganze Wohnung aus Altem und Neuem bestand, hell war und gemütlich.

Kam Besuch von Hannes’ Cousin und seiner Familie, jagten die kleinen Jungs gewöhnlich durch den Flur in die Küche, liefen jeder für sich in entgegengesetzter Richtung durch die vier großen Zimmer, rissen die Türen zu den Bädern auf – beide befanden sich an den jeweiligen Enden der Wohnung –, rannten wieder zurück, „Ich“-brüllend, „IchbinErster!“, um in der Mitte, triumphierend und japsend, vor der Terrassentür aufeinanderzutreffen.

Es war ihr „GroßeWohnung-Spiel“, das Cousin Clemens und seine Frau, mit dünnem Lächeln im Flur stehend, nicht verhindern konnten.

Ja, sie hatten Glück gehabt, damals, als sie die Wohnung gefunden hatten, ein Zufall, ein Tipp vom Freund einer Bekannten von Salomes Arbeitskollegin, eine Bleibe unterderHand, eigentlich unerschwinglich, aber dann doch kaufbar, mit Bürgschaften und Kreditermöglichungen von den Eltern, die damals alle noch gelebt hatten.

Das Aufglimmen von Neid in den Augen jener, die zum ersten Mal die Wohnung betraten, hatten Salome und Hannes gelernt zu übersehen, so wie sie die Fragen nicht hörten, ob eine dermaßen große Behausung nicht zu viel Arbeit mache – und welcher der Räume wohl einmal das Kinderzimmer sein werde.

Über all das lächelten sie hinweg, servierten den Begrüßungssekt, erzählten Renovierungs- und Umzugsanekdoten und flochten scheinbar nebenbei und in Abständen, beim zweiten Gang oder dem Dessert oder zum Schluss, bei der Verabschiedung, die fehlenden Parkmöglichkeiten ein, den Straßenlärm, das sehr alte und deswegen sehr knarzende Parkett, wie die Gäste ja wohl schon den ganzen Abend über bemerkt haben würden, dann noch der Weg zur U-Bahn, und die Nachbarn, tja, sodass die Gäste schließlich mit dem Gefühl nach Hause gingen, sie hätten es in ihrem kleineren und unattraktiveren Heim dann doch tatsächlich besser getroffen als die beiden, die in der riesigen Flügeltür verloren wirkten, wie sie da um drei Uhr oder vier Uhr morgens aneinanderlehnten und den Gästen hinterherwinkten.

Und so gab es irgendwann keine Fragen mehr, nicht zur Größe der Wohnung oder dem Gebrauch der Zimmer und auch keine mehr zum Freitagabend.

„Unser heiliger Abend“, wie Salome und Hannes diesen manchmal nannten, wenn sie zu später Stunde kichernd die zweite Rotweinflasche entkorkten.

Ihn durchzusetzen, hatte anfangs einigen Aufwand erfordert. Bis alle in ihrem Freundes- und Bekanntenkreis wussten, dass es keinen Sinn hatte, sie an diesem Tag einzuladen oder zu einem Theater- oder Kinobesuch zu bewegen, hatte es gedauert.

„Nein“, hatten entweder sie oder er damals vor vielen Jahren immer wieder freundlich gesagt, „vielen Dank, aber freitags feiern wir, wie du weißt, unseren Sabbat“.

Worauf ein „Oh“ zu hören gewesen war oder „Ach, entschuldige“ oder sich eine Stille während eines Telefonats eingestellt hatte, in der die Freunde und Freundinnen offenbar nachgedacht oder an etwas anderes gedacht hatten, oder gar nichts.

Einer hatte gewitzelt: „Habt ihr auch diesen Armleuchter?“, worauf Hannes – in Salomes Augen Übereinstimmendes lesend – liebenswürdig erwidert hatte: „Der bist natürlich du. Schönes Leben noch.“

Auf diese Weise wurde in der Frühzeit ihrer Liebe so manche Freundschaft spontan und in Einverständnis beendet, Vorgänge, die sie nicht bedauerten, Verluste, die im Überschwang ihrer Gefühle füreinander untergingen.

Und diejenigen, die ihnen blieben, hatten die Sache mit dem Freitag bald verstanden.

Natürlich besaßen sie eine Menora.

Eine wunderschöne, aus schlichtem Silber, Hannes hatte sie auf dem Flohmarkt gekauft und stolz nach Hause gebracht. Ohne einander abzusprechen, war sie immer geputzt, ein Schmuckstück, das auf dem Fensterbrett schimmerte, mit einer selbstverständlichen Grandezza auf seinen Einsatz wartend.

Schon am Wochenanfang berieten sie sich, wer dieses Mal für den Freitag einkaufen und kochen würde, oder ob sie Zeit hätten, alles gemeinsam zu tun.

Sie freuten sich auf die Stunden miteinander, das warme Licht, das ihre Gesichter weich machte und Funken in ihre Augen zauberte, auf die Verse aus den Lyrikbänden, die sie einander vorlasen, Lavant, Kaléko, Rilke, Sachs, sie freuten sich auf die Gespräche, in denen die vergangene Woche mit ihren Vorkommnissen, den wichtigen, absurden und nebensächlichen, auflebte, und später, beim Abräumen des Geschirrs, dem Löschen der Kerzen, zur Ruhe gekommen war, eine Ruhe, die beide ins Wochenende mitnahmen und welche zuweilen sogar weiterwirkte, bis Montagfrüh.

*

An jenem Abend also setzten sie sich an den gedeckten Tisch, die Gläser sirrten sacht beim Anstoßen, von den Leinenservietten stieg beim Auseinanderfalten ein zarter Duft von Rosengeranie und Lavendel auf, Stärke.

Sie aßen das Avocadomus und Salat mit Pinienkernen, danach Huhn mit Reis.

„Wir sollten“, sagte Salome, nachdem das Thema Arbeit ausgiebig besprochen worden war, „uns schön langsam Gedanken machen“.

Hannes spießte ein Stück Fleisch auf, kaute, schluckte und fragte:

„Worüber?“

„Schussel“, lächelte sie und führte das Glas zum Mund.

Hannes sah auf seinen Teller, schob Reis auf die Gabel, kam hoch mit seinem noch immer fragenden Gesicht.

„Vi-“, fragte Salome gespielt entgeistert, „et-nam?“

„Oh“, entfuhr es Hannes…“ –

„… Ha Long Bucht? Na Thrang? Hué?“, setzte sie nach –

„Oh, klar, äh …“, Hannes lehnte sich zurück, blies seine Backen auf, „entschuldige, es war ein bisschen viel in den letzten…“ –

„Sicher“, sagte Salome, „alles gut“.

Sie betrachtete seinen braunroten Schopf, dessen widerborstige Haare sie zu durchwühlen liebte, die von Sommersprossen besprenkelte Nase, seine kräftigen, gleichzeitig schmalen Hände, sie beugte sich verschwörerisch über den Tisch:

„Ich habe einige Angebote gefunden, sie sind traumhaft, du musst sie dir später…“ –

Hannes lächelte, nickte, hob die volle Gabel hoch. Aber schon im nächsten Moment kippte sein Blick nach innen, eine Abwesenheit, die Salome amüsierte.

„Vergiss nicht zu essen“, schmunzelte sie.

Als er nicht reagierte, schnippte sie mit Mittelfinger und Daumen vor seinem Gesicht.

 

Hannes’ Blick kam von weit her zurück, so weit her, als erinnerte er sich weder an die nach wie vor erhobene Gabel voll Reis, die zwischen seinen Fingern steckte, noch an sie, Salome.

„He“, sagte sie leise.

Hannes senkte den Arm, legte die Gabel auf den Tellerrand.

Er realisierte ihren fragenden Blick, lächelte und murmelte, indem er das Glas ergriff: „Bin etwas … etwas müde heute…“

„Ja“, erwiderte Salome, „ich auch…“

*

Später, nach dem Aufräumen und Zähneputzen, wollte sie mit ihm schlafen.

Sie hatte es schon tagsüber gespürt, das vertraute Begehren, sobald sie an ihn dachte, ein Sehnen nach seiner Haut und ihren unterschiedlichen Gerüchen, das strenge Wühlen in ihrem Unterleib. Es hatte sich verstärkt durch Hannes’ träge Unerreichbarkeit im Laufe des Abends, sein Zerstreutsein, das ihr Bedürfnis nach besinnungsloser Nähe provozierte.

Er boxte sich sein Kissen zurecht, ohne sie anzusehen, als sie das von der Straßenlaterne erhellte Schlafzimmer betrat, im fliederfarbenen Nachthemd, welches er seit jeher als ihr „Verführungsteil“ bezeichnete.

Sie musste kichern, ja, sie war beschwipst, sie begann leise zu summen, hob ihre Arme, stampfte mit einem Fuß auf und begann sich rhythmisch und aufreizend langsam zu drehen. Sie fühlte den seidigen Stoff an ihren Schenkeln, das leichte Wehen. Ihre Arme, das musste sie nicht im Spiegel sehen, bewegten sich girlandenhaft, graziös, ein Kontrast zu den stakkatoartig tretenden Füßen, die ohne die notwendigen Schuhe nur klägliches Ächzen aus dem Parkett holten. Dafür begleitete immer intensiver werdender Singsang ihren Tanz, sie war geübt darin, Flamenco, seit Jahren schon, und bei jedem ihrer Auftritte hatte Hannes im Publikum gesessen, mit leuchtenden Augen.

Während sie sich nun drehte, sah sie so lange zum Bett, bis sie ihren Oberkörper ruckartig folgen lassen musste. Hannes Kopf schien zu schweben, wie abgetrennt vom übrigen Körper, der bis zum Hals bedeckt war. Als wäre sonst nichts da, nur diese nach oben starrenden Augen in einem Kopf, der im fahlen Licht wirkte, als sei –

Sie erschrak.

Klatschte in die Hände, sprang aufs Bett.

Nun wollte sie ihn ganz bei sich haben, Müdigkeit hin oder her, kichernd riss sie die Decke weg, seine Arme fuhren hoch.

Sie dachte, es sei ein Spiel.

„Klemmi“, flüsterte sie, als er die Decke, unter die sie sich nun zu drängen versuchte, festhielt, „du Klemmi“, kicherte sie, „lass mich zu dir…“

Ob er die Augen offen oder geschlossen hielt, konnte sie nicht erkennen, sah nur, dass er die Bettdecke fixierte mit seinen beiden langen, starken Armen, eng an den pyjamablauen Körper gepresst, das Gesicht nach oben gewandt, stumm, ein Pharao in seiner Kiste, aber auch dieses Bild, das sie ihm lockend an den Kopf warf, erheiterte ihn nicht, wie sie erwartet hatte, nichts amüsierte ihn, im Gegenteil: plötzlich gab er einen merkwürdigen Laut von sich, eine Mischung aus Grunzen und Wimmern.

Ein Tier in der Falle. Und dann ging alles sehr schnell.

*

Sie ist eingeschlafen.

Eingeschlafen am Küchentisch mit seinen Krümeln, der Schale mit den eingetrockneten Müslikörnern, der himmelblauen Tasse.

Dem Handy, das durch ihren Ellenbogen soeben bewegt wird.

Nur widerwillig arbeitet sich Salome aus diesem Zustand heraus, den sie mittlerweile ihren gnädigen Fluchtschlaf nennt, und der sie immer wieder überkommt. Ein plötzlich eintretendes Wegsacken, Ausder Weltgleiten.

Die Arme schmerzen, der Nacken, alles tut weh, was zu lange in dieser einen Position am harten Tisch verharrt hatte – „Kernbuche, tolles Holz“, Hannes’ befriedigter Tonfall füllt ihren Kopf, sein übermütiges Lächeln, damals beim Kauf.

Damals.

Vorsichtig richtet Salome sich auf. Die Übelkeit ist verschwunden, wenigstens das. Ihre Halswirbelsäule knackt, als sie den Kopf leicht bewegt, sie sieht auf die Uhr, eine Dreiviertelstunde! Herrje!, tappt ins Badezimmer, hockt sich auf die Toilette.

„Hier ist der letzte Teil des Dramas.“

Da ist er, der Satz, ja, das sagte der Anrufer als erstes, nachdem sie ihren Namen genannt hatte. Bevor sie eingeschlafen war.

Die Entleerung der Blase ist so erleichternd, dass ihr Tränen in die Augen steigen. Spülung und Wasserhahn rauschen, sie wirft sich kaltes Wasser ins Gesicht, vermeidet den Blick in den Spiegel, bläst eine Strähne seitlich von der Wange.

In der Küche sieht sie auf ihr Handy. Er hat aus Berlin angerufen, klar. Und sich mit Namen vorgestellt, gleich am Anfang, bevor er „Guten Tag. Hier ist der letzte Teil des Dramas“ gesagt hatte.

Was war es nur für ein Name gewesen?

Einsilbig, ganz sicher. Tom? Jan? Ron?

Ach, es hat keinen Sinn.

Argwöhnisch sieht Salome zur Kaffeemaschine, sie ist von braunen Spritzern übersät. Sie nimmt die Kanne aus der Verankerung, flucht leise vor sich hin, stellt sie ins Abwaschbecken.

Auf dem Notizblock, der neben den Magneten am Kühlschrank klebt, ist in ihrer steilen Handschrift zu lesen: Nächste Woche keine Therapie!

Daneben das Foto mit den beiden verschmitzt lachenden Jungs, ohne Eltern. Die rot-weiß-gepunktete Flamencotänzerin mit dem offenen schwarzen Spitzenfächer aus dem Spanienurlaub vom letzten Jahr scheint Salome zu winken. Alle anderen Magnete, verstreut am Kühlschrank, sind wie immer bunt und stumm.

*

Eine Dreiviertelstunde zuvor hatte Salome in ihrer Küche gestanden, das Handy am Ohr.

Mit einem Arm hatte sie sich am Holztisch abgestützt, mit der anderen Hand krampfhaft das Gerät gehalten, aus dem eine unbekannte Stimme gedrungen war.

„Hallo, äh, sind Sie noch da?“

Salome hatte sich gewundert, dass sie die Worte verstehen konnte. Marionettenhaft hatte es ihre Fingerkuppe geschafft, das Lautsprecherzeichen des wackelnden Displays zu treffen.

„Ja.“

Das Wackeln, das hatte sie gleichzeitig mit der Antwort bemerkt, verursachte ihre zitternde linke Hand, aber auch die rechte, in die sie das Gerät nun versuchsweise gelegt hatte, war nicht imstande gewesen, es ruhig zu halten. Schließlich war es ihr gelungen, dieses auf dem Küchentisch zu platzieren, neben der halbvollen himmelblauen Tasse.

„Vielleicht hätten wir uns etwas zu sagen.“

Aus der Tasse war ekelhafter kalter Kaffeegeruch hochgestiegen.

Hannes, hatte Salome gedacht.

Hannes und die Tasse und der Tag im Juli letzten Jahres.

Sie hatte die Tasse mit einem Schlurfgeräusch über den Tisch geschoben, weit von sich.

Der Tag des Anschlags.

„Ich weiß nicht … also…“

Bin so müde, gleich falle ich um –

„Verstehe. Hm, also… Es ist so, dass ich in München zu tun habe, nächste Woche. Ich dachte, wir könnten uns vielleicht kennenlernen.“

Schlafen.

„Ich werde… werde Sie… zurückrufen.“

Das hatte sie mit äußerster Anstrengung hervorgepresst. War das so gemeint gewesen?

Die Übelkeit hatte weiteres Nachsinnen verhindert, eine Übelkeit, die sich schwungvoll in ihrem ganzen Körper verteilt hatte, ein erstaunlich dynamischer Vorgang, der ihr mittlerweile schon vertraut war.

„Es tut mir leid… ich wollte Sie nicht…“

„Ist schon… also… ist schon in Ordnung.“

„Auf Wiedersehen.“

Die Verbindung war vom Anrufer beendet worden, was Salome aber nicht mehr bemerkt hatte.

Denn was nun auf den Tisch gerutscht war, waren ihre ineinandergelegten Arme gewesen, ein stabiles Rechteck aus Muskeln und Knochen, auf das ihr Kopf sinken hatte können, der Kopf, der plötzlich mit Leere gefüllt gewesen war, einer gnädigen Leere, Nussschale, entkernt.

*

Kahl und grau wirkt der Englische Garten in diesen nassen Oktobertagen, passt, denkt Salome, passt hervorragend. Einige Hunde laufen umher, vermummte Menschen folgen ihnen, neonblinkende Turnschuhe an Joggern. Die Betriebsamkeit der Stadt bleibt an den Rändern des Parks zurück, ihr Brummen wird leiser mit jedem Schritt.

Vor dem Kiosk steht ein Mann, der einen roten Schal und eine rote Mütze trägt. Im Näherkommen sieht Salome dicke blaue Jackentaschen, ausgebeult von seinen Fäusten. Sie sieht Jeansbeine, festes Schuhwerk, einen drahtigen, fremden Menschen, den sie gerne in seiner Fremde belassen hätte. Der ihr aber in den letzten Tagen zunehmend im Kopf herumgeschwirrt war und eine geradezu feurige Neugierde in ihr entfacht hatte, welche sie ziellos durch die Wohnung getrieben, schließlich schlaflos gemacht hatte, nahezu nahrungslos.

Sie hatte diese Begegnung nicht mit dem Therapeuten vorbereiten können, sie wunderte sich über ihren Mut.

Der Mann sieht ihr entgegen.

War es das? Mut?

Die rote Mütze und der Schal waren seine Idee gewesen.

„Gut“, hatte sie am Telefon gesagt und dann in einem Spontanentschluss hinzugefügt: „Ocker. Bei mir wird es Ocker sein.“

Plötzlich war ihr der schwarze Mantel samt Kapuze mit Kunstfell, den sie sonst immer trug, als ein zu grelles Statement erschienen. Nur nicht als Trauerklotz auftauchen.

Haltung.

Haltung, Schätzchen, ist nicht alles. Aber viel.

Als sie den Kamelhaarmantel ihrer Mutter aus dem Schrank geholt hatte, war sie kurz unsicher geworden. Sie war vor den Spiegel getreten und hatte gesehen, wie die Farbe ihre Gesichtsblässe betonte. Ein bleiches Dreieck mit zwei Kastanien glühte ihr entgegen.

Sie hatte den Mantel aufs Bett gelegt und im Badezimmer wild entschlossen die Schublade aufgerissen, in der sich die Schminksachen befanden. Sie hatte sich nicht mehr erinnern können, wann sie das letzte Mal Rouge und Wimperntusche aufgetragen hatte, wann ihr wichtig gewesen war, farblich passenden Schmuck in ihren Ohrlöchern zu befestigen.

Sie hatte sich bei ihrer Verwandlung zugesehen, ihre Lippen zusammengepresst, geöffnet, gewischt, geklopft, geprüft.

Sie war hübscher als sie gedacht hatte, hatte dies allerdings festgestellt wie eine Frau, welche soeben die Tür zu einem Waschraum aufdrückt, eine andere flüchtig im Spiegel sieht und erschrickt.

Alles vorübergehend. Gar nicht schlimm.

Nur ein bisschen – wie nannte der Therapeut ihre Zustände? –

Ah, ja. „Depersonalisation.“

*

Er lässt die Hände in den Taschen, als sie in zwei Meter Entfernung vor ihm stehen bleibt und seinen Blick sucht. Seine Augen sind schmal, mattes Braun.

„Tja“, sagt Salome mit ineinander verschränkten beigefarbenen Handschuhfingern, macht ihre Lippen zu einem dünnen Strich, hochgezwirbelt an den beiden Enden.

Sie tritt von einem Stiefelbein aufs andere. Das Ocker in Variationen, das sie von oben bis unten trägt, wird nur unterbrochen von ihrem dunklen, unter der Mütze hervorspringendem Haargewirr.

Jetzt erst schiebt er den Schal nach unten, ein weiches unrasiertes Kinn zeigend, schmale Lippen.

Verlegen lächelt er, sieht kurz auf seine Schuhe und wieder hoch.

„Wollen wir“, fragt sie, „ein bisschen gehen?“

Die ersten Minuten schweigen sie.

Kleine und größere Hunde in verschiedenen Farben und Formen kommen ihnen entgegen oder überholen sie, während sie nebeneinander kräftig ausschreiten, als hätten sie ein Ziel, das schnell erreicht werden muss. Salome marschiert mit erhobenem Kopf, ihre Handtasche fest im Griff.

Er räuspert sich, lässt seine Blicke über die Bäume und Wiesen schweifen, über das verlebte Grün, das schmutzige Gelb.

„Wollen wir uns“, fragt er, „duzen?“

Er heißt Jon, das weiß sie vom letzten Telefonat.

Sie bleiben stehen, sie nickt, beide lächeln verlegen, gehen nach kurzem Zögern weiter.

„Wie“, fragt sie schließlich, „war die Reise?“, und sieht ihn von der Seite an.

„Danke, gut“, antwortet Jon, sich erneut räuspernd.

Er ist mit der Bahn gekommen. „Fliegen ist nicht mehr so…“, wie er am Telefon gesagt hatte.

Sie verlangsamt ihren Schritt, weil ihr Herz hüpft, sie ist dieses Tempo nicht mehr gewöhnt. Er tut es ihr nach, sie halten schließlich unter einer Ulme, passt, denkt Salome, die Ulme passt auch, der Trauerbaum.

Sie drehen sich zueinander.

Jons Blick kommt aus Augen, die sie nun als bernsteinfarben bezeichnen würde.

„Scheiße, was“, grinst er.

Sie sieht ihn stirnrunzelnd an. Er ist Polizist, auch das hatte er ihr am Telefon erzählt. Das Sprechen mit ihm war leichter gewesen in dieser Distanz, eindeutig. Sie wird schon wieder sehr müde.

 

Was will sie eigentlich von ihm?

*

Er habe lange nichts bemerkt, erzählt Jon schließlich.

Sie hatten ja auch getrennte Wohnungen in Berlin, er und, er zögert vorm ersten Aussprechen ihres Namens, Doreen.

Salomes Schritt stockt.

Sie atmet tief ein. Ein und aus.

Auch Jon bleibt stehen, sieht sie an.

Ein und aus.

Wann wird es aufhören? Zumindest besser werden?

Salome beißt sich auf die Lippen. „Doreen“ ist immer noch eine Nadel, die an ihrer Herzwand ritzt.

Zwei Enten fliegen über beide hinweg.

Immerhin, die Nadel ist ein Fortschritt. Die ersten Wochen war der Name ein Dolch, spitzes, zweimaliges Gehacke ins Fleisch: Do – reen.

Als Hannes ihr den Namen in jener Nacht mitteilte, bekam sie einen Lachkrampf. Er saß ruhig vor ihr und sah zu, wie sie Tränen lachte, und als der hysterische Anfall vorbei war, sagte er, er hole nun seinen Koffer.

Es gab keinen Eintrag im Internet von ihr, Doreen Irgendwer, Salome sah es Stunden später. Da hatte sie sich aus der ersten Erstarrung gelöst, konnte sich zumindest wieder bewegen. Sie bespuckte das Display. Klingelte Hannes’ besten Freund Hugo aus dem Schlaf und sagte nur:

„Hast du es gewusst?“

Die Art, wie Hugo „Was… was denn? Weißt du, wie spät es ist?“ krächzte und auf schlaftrunken machte, war ihr Antwort genug, sie legte auf.

Also auch er.

Alles war irreal. Auch er hatte sie hintergangen.

Und wenn alles irreal war, dann konnte auch alles passieren.

Zum Beispiel, dass Hannes zurückkehren würde, bald.

Gab es diese D. überhaupt?

Was nicht im Netz war: Gab es das überhaupt?

Nicht einmal der Name, nicht einmal das.

Ein Kind wackelt ihnen entgegen, ein Vater, Blick in seine Hand, mit der anderen schiebt er den Wagen vor sich her.

„Hoppla“, sagt Jon und bückt sich, als das blauverpackte Kind, vermutlich also ein Junge, fast in ihn hineinläuft.

„Oh“, sagt der Vater einige Meter weiter und lässt das Smartphone sinken.

Wie hübsch die beiden Namen, denkt Salome, Jon und Doreen.

Die Räder des Kinderwagens schmatzen auf dem feuchten Blätterboden, der Junge wird hochgehoben.

Er habe nichts bemerkt von ihrem, Jon zögert und hat die Worte wiedergefunden, also ihrem – Abdriften. Er sieht mit zusammengekniffenen Augen in die Ferne, die Fäuste in der Jacke vergraben, als müsse er über das Wort „Abdriften“ nachdenken. Ob es diesen Vorgang richtig beschreibt, der ihm offenbar immer noch rätselhaft erscheint.

Salome kann nichts anfangen mit diesem Wort. Sicher, im Nachhinein waren ihr Kleinigkeiten aufgefallen, Lieblosigkeiten sogar. Aber, meine Güte! Sie war realistisch genug, um zu wissen, dass sich eine Beziehung im Laufe der Zeit verändert. Wie sagten ihre Freundinnen?

„Man wird härter miteinander.“

„Ehrlicher“, meinte Salome bei diesen Gesprächen, es schien ihr das richtigere Wort zu sein. Ihr war ihre Ehe mit den Jahren immer inniger erschienen. Ehrlich und innig.

„Deswegen“, sagt sie nun zu Jon, „hat es mich auch so kalt erwischt“.

Und dann lacht sie bitter auf:

„Polareiskalt.“

Über ihnen schlagen Flügel, wieder zwei Enten.

Jon haucht seinen Atem in die geröteten Hände.

„Geknallt“, sagt er, „Doreen meinte, es habe…“, nun verzieht er seine Lippen zu einem Grinsen, hebt die Schultern und lässt sie fallen, „… einfach geknallt“.

„Peng“, Salome schaut den Enten spöttisch hinterher, „peng“.

*

Nach der ersten Tasse Kaffee weiß sie, dass Jon Leiter einer Spezial-Abteilung ist. Seine Gruppe hat die Aufgabe, Salafisten für eine Kooperation mit der Polizei zu gewinnen.

Die rote Mütze liegt auf dem Tisch, das Offenbaren seines kahlen Schädels und seines Berufes haben ihren Blick auf ihn verändert. Natürlich äußert er sich nicht näher zu seinen Tätigkeiten. Welchen Preis man für diese Art Zusammenarbeit zahlen muss, welche Gefahren damit verbunden sind. Das sind Fragen, die sie nicht zu stellen wagt.

Er habe sich im letzten Jahr sehr in die Arbeit vergraben, sei auch viel im Ausland gewesen, lächelt Jon.

Gesprächiger wird er, als Salome nach seinem Privatleben fragt.

Acht Jahre zuvor habe er Doreen bei einem Jazz-Konzert kennengelernt.

„Sie war in diesem Club und spielte Trompete. Nach dem Gig ging ich hinter die Bühne und fragte sie nach ihrer Nummer. Sie stellte mir ihre Musiker vor. Alles ihre Brüder“, er lachte auf, „und ich dachte, gut, dann wäre das mit der Familie schon mal geklärt“.

Sie stammten aus der DDR, waren vor ’89 in den Westen gekommen, hatten Einiges durchgemacht. Im Brotberuf war sie Krankenschwester geworden, und in der Freizeit trat sie mit ihrer Brüderband auf. Freiheit sei für Doreen das Wichtigste. Er wäre gerne mit ihr zusammengezogen.

„Tja“, sagt Jon und sieht zu den Propyläen hinüber, wo sich eine Touristen-Gruppe unter Schirmen aneinanderdrängt. Salome folgt seinem Blick.

„Was ist?“, fragt Jon.

Auch andere Mütter haben schöne Söhne.

Salome fasst sich an die Stirn.

Das Gesicht ihrer Mutter schaukelt auf sie zu. Vor ihrem Tod waren sie oft hier gewesen, im Museum, sie hatten danach Kuchen gegessen. Und das Thema Hannes vermieden.

Kochen, das ja. Kochen kann er, Schätzchen.

Wie konnte sie nur glauben, sie könnte an diesem Ort wie ein normaler Mensch umherspazieren, sich niederlassen, Kaffee trinken, einfach so?

Salomes Herz schlägt schneller, sie weiß, wo das enden wird.

Murmelt etwas, will aufstehen.

Und sieht Hannes da draußen, umringt von Leuten, die ihm zuhören. Wie oft hatte sie ihn in den ersten Jahren begleitet, als er neben dem Medizinstudium Stadtführungen anbot.

Jüdisches Leben in München, Räterepublik, Arcisstraße und Königsplatz – Von der Bücherverbrennung zur Musikhochschule, Grete Weil, Oskar Maria Graf…

Jedes seiner Worte wurde verstanden, auch wenn man am Rand der Gruppe stand, selbst das Rumpeln des Verkehrs hatte sie abgefedert, seine gutturale Stimme, die alle mitnahm, in seinen Bann zog. Sie sieht den rötlichbraunen Haarschopf hüpfen, feinstachlig, ihre Handflächen brennen. Hannes’ gelassene Kompetenz, wenn er bei jeder noch so blöden Frage lächelte.

Das war er! Das war er doch! Nicht dein Phantom, Ma.

„Alles in Ordnung?“, fragt Jon.

Und wer hat ihm all das nahegebracht? Der Heilige Geist? Oder wer?

Salome sieht sich als Mädchen lesend in der elterlichen Wohnung und spürt die Verlegenheit, wenn Kinder sie besuchten und fragten, warum sie in einer Bibliothek wohne, sie sieht sich als Erwachsene Unmengen von Kisten auspacken, Kisten voller Bücher, die sie von ihrer Mutter bekommen hatte, nachdem diese in eine kleine Wohnung gezogen war.

Ach, Ma…

Die Wände ringsherum kommen näher. Und von oben die Decke, das ist am schlimmsten. Salome schließt die Augen, was aber, sie weiß es, gar nichts helfen wird. Beim Versuch, sich endlich von diesem Stuhl hochzustemmen, treibt aus ihrem Magen, der ein Krater geworden ist, etwas wie Lava, schießt nach allen Seiten, glühendes Geprassel bis unter die Schädeldecke, ins Gesicht, die Fingerkuppen, Fußspitzen, hinein in jede schockheiße Zelle.

Hannes ist nach Berlin gezogen.

„Zahlen, bitte.“

Zu ihr.

Do – reen.

Jon legt Geld auf den Tisch. Fällt sie in Ohnmacht?

Er stützt sie. Jetzt ist ihr Gesicht eindeutig zu rot, sie atmet schwer, wirkt wie unter Drogen.

Die Leute am Nebentisch –

Salome reißt sich los mit einer Kraft, die sie sich selbst nicht zugetraut hätte, eilt zur Tür, jemand kommt soeben herein, sie ist draußen.

Nur weg hier, wegwegweg. Nach den ersten Schritten beschleunigt sie, fällt nicht um, kann sich aufrecht halten. Weiter, nicht stehen bleiben, gehen, laufen, wenn sie stehen bleibt, gibt es keine Garantie. Die Augustenstraße überqueren, die Abgasluft wegatmen, diese ganze verpestete Luft. Sie wird nicht versteinern, diesmal nicht. Nichts mehr bewegen können, eine Statue sein, festgeschraubt am Asphalt –

Und dann die Blicke und Fragen, kann man Ihnen helfen, das inwendige Gebrüll NEINMIRISTNICHTZUHELFEN, nicht nach hinten sehen, bewegen, bewegen, solange es geht, auch wenn sie jetzt keucht, weiterweiterweiter –

Plötzlich ist er neben ihr, muss schnell gelaufen sein.

In der Hand den Mantel ihrer Mutter.

Jons Atem ist normal, ein durchtrainierter Mensch, während sie alles Mögliche ausstößt, aus jeder Pore, Panik und Scham.

*

Später wird sie sich nur erinnern, wie er „Alles klar, ich bringe dich nach Hause“ sagte und den Arm hob, als er an der Kreuzung ein Taxi sah.

Ihr beim Einsteigen half, sich nach hinten zu ihr setzte und zum Fahrer meinte, er solle losfahren, gleich wisse er die Adresse.

„Nimrodstraße 3“, hüstelte Salome.

Und wie sie es folgerichtig und grotesk zugleich fand, dass sie jener, zu dessen Frau ihr Mann gezogen war, nach Hause brachte.

Dorthin, wo sie lächerlicherweise gedacht hatte, gemeinsam alt zu werden, in „heiterer Würde“, wie sie es immer bezeichnet hatten, sie und Hannes, der „Ihrige“, wie man in der Gegend sagen würde, aus der er kam.

*

„Wer…“, fragt Jon, als sie sich gegenübersitzen und die Tablette, die Salome geschluckt hat, wirkt, „…ist Herr Nimrod?“

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