Loe raamatut: «Macht in der Sozialen Arbeit», lehekülg 5

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Auch wenn heute der Begriff der Macht sich in mancherlei Gebrauch von dieser Vorstellung abgelöst hat und „Macht“ zu einer abstrakten, strukturbedingten Wirkgröße umgedeutet worden ist, so bestehen doch die alltagssprachlichen und ehemals eindeutigeren Konnotationen weiter, die die Phänomene der Macht als Ausdruck eines persönlichen Willens verstanden haben. Wenn wir heute von „Formen der Macht“ sprechen, bleibt dieser Erklärungsbezug wirksam.

Theorien zu Formen der Macht sind in der Fachliteratur vielfältig entwickelt worden. Es ist hier nicht der Ort, eine eingehende Darstellung zu leisten, aber es soll zumindest ein systematisierender Versuch unternommen werden, die Herleitung von Machtformen zu beschreiben. Vor allem soziologische und politologische Theorien der Macht haben eine Reihe von Differenzierungsmodellen hervorgebracht, die teilweise sehr unterschiedliche Kriterien zur Systematisierung heranziehen. Unterschiedlich sind auch die Systemebenen, für die Machtphänomene beschrieben und differenziert werden; theoretische Modelle finden sich auf der Ebene individueller Motiv- und Ressourcenanalysen (hier ist die mächtige Person im Blick), auf der Ebene mikrosystemischer Interaktionen (etwa in Paarbeziehungen), auf der Ebene mesosystemischer Institutionalisierungen (etwa in Organisationen) und auf der Ebene makrosystemischer Beziehungen (etwa zwischen Staaten oder hinsichtlich des Bildungs- oder Rechtssystems einer Gesellschaft).25 Diese übergreifend lassen sich in den Sozialwissenschaften vor allem vier Grundfragen feststellen, auf deren Basis Formen der Macht unterschieden worden sind:

a) Wodurch, d. h. mit welchen Mitteln und über welche Prozesse, wird Macht ausgeübt? Worin bestehen die Quellen und Mittel der Macht, wodurch kann die mächtige Person ihre Ziele erreichen?

b) Durch welche Prozesse entstehen historisch und gesellschaftsdynamisch Phänomene sozialer Ungleichheit, durch die ein soziales Machtgefälle – quasi unabhängig von Personen – sich etabliert?

c) Wie lassen sich Interaktionen (als Machtphänomene) beschreiben, in denen Abhängigkeit zum Ausdruck kommt?

d) Welche Funktion erfüllen die Machtphänomene in individueller, sozialer und politischer Hinsicht?

Wir wollen im Folgenden Ansätze benennen, die der Erörterung dieser Grundfragen zuzuordnen sind.

Ad a): Das erste Unterscheidungskriterium nach den Mitteln und Prozessen ist zweifellos das in der soziologischen und sozialpsychologischen Literatur geläufigste. Es lassen sich hier gesellschaftstheoretisch begründete Modelle wie die Theorie der Einflusshandlungen von Parsons26 oder die Theorie der Steuerungsmedien von Willke27 ebenso finden wie sozialpsychologische Theorien zur Kognitionspsychologie der Macht (French & Raven, Raven)28 oder zur meinungsverändernden Machthandlung (Kelman)29 und vereinzelt sogar eigenständige Versuche in der Theorie der Sozialen Arbeit wie in der systemisch-prozessualen Denkfigur von Staub-Bernasconi30 oder im Relationalen Konstruktivismus und einer Relationalen Sozialen Arbeit von Kraus31. Ein System der Machtquellen, nach welchem sich verschiedene Formen der Macht differenzieren lassen, haben sowohl Krumrey32 als auch Galbraith33 entwickelt. Diese Modelle zeigen Ähnlichkeit mit einer ersten Systematik von Betrand Russell34 aus dem Jahre 1938. Auch die Unterscheidung von „Strafmacht“, „Belohnungsmacht“ und „Legitimationsmacht“ von Paris35 orientiert sich an den verwandten Mitteln der Macht.

Ad b): Mit der Frage der historischen Entstehung von Machtstrukturen setzen sich insbesondere Plessner36, Popitz37, Malinowski38 und Michael Mann39 auseinander. Sie entwickeln, ausgehend von allerdings unterschiedlichen anthropologischen Vorannahmen, entlang der phylogenetischen Evolution des Menschen und der Entwicklungsgeschichte der Gesellschaften ein System unterschiedlicher Prozesse der Machtbildung.

Ad c): Hierher gehören marxistische Strukturtheorien zur Ausübung sozialer Macht („Macchiavellismus“ à la Althusser oder Poulantzas) und mikrosoziologische, interaktionistische Konzepte zur machtgeprägten Interaktion. Zu erwähnen sind hier insbesondere die einschlägigen Schriften von Goffman40, aber auch die Arbeiten zur „Interaktionsmacht“ von Paris und Sofsky.41 Auch das figurationssoziologische Modell der Machtdifferentiale von Elias42, das Abhängigkeitsstrukturen und Durchsetzungschancen als Ergebnis sozialer Ungleichheit interpretiert, oder das Konzept der Strukturellen Gewalt von Johan Galtung43, das die ungleiche Verteilung von Machtverhältnissen mit den tatsächlichen Lebenschancen der Individuen in Verbindung bringt, könnte man in diesen Theoriekomplex einordnen.

Ad d): Modelle, die von der Frage nach der Funktion von Machtphänomenen ausgehen, finden sich in so unterschiedlichen Ansätzen wie in den psychoanalytischen Konzepten von Alfred Adler, von Arno Gruen44 oder Hans Strotzka45 (im Blick auf das Individuum), in Pierre Bourdieus Theorie der feinen Unterschiede46, Peter Baumanns Herleitung von Formen der Macht aus den Absichten der Mächtigen47 und dem systemtheoretisch-soziologischen Konzept von Luhmann48, in welchem Macht als Kommunikationsmedium gefasst wird. Der amerikanische Nationalökonom John Kenneth Galbraith49 hat den Versuch unternommen, drei Formen der Machtausübung aus dem Erleben der Mindermächtigen heraus zu differenzieren. Diese verschränkt er mit den Machtressourcen der Mächtigen: Persönlichkeit, Besitz/Eigentum und soziale Organisation. Die von Dietmar J. Wenzel erarbeitete Unterscheidung von 50 Formen der Macht beinhaltet zahlreiche funktionale Machttypen, sie greift aber auch auf die Fragen zurück, worin Macht zum Ausdruck kommt und was durch sie erreicht werden kann.

All diese Ansätze können hier nicht im Einzelnen dargestellt werden. Es lassen sich aber eine Vielzahl von Übereinstimmungen zwischen ihnen erkennen, die sich zusammenfassend herausarbeiten lassen, wenn man darauf achtet, die Ebenen der systematisierenden Fragestellungen nicht durcheinander zu bringen. Wir wollen im Folgenden die wichtigsten Formen von Macht aus einem Vergleich ausgewählter Modelle von Krumrey, Popitz und Galbraith herausstellen.50 Als Ergebnis dieses Vergleiches macht es Sinn, zumindest fünf Formen der Macht zu unterscheiden, unter welche andere zu subsumieren wären51:

a) physische Macht oder Aktionsmacht: Diese tritt entweder als physische Verfügungsmacht über den Körper des anderen auf, die sich als tatsächliche Gewalt oder Androhung physischer Gewalt52 äußern kann, oder – als quasiphysische Macht – in Gestalt eines handlungsbestimmenden Charismas (charismatische Macht)53, welches einer bestimmten Person zugeschrieben wird, Unterwerfung unter den Willen dieser Person einfordert und eng festgelegte Handlungen induziert. Ein Beispiel für letzteres ist etwa die Nachahmung von Leitpersonen (Stars) durch ritualisierte Handlungen.54

b) ökonomische oder instrumentelle Macht: Sie ist zunächst Ressourcenmacht, d. h. eine Macht, die aus der Verfügung über für den/die Beherrschten wichtige Ressourcen erwächst.55 Kennzeichnend ist, dass der/die Mächtige die Gewährung dieser Ressource an Bedingungen knüpft und die Ressourcenmacht damit in die Form einer repressiven oder kompensatorischen Interaktionsmacht56 übergeht. Sie tritt dann entweder (repressiv) in der Form der Drohung oder tatsächlich der angekündigten Bestrafung oder (kompensatorisch) in Form der in Aussicht gestellten Belohnung auf. Dieser Unterscheidung entspricht bei Paris die Gegenüberstellung von „Strafmacht“ und „Belohnungsmacht“.

c) autoritative oder affektiv begründete Macht (Beziehungsmacht): Sie ergibt sich aus der Fähigkeit der Mächtigeren, affektive Bedürfnisse der Mindermächtigen zu befriedigen und den Mindermächtigen als wohlwollende Führungspersonen gegenüberzutreten. Sie gründet damit wesentlich auf Vertrauen, der Anerkennung einer Überlegenheit und auf einem hoch eingeschätzten allgemeinen Wert der interpersonalen Beziehung. Affektiv begründete Macht spielt nicht nur eine große Rolle in pädagogischen Interaktionsverhältnissen und in Beziehungen zu orientierungsbeeinträchtigten Personen, sondern überhaupt in informellen Beziehungen im Alltag. Wichtig für die helfenden Berufe: Die Hilfsbereitschaft selbst, das Wohlwollen und die zugesprochene Fähigkeit helfen zu können produzieren schon einen affektiven Prozess der Unterwerfung seitens des Mindermächtigen.

d) positionale oder organisationale Macht: Sie leitet sich unmittelbar aus den Rollen einer Person ab, die mit ihrer Position in einer sozialen Institution oder Organisation verbunden sind. Sie ist einerseits durch die Rechte und Pflichten in dieser Position begründet, andererseits durch die soziale Stellung im Organisationsgefüge (beispielsweise in der Hierarchie von Organisationsebenen) und durch die formellen und informellen Kommunikationsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der Organisation.

e) wissensmäßige oder datensetzende Macht: Paris nennt sie die „Legitimationsmacht“. Es ist die Macht, der es gelingt, zu überreden und zu überzeugen. Der Vorsprung an Wissen und Erfahrung erlangt Anerkennung bei den Mindermächtigen. Zu diesen Machtformen gehört auch die „Definitionsmacht“, d. h. die Macht, anderen vorzuschreiben oder faktisch zur Geltung zu bringen, wie ein Sachverhalt, ein Zustand, eine Entwicklung oder ein Problem zu verstehen sei. Rhetorische Fähigkeiten erhöhen hier das Machtpotenzial, indem sie die Vertrauenswürdigkeit und Wichtigkeit von Aussagen bestärken und so die „Setzung der Daten“ zur „Durchsetzung“ weiterführen.

2 Machtbegriff und Machtverhältnisse aus konstruktivistischer Sicht

2.1 Die Unmöglichkeit instruktiver Interaktion zwischen autopoietischen Systemen

a) Humberto Maturana – Informationelle Geschlossenheit und Grenzen der Einflussnahme

Maßgeblich für eine konstruktivistische Erörterung des Konstruktes „Macht“ ist das Verständnis von lebenden Systemen als selbstorganisierte, autopoietische Systeme. Selbstorganisierte Systeme entwickeln ihre je aktuellen Strukturen zwar auf Veranlassung von Perturbationen von außen, formativ bestimmt werden diese Strukturen allerdings allein durch jene Zustände, über die das System vorher schon verfügte: Strukturen erwachsen aus Strukturen, sie nehmen nichts von außen auf und können sich durch äußere Verhältnisse auf keine Weise steuern lassen. Kurzum: Autopoietische Systeme operieren „strukturdeterminiert“.

„Lebende Systeme sind strukturdeterminierte Systeme. Als solche lassen sie keine instruktive Interaktion zu, und alles, was in ihnen geschieht, geschieht als eine strukturelle Veränderung, die in jedem Augenblick in ihrer Struktur begründet ist, sei es im Rahmen ihrer eigenen Dynamik, sei es ausgelöst, aber nicht spezifiziert, durch die Umstände ihrer Interaktionen. Mit anderen Worten: Nichts, was außerhalb eines lebenden Systems liegt, kann innerhalb dieses Systems bestimmen, was darin geschieht, und da der Beobachter ein lebendes System ist, kann nichts, was außerhalb des Beobachters liegt, in ihm oder ihr bestimmen, was in ihm oder ihr geschieht.“57

Die Grundlage dieser Operationsweise bildet die „informationelle (operative oder kognitive) Geschlossenheit“ autopoietischer Systeme. Lebende Systeme emergieren Information im Zuge ihrer Strukturveränderungen, d. h. sie entwickeln Zustände, auf die sie immer wieder zurückgreifen können (was einem außen stehenden Beobachter als erfahrungsbezogenes Wissen erscheint). Sie können jedoch auf keine Weise diese Zustände veräußern, ebensowenig, wie sie Informationen aus der Umwelt oder über das Verhalten eines anderen autopoietischen Systems aufnehmen können. Dies bedeutet in letzter Konsequenz: Es gibt keine Übermittlung von Information, auch nicht zwischen lebenden Systemen. Vielmehr existiert Information immer nur innerhalb der organisationellen Grenzen eines lebenden Systems. Kurzum: Lebende Systeme können andere lebende Systeme nicht auf eine Weise beeinflussen, die auf der Übermittlung von Information beruht und deren Strukturveränderungen formativ determiniert – kurzum: Sie können diese nicht „instruieren“. Macht in Interaktionsverhältnissen kann also nicht dadurch wirken, dass Mächtige das Denken und Wollen von Mindermächtigen unmittelbar instruieren.58 Vielmehr muss ihre Wirkung darauf beruhen, dass ihr innerhalb der Strukturbildung der Mindermächtigen eine Bedeutung zukommt.

b) Heinz von Foersters „Triviale Maschinen“ – Als-ob-Interaktionen

Was geschieht, wenn lebende Systeme andere lebende Systeme so behandeln, als ob sie instruierbar wären? Wie kein anderer hat sich Heinz von Foerster mit der Frage auseinandergesetzt, wie Interaktionen aussehen, in denen Menschen wie funktional durchsichtige Automaten, wie „triviale Maschinen“, wie er sie nennt, behandelt werden (oder sich selbst als solche wahrnehmen). Als Beispiel solcher Interaktionsverhältnisse hat er dabei vor allem das Lehrverhalten von LehrerInnen thematisiert. Lehrende, die ihre SchülerInnen wie „triviale Maschinen“ behandeln, schreiben sich offenbar nicht nur die Fähigkeit zu, die kognitiven Strukturen und Veränderungspotentiale ihrer SchülerInnen zu kennen, sondern auch die Macht, deren Gedanken und Vorstellungen durch (vorwiegend verbale) Instruktion bestimmen zu können.

Das Kernanliegen in von Foersters Erörterung der Machtfrage ist die Problematisierung eines ontologisch unangemessenen Modells von den Lernvoraussetzungen von Edukanden seitens der Lehrenden. Die falsche Modellierung bezieht sich dabei vor allem auf die Vorannahmen hinsichtlich der kognitiven Erreichbarkeit der lernenden Systeme, der Verarbeitung von Informationen und der Herstellung von Willensbildungsprozessen bei diesen Systemen. Von Foerster kritisiert zunächst das „Bild“, das zuweilen Lehrende von SchülerInnen haben, dann aber auch die Praktiken, die scheinbar stimmig aus diesem Bild erwachsen.

„Ein Großteil unserer institutionalisierten Erziehungsbemühungen hat zum Ziel, unsere Kinder zu trivialisieren. (…) Da unser Erziehungssystem daraufhin angelegt ist, berechenbare Staatsbürger zu erzeugen, besteht sein Zweck darin, alle jene ärgerlichen inneren Zustände auszuschalten, die Unberechenbarkeit und Kreativität ermöglichen. Dies zeigt sich am deutlichsten in unserer Methode des Prüfens, die nur Fragen zulässt, auf die die Antworten bereits bekannt (oder definiert) sind und die folglich vom Schüler auswendig gelernt werden müssen.“59

Lernende wie „triviale Maschinen“ behandeln, heißt von der Annahme auszugehen, dass einem bestimmten „Lehr-Input“ seitens der Lehrenden ein bestimmter „Lern-Output“ bei den SchülerInnen folgen müsse – nicht anders als bei einem Zigarettenautomaten sich die Zugfächer öffnen lassen, wenn eine bestimmte Zahl von Münzen eingeworfen worden sind, weil die konstruierten Mechanismen des Apparates dies nicht anders zulassen. Ob der/die Lehrende die Macht hat, die kognitiven Strukturen seiner SchülerInnen in seinem/ihrem Sinne zu bestimmen, hängt nach diesem Modell allein davon ab, ob er/sie die richtigen Mittel wählt.

Angesichts der Strukturdeterminiertheit kognitiver Systeme ist diese Sichtweise allerdings einer Fehleinschätzung: Es ist keine Frage der Wahl der richtigen Mittel, ob Lehrende die kognitiven Strukturen der Lernenden bestimmen können – dies ist grundsätzlich nicht möglich. Als die richtigen Mittel erweisen sich vielmehr post hoc jene, durch die anschlussfähige Strukturirritationen provoziert werden, welche einen Lernerfolg hervorbringen können – dieser freilich kann sehr anders aussehen als der von den Lehrenden erwartete Lernerfolg. Denn der Output nicht-trivialer Maschinen (autopoietischer Systeme) hängt nicht allein vom Input, sondern auch von den internen Zuständen und der Selbstorganisation des Systems ab; mit Maturana zu sprechen, er ist der Strukturdetermination unterworfen.

Da Machtprozesse selbstverständlich auf einen Einfluss auf lebende Systeme hin ausgerichtet sind, deutet sich hier schon ein erstes Dilemma an: Soll es möglich sein, dass durch „Macht“ etwas gelingt, was ansonsten für autopoietische Systeme ausgeschlossen ist, nämlich Strukturveränderungen des Systems von außen zu bestimmen? Oder liegt der Beobachtung von Machtprozessen eine Täuschung zugrunde, die autonome Strukturveränderungen fälschlicherweise als Resultat von äußeren Einflüssen erscheinen lässt?

Eine weitere Grundannahme muss an dieser Stelle eingeführt werden: Auch informationell geschlossene Systeme sind existenziell von ihrer Umwelt abhängig – in materieller und energetischer Hinsicht. Die Gefahr, materiell und energetisch nicht mehr versorgt zu werden, stellt daher für informationell geschlossene Systeme eine ständige Bedrohung dar; aus biologischer Sicht ist diese Bedrohung die primäre Veranlassung für Strukturveränderungen überhaupt. Die Innen-Außen-Relation autopoietischer Systeme wird durch zwei biologische Prinzipien bestimmt: a) Zustände, die als Gefährdung der Selbsterhaltung erlebt werden, repräsentieren für autopoetische Systeme Perturbationen, die in der Regel – aus Sicht eines externen Beobachters – auf Veränderungen äußerer Parameter zurückgeführt werden und Strukturveränderungen induzieren, b) Strukturveränderungen zielen darauf ab, das Verhältnis des Systems zur Umgebung zu stabilisieren, d. h. Strategien zu etablieren, die die Oberfläche des Systems so organisieren, dass weitere Perturbationen unterbleiben. Einer/m außenstehenden BeobachterIn erscheinen diese Oberflächenveränderungen als Anpassung an Umweltanforderungen und damit als Wirkung der Umwelt auf die Struktur des Systems.

c) Björn Kraus – „Instruktive“ und „destruktive“ Macht

Unsere Ausgangsfrage war: Was geschieht, wenn lebende Systeme andere lebende Systeme so behandeln, als ob sie instruierbar wären? Eine erste vorsichtige Antwort lässt sich u. E. auf der Grundlage dieser Prinzipien formulieren: Die Trivialisierung des Interaktionsverhältnisses „gelingt“ – dem Anschein nach – dadurch, dass die Beschreibung eines erwünschten Verhaltens durch die Instruierenden mit einer Bedrohung der Selbsterhaltung (im weitesten Sinne) verschränkt wird, mit anderen Worten derart, dass das instruierte Subjekt eine „Verhaltensoberfläche“ organisiert, die weitere Perturbationen dadurch vermeidet, dass sie nach Möglichkeit die Verhaltenserwartungen des Instruierenden erfüllt. Dies ist jener Grundmechanismus der „Selbstunterwerfung“, der zwar „autonom“ organisiert wird, aber zugleich auf eine integrative, dem eigenen Willen entsprechende Strukturdynamik verzichtet. „Trivialisierte“ Subjekte verhalten sich daher nicht wie „authentische Persönlichkeiten“, sondern wie Pferde am Zügel des Kutschers.

Mit dem Dilemma von scheinbarer und tatsächlicher Beeinflussbarkeit durch Machtmittel beschäftigt sich beispielsweise der Ansatz von Björn Kraus. Er führt zunächst die Unterscheidung einer Form der Macht durch Reduktion von Möglichkeiten (im Sinne von Verhaltens-und Orientierungsspielräumen) und einer Form der Macht durch Determination des Verhaltens oder Denkens einer anderen Person ein.60 Erstere Form nennt er „destruktive Macht“, zweitere „instruktive Macht“, „instruktiv“ nämlich insofern, als es hier tatsächlich möglich wird, Selbstunterwerfung faktisch beobachtbar zu erreichen. Diese Unterwerfung vollzieht sich im Feld konsensueller Bereiche und sie ist als solche ein „autonomer“ Akt (Verweigerung ist möglich), auch wenn das Ergebnis der Handlungsentscheidung sich offensichtlich am fremden Willen orientiert. Erreicht wird sie mit Mitteln der „extrinsischen Motivation“, durch Bedrohung, Ankündigung von Belohnungen oder Strafen etc., also mit Mitteln, die die Berücksichtigung des fremden Willens als notwendige Voraussetzung der Selbsterhaltung (im weitesteten Sinne, d. h. auch schon der Interessen) der Mindermächtigen instrumentalisiert. Gegenüber destruktiver Macht, so Kraus, ist Verweigerung nicht möglich, denn sie wirkt in dem Sinne „destruktiv“, als sie Möglichkeiten zu alternativen Verhaltensweisen und Denkweisen erst gar nicht entstehen lässt. Sie vollzieht sich nicht im Feld konsensueller Bereiche, sondern als Selektionsprozess, an dem der/die Mindermächtige nicht beteiligt ist – als Selektion raumzeitlicher Tatsachen (physiologisch) und als Selektion von Informations- und Wissenszugängen (kognitiv). Destruktive Macht verhindert auf physischer Ebene Handlungs- und Entwicklungsoptionen, auf kognitiver Ebene Wissen und Wirklichkeitskonstruktionen, damit Informiertheit, Mündigkeit und Bildungschancen. Entscheidend ist für Kraus, dass nicht nur die Kategorie instruktive Macht, sondern auch die Kategorie destruktive Macht keine Tatsachen, sondern relationale Konstruktionen beschreiben. Für beide Formen der Macht gilt somit, dass sie nicht objektiv erkannt werden können, sondern relational bestimmt werden müssen.61

2.2 Gregory Bateson – Macht als konstruierte Selbstunterwerfung

Für die konstruktivistische Diskussion zum Thema „Macht“ bilden einige gegenüber dem Alltagsdenken recht provozierende Äußerungen des Altvaters kons­truktivistischer Erkenntnistheorie Gregory Bateson den Ausgangspunkt. Zunächst steht da die Überzeugung, dass Macht dadurch wirksam werde, dass der/die Mindermächtige der/dem Mächtigen Macht zuschreibe.62

Batesons Sicht des seitens der Beherrschten konstruierten Machtmythos ist recht lapidar: Die Gehorsamen unterwerfen sich den Mächtigen, weil sie ihnen eine generelle Macht unterstellen und weil sie ihren Gehorsam als unausweichlich verstehen. Dass die Beherrschten zuweilen die Machtmittel der Mächtigen differenziert studieren, um eine realistische Einschätzung ihrer Abhängigkeitssituation zu erhalten, dass sie die Legitimität von Bevormundungsansprüchen prüfen und damit die Machtansprüche begrenzen oder dass sie sich in institutionellen Handlungskontexten über Verfahrensregeln und Kompetenzen informieren, die sie im Dienste ihrer eigenen Anliegen akzeptieren wollen, solcherlei „Konstruktionsverfahren“ finden hier keine Erwähnung.

Die Interpretation von Macht bei Bateson etabliert eine logisch paradoxe Situation: Bateson betrachtet die Machtmetapher als gefährlich für die Interaktion zwischen Menschen, nicht weil sie seitens der/die Mächtigen einen Anspruch auf Macht beinhaltet, sondern weil sie die von der Macht Betroffenen als Mindermächtige aus ihrer Verantwortung entlässt. Letztere warten gewissermaßen in Passivität auf die Wirkungen der Macht und versäumen es somit, selbst aktiv zu werden. In therapeutischen Situationen lähmt solche selbst verantwortete Hilflosigkeit die notwendige Mobilität des Klienten/der Klientin und deshalb kann Bateson sagen:

„Die Macht selbst korrumpiert nicht so sehr wie der Mythos der Macht.“63

Durch diese Ansicht, dass Macht allein auf dem Anerkennungsprozess der Beherrschten beruhe, überschreibt Bateson die Verantwortung für die Entstehung von Bevormundung, Unterwerfung und Gehorsam faktisch einseitig den Beherrschten. Die Frage nach dem Anteil der Mächtigen an der Entstehung der Machtmetapher, geschweigedenn der Machtstrukturen, stellt sich bei Bateson offenbar ebenso wenig wie die Frage nach den sozialen Bedingungen und Funktionen von Machtverhältnissen. Leistet Bateson mit seiner Interpretation von Macht so nicht einen Beitrag zur Selbstverschleierung64 von faktischen Machtstrukturen und macht er die Folgen eines möglichen Machtmissbrauchs damit nicht uneinklagbar?

Es kann nicht verwundern, dass Batesons Position heftige Kritik hervorgerufen hat, die von verschiedenen Seiten her artikuliert worden ist.65 Levold hat darauf hingewiesen, dass das einseitige Verantwortlichmachen der Mindermächtigen für die Schaffung des Machtmythos nicht nur dazu verführe, faktische Machtstrukturen in therapeutischen Beziehungen nicht zur Kenntnis zu nehmen und den Umgang mit Machtzuschreibungen durch die Klientel zu vernachlässigen, sondern auch den kritischen Blick auf die Machtinteressen führender Gruppen und Institutionen und auf ihre Praxis der „semantischen Entsorgung“ von Ausbeutungs- und Unterdrückungsmechanismen aus der Welt zu schaffen.66

2.3 „Physische Macht“ und „Provokationsmacht“: Zwei konstruktivistische Optionen zum Machtbegriff

Nun hat Bateson von Anfang an „Macht“ als eine Metapher aufgefasst, die im Erklärungskontext der klassischen Physik ihren Sinn entfalte, aber in der Anwendung auf die Beschreibung oder Erklärung menschlicher Interaktionen notwendigerweise zu (epistemo-)logischen Irrtümern führe.67 Was Bateson also im Wesentlichen kritisiert, ist die Verwendung einer unzureichenden Metapher, eines unpassenden Bildes von den Einflussmöglichkeiten „Mächtiger“, welches es erlaubt, die von Macht Betroffenen aus ihrer Verantwortung für ihre eigenen Entscheidungen zu entlassen. Im „Mythos der Macht“, wie ihn Bateson nennt, unterwerfen sich die Mindermächtigen implizit einem Menschenbild und damit Selbstbild, welches die Autopoiese ignoriert. Zugleich „ontologisieren“ und „mystifizieren“ sie die Quellen der Macht und machen sie damit unanfechtbar.

Bateson hat herausgestellt, dass die „Machtmetapher“ nur in der Sprache eines Beobachters/einer Beobachterin existieren und keine ontologische Legitimation beanspruchen kann. Als eine Metapher, die das Faktum selbstregulativer Strukturdetermination ignoriert, ist sie in der Anwendung auf lebende Systeme unpassend und mithin gefährlich.

Nichtsdestotrotz lassen sich aus der Perspektive außenstehender BeobachterInnen u. E. unter Anwendung der Machtmetapher auch bei Respektierung der autopoietischen Organisation lebender Systeme Beschreibungen gewinnen, die die Möglichkeit von Macht begrenzen und präzisieren. Der physikalische Begriff der Macht („power“, zu Deutsch eher „Kraft“) impliziert die – eventuell messbare – Wirksamkeit eines Einflussfaktors auf das phänomenale Verhalten (etwa Beschleunigung) oder die Zustandsänderung (etwa Deformation) eines physikalischen Systems. Der newtonschen Mechanik entsprechend bedeutet „power“ allgemein die einem physikalischen System zugeschriebene Fähigkeit, in einem anderen physikalischen System etwas zu bewirken. Diese Wirkung auf das Verhalten oder die Zustandsänderung des anderen Systems ist unmittelbar und determinativ.

Bezieht man diese Implikationen des physikalischen Powerbegriffes unter konstruktivistischen Prämissen auf einen Begriff von Macht in der zwischenmenschlichen Interaktion, so lassen sich vornehmlich zwei Aspekte für eine gewinnbringende Diskussion herausheben:

1. Die Feststellung, dass die Präsenz eines bestimmten physikalischen Systems oder Veränderungen in seiner Struktur auf ein anderes System eine Wirkung hätte, setzt einen Beobachter/eine Beobachterin voraus, der/die sowohl diese Systeme als solche wie auch spezifische Veränderungen in ihrer Struktur, in ihrem Erscheinungsbild unterscheidet. Dieser Beobachter/diese Beobachterin schließt dabei die Bedeutung anderer Systeme hinsichtlich der Veränderung des betroffenen Systems aus und postuliert einen Zusammenhang zwischen strukturellen Parametern der beiden ausgewählten Systeme. Dieser Zusammenhang müsste sich prinzipiell mittels physikalischer Gesetze beschreiben lassen.

Die physikalische Beschreibungsperspektive setzt naturwissenschaftlicher Tradition folgend offenbar „unabhängige“ BeobachterInnen voraus, was insofern nicht verwundert, als die Beobachtungsgegenstände in der Physik in der Regel keine bewusstseinsfähigen Subjekte sind, die sich selbst beobachten könnten. Im Blick auf menschliche Interaktionen besteht nun aber die Möglichkeit, dass die Beobachtung von Machtphänomenen durch die an ihrem Zustandekommen Beteiligten, also durch die Mächtigen oder durch die von Macht Betroffenen, als Selbstbeobachtung vollzogen werden kann; es kann dabei vorkommen, dass ihre Beschreibungen nicht mit der Beobachtung durch einen Dritten übereinstimmen. Möglicherweise wird der Einfluss auf andere von den Mächtigen gar nicht wahrgenommen, obschon ihn Dritte und auch die Betroffenen selbst bemerken, möglicherweise erkennen die von Macht Betroffenen ihre Abhängigkeit nicht, obschon Dritte und auch die Mächtigen die Einflussmöglichkeiten sehen, und möglicherweise erkennen Dritte Machtbeziehungen, die von Mächtigen wie auch von den Betroffenen nicht wahrgenommen werden. Differenzen sind in allen Varianten denkbar. Es stellt sich daher die Frage, ob es ein von der Beobachtung durch die Beteiligten unabhängiges Kriterium zur Feststellung von Macht geben kann oder ob irgendein/e BeobachterIn zur Feststellung der Macht besonders kompetent ist, bzw., wenn dies nicht so ist, wie aus wissenschaftlicher Perspektive mit tatsächlichen Differenzen in der Zuschreibung von Macht umzugehen ist. Daneben muss man verfolgen, inwieweit die Wirksamkeit von Machtbeziehungen von einem Bewusstsein der Macht abhängig ist und inwieweit daher eine besondere Kompetenz zur Feststellung von Macht gerade jenen zukommen muss, die von ihr betroffen sind oder sie ausüben. Es hat also – auch konstruktivistisch – einen Sinn, Macht zu „beobachten“ und Gesichtspunkte (Unterscheidungskriterien) zur Analyse von Machtverhältnissen zu entwickeln.

2. Zur Aussage: „Diese Wirkung auf das Verhalten oder die Zustandsänderung des anderen Systems ist unmittelbar und determinativ.“ Die Anwendung der Machtmetapher auf Bedingungsverhältnisse menschlicher Interaktion impliziert ebenso zunächst einmal Unmittelbarkeit und determinative Wirksamkeit eines kommunikativen Einflussfaktors. „Unmittelbarkeit“ bedeutet dabei, dass die Wirkung des Faktors nicht durch ein drittes System vermittelt wird, „determinative Wirkung“ bedeutet, dass der Einfluss des initiativen Systems nicht durch eigendynamische Faktoren des betroffenen Systems gebrochen werden kann und notwendigerweise eine bestimmte, empirisch feststellbare Wirkung auf das betroffene System zeitigt. Beides scheint für strukturdeterminierte Systeme nur für den Fall denkbar, dass der Einfluss des initiativen Faktors selbst außerhalb der Grenzen der autopoietischen Organisation des Systems liegt. Allerdings – und diese Feststellung ist für die nachfolgende Diskussion von zentraler Bedeutung – lässt sich im Blick auf autopoietische Systeme sowohl ein Einfluss annehmen, der durch Strukturveränderungen kompensiert werden kann (strukturelle Irritation), als auch ein solcher, der durch strukturelle Anpassung des betroffenen Systems nicht kompensiert werden kann (physikalische Destruktion).68 Dass hingegen der Prozess der Struktur­entwicklung selbst unmittelbar gesteuert und determinativ auf eine bestimmte Endstruktur hingeführt werden könnte, ist für autopoietische Systeme grundsätzlich auszuschließen. Die Machtmetapher im Sinne eines physikalischen Machtbegriffes ist daher bei autopoietischen Systemen für die Beschreibung und Erklärung von Interaktionswirkungen in vollem Sinne (d. h. unter Beanspruchung aller Postulate) nur für den Fall einer physischen Veränderung bzw. Schädigung oder einer anderen physikalisch relevanten Gewalteinwirkung (etwa durch Festhalten, räumliche Verbringung, Eingriff in organische Funktionen etc.) berechtigterweise in Rede zu bringen. Sie ist in einem eingeschränkten Sinne aber ebenfalls verwendbar für den Fall, dass ein System durch seine Präsenz oder durch bestimmte Veränderungen im Milieu notwendig eine Irritation eines anderen, autopoietischen Systems bewirkt. Als determinativ gilt für diesen Fall nicht der Einfluss hinsichtlich einer bestimmten strukturellen Reaktion seitens des beeinflussten Systems, sondern allein die Gewissheit einer Irritation überhaupt (Provokation). Allerdings können sich solche Provokationen in Handlungssituationen vollziehen, die von konsensuellen Bereichen in hohem Maße geprägt sind und damit bestimmte Erwartungsmuster der beteiligten InteraktionspartnerInnen auf den Plan rufen. Eine erwartungsgemäße Reaktion von InteraktionspartnerInnen kann hier als determiniert durch die Aktion der anderen erscheinen.