Loe raamatut: «Eine Spur von Mord », lehekülg 2

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KAPITEL DREI

Dank des Blaulichts auf ihrem alten Prius bahnte Keri sich mühelos ihren Weg durch den Stadtverkehr. Ihre Finger umklammerten das Steuerrad, Adrenalin pumpte durch ihren Körper. Die Lagerhalle lag mehr oder weniger auf dem Weg nach Beverly Hills, weswegen sie die Suche nach ihrer Tochter, die seit genau fünf Jahren verschwunden war, der Suche nach einer Frau, die gestern zuletzt gesehen wurde, in diesem Moment vorzog.

Dennoch musste sie schnell sein. Brody war schon unterwegs und sie wollte nicht mit allzu großer Verspätung beim Haus der Burlingames eintreffen, sonst würde Brody es mit Sicherheit brühwarm an Hillman weitergeben.

Keine Ausrede wäre ihm zu schade, damit er nicht mit ihr zusammen arbeiten musste. Es wäre genau sein Stil, sich wegen einer Verspätung zu beschweren. Sie hatte also nur einpaar Minuten Zeit, sich die Lagerhalle anzusehen.

Sie stellte ihr Auto an der Straße ab und ging direkt auf den Haupteingang zu. Die Lagerhalle stand zwischen einem Unternehmen für private Lagerplätze und einer Autovermietung. Das elektrische Summen eines großen Strommastes auf der gegenüberliegenden Straßenseite war verstörend laut. Keri hatte das Gefühl, durch ihre bloße Anwesenheit Krebs zu bekommen.

Die Lagerhalle war mit billigem Maschendraht umzäunt, der wohl Obdachlose und Junkies abschrecken sollte, aber für Keri war es nicht schwer, durch eine Lücke hindurch zu schlüpfen. Als sie sich dem Eingang des Gebäudes näherte, bemerkte sie das verstaubte Schild im Dreck liegen. Wir erhalten Ihre Kostbarkeiten.

In der leerstehenden, halb eingefallenen Halle befand sich jedoch nichts Kostbares. Genau genommen befand sich dort gar nichts, außer ein paar umgeworfene Klappstühle und Brocken von eingerissenen Gipswänden. Die Halle war komplett ausgeräumt. Keri ging durch den verlassenen Komplex und suchte nach irgendeinem Hinweis, der sie zu Evie führen könnte, doch es war vergeblich.

Sie kniete sich auf den Boden. Vielleicht würde eine andere Perspektive helfen. Ihr fiel nichts Besonderes auf, aber etwas erschien ihr merkwürdig am anderen Ende der Lagerhalle.

Dort stand ein aufgestellter Klappstuhl, auf dem etwa einen halben Meter hoch unterschiedlich große Trümmer aufgestapelt waren. Das war auf keinen Fall von selbst so heruntergefallen. Jemand hatte die Brocken dort aufgebaut.

Keri ging näher heran, um sich das Gebilde besser ansehen zu können. Sie hatte das Gefühl, dass sie nach Verbindungen suchte, die es nicht gab. Sie bewegte den Stuhl ein wenig zur Seite. Die Trümmer gerieten dabei erst ins Wanken und stürzten dann auf den Boden.

Jetzt schlug ihr Herz schneller. Anstatt des erwarteten dumpfen Aufschlages verursachten die herabstürzenden Brocken ein hohles Geräusch, fast wie ein Echo. Keri schob die Trümmer zur Seite und stampfte mit dem Fuß auf die Stelle, wo sie gelandet waren – wieder ertönte das Echo. Sie strich mit der Handfläche über den staubigen Boden und stellte fest, dass der Boden unter dem Klappstuhl nicht aus Beton war, wie der Rest der Halle, sondern aus grau lackiertem Holz.

Sie bemühte sich, weiterhin ruhig zu atmen und tastete mit den Fingern an der Kante des hölzernen Vierecks entlang, bis sie eine leichte Erhebung spürte. Als sie vorsichtig Druck darauf ausübte, öffnete sich ein Verschluss und ein kleiner Holzgriff schoss in die Höhe. Sie legte ihre Finger um den Griff und zog das Holzstück, das eine Falltür zu sein schien, aus seinem Rahmen.

Darunter war eine Grube, die keinen halben Meter tief war. Sie war leer. Keine Papiere, keine Werkzeuge, nichts. Sie war zu klein, als dass man einen Menschen darin hätte verstecken können. Bestenfalls hätte man einen kleinen Safe darin verstecken können.

Keri tastete die Kanten ab, auf der Suche nach einer weiteren geheimen Öffnung. Sie hatte keine Ahnung, was man hier verborgen hatte, aber jetzt war davon jedenfalls nichts zurück geblieben. Sie setzte sich auf den Betonboden und überlegte, was sie jetzt tun sollte.

Sie warf einen Blick auf ihre Uhr. Es war ein Uhr fünfzehn. In einer viertel Stunde musste sie in Beverly Hills sein. Selbst wenn sie sich jetzt auf den Weg machte, würde die Zeit knapp werden. Frustriert rückte sie die Holzabdeckung wieder auf ihren Platz und stellte den Stuhl wieder darauf. Dann verließ sie das Gebäude. Dabei fiel ihr Blick noch einmal auf das Schild.

Wir erhalten Ihre Kostbarkeiten. Ob das ein versteckter Hinweis sein sollte? Oder bin ich am Ende doch nur auf einen grausamen Scherz hereingefallen? Versucht jemand mir mitzuteilen, wie ich meine größte Kostbarkeit, meine gelliebte Evie, retten kann?

Bei diesem letzten Gedanken wurde Keri von einer Welle der Hilflosigkeit erfasst. Sie spürte, wie ihre Knie plötzlich nachgaben und sie zu Boden stürzte. Da ihr linker Arm noch in der Schlinge lag, fing sie den Sturz mit ihrer rechten Hand ab, so gut es ging.

Um sie herum war eine dichte Staubwolke aufgewirbelt. Keri schloss die Augen und kämpfte gegen die Finsternis an, die sie plötzlich zu umgeben schien. Vor ihrem inneren Auge erschien ihre kleine Evie.

In dieser Vision war das Mädchen immer noch acht Jahre alt. Ihre blonden Zöpfchen tanzten um ihr schreckensbleiches Gesicht. Sie wurde von einem blonden Mann mit einem Tattoo an der linken Halsseite in einen weißen Van geworfen. Keri hörte das Krachen, das ihr kleiner Körper an der Innenseite des Vans verursachte. Dann sah sie, wie der Mann einen Teenager erstach, der ihn aufhalten wollte. Sie sah, wie der Van vom Parkplatz fuhr und sich schnell von ihr entfernte, obwohl sie so schnell hinterher rannte, wie sie mit ihren nackten, blutig gelaufenen Füßen nur konnte.

Sie sah es so lebhaft vor sich, dass Keri die Tränen herunterschlucken musste. Sie versuchte, die Erinnerung zu vertreiben und sich wieder auf das Hier und Jetzt zu konzentrieren. Nach ein paar Augenblicken hatte sie die Fassung wieder erlangt. Sie atmete ein paarmal tief durch. Sie konnte auch wieder klar sehen und stand langsam auf.

Das war der erste Flashback seit Wochen. Seit ihrer Begegnung mit Pachanga hatte sie keine mehr gehabt. Sie hatte gehofft, dass sie nie zurückkommen würden, aber das Glück blieb ihr vergönnt.

Ihr Schlüsselbein schmerzte und frustriert zog sie die Armschlinge ab. Sie behinderte sie mehr als sie half. Außerdem wollte sie keinen schwachen Eindruck machen, wenn sie gleich Dr. Burlingame gegenüberstand.

Das Treffen! Ich muss los!

Vorsichtig humpelte sie zu ihrem Auto und reihte sich in den Verkehr ein. Blaulicht und Sirene ließ sie ausgeschaltet. Sie musste einen Anruf tätigen und dafür brauchte sie Ruhe.

KAPITEL VIER

Keri war etwas nervös, als sie die Nummer von Rays Krankenhauszimmer eingab und dem Klingeln lauschte. Eigentlich gab es keinen Grund für ihre Nervosität. Ray Sands war ein langjähriger Freund und ihr Partner bei der LAPD Pacific.

Als es weiter klingelte, dachte sie an der Zeit, bevor sie Polizistin geworden war. Sie war damals Professorin für Kriminologie an der Loyola Marymount University und hatte bei ein paar Vermisstenfällen als Beraterin für die Einheit gedient. So hatte sie Ray kennengelernt. Sie waren von Anfang an gut miteinander ausgekommen und Ray hatte ein paar Gastvorträge in ihren Seminaren gehalten.

Nachdem Evelyn entführt wurde, war Keri in ein tiefes, schwarzes Loch gefallen. Ihre Ehe ging in die Brüche, sie begann zu trinken und ging mit einpaar Studenten ins Bett – bis sie schließlich gefeuert wurde.

Sie war pleite und betrunken und sie lebte auf einem kaputten, alten Hausboot, als Ray sie wieder besuchte. Er hatte sie überredet, sich bei der Polizeiakademie einzuschreiben, so wie er es getan hatte, als sein Leben kaputt gegangen war. Ray hatte ihr damit einen Rettungsring zugeworfen und ihr einen Weg zurück ins Leben aufgezeigt. Keri hatte ihn angenommen.

Sie schloss die Ausbildung rasch ab, durchlief ihre praktische Erfahrung als Officer und wurde zum Detective befördert. Keri bewarb sich dann bei der Pacific Einheit, die insbesondere für West L.A. zuständig war. Ray hatte sie als Partnerin angefordert und sie hatten bereits ein Jahr zusammen gearbeitet, bevor Pachanga sie beide ins Krankenhaus gebracht hatte.

Jetzt war sie nervös. Aber nicht, weil sie sich Sorgen um seine Genesung machte, sondern weil sich etwas an ihrem Verhältnis zueinander verändert hatte. Im Laufe des vergangenen Jahres war ihre Freundschaft immer intensiver geworden. Doch sie arbeiteten Tag für Tag sehr eng zusammen, so dass keiner von beiden sich eingestehen wollte, dass zwischen ihnen mehr als nur Freundschaft war. Hin und wieder hatte eine Frau Rays Telefon beantwortet, wenn sie ihn in seiner Wohnung erreichen wollte. In diesen Momenten war Keri schrecklich eifersüchtig, obwohl er schon immer ein berüchtigter Frauenheld gewesen ist. Sie hatte gegen die Eifersucht angekämpft, aber sie konnte sie nicht unterdrücken.

Sie war sich sicher, dass er für sie ähnliche Gefühle hatte. Sie hatte seine Anspannung und das wütende Funkeln in seinen Augen bemerkt, wenn ein anderer Mann sie anbaggerte.

Selbst jetzt, nachdem er von einer Kugel lebensgefährlich verletzt worden war, mochte keiner von beiden aussprechen, was sie beschäftigte. Keri hatte das Gefühl, dass es nicht der richtige Zeitpunkt war, über solch triviale Angelegenheiten zu reden, während er sich erholte. Doch vielleicht fürchtete sie sich auch nur davor, wie sich ihr Verhältnis verändern würde, wenn ihre Gefühle offen auf dem Tisch lagen.

Also ignorierte sie sie. Doch weder sie noch Ray waren es gewohnt, etwas vor dem anderen zu verheimlichen, deswegen war es zwischen ihnen merkwürdig geworden. Keri lauschte weiter auf das Klingeln, hoffte einerseits, dass er antwortete, andererseits, dass er nicht abnahm. Sie musste mit ihm über den anonymen Anruf reden, aber sie wusste nicht genau, wie sie das Gespräch beginnen sollte.

Nach zehnmal klingeln beschloss sie, dass es nicht so wichtig war, und legte auf. Wahrscheinlich war er gerade nicht auf seinem Zimmer. Sie wollte es nicht auf seinem Handy versuchen, weil er wahrscheinlich gerade beschäftigt war. Er wollte unbedingt schnell wieder auf die Beine kommen, und vor zwei Tagen hatte seine Therapie endlich begonnen. Ray war ein ehemaliger Profiboxer und Keri wusste, dass er jede freie Minute dazu nutzen würde, seinen Körper fit zu halten.

Ihre Gedanken kreisten weiter um ihren Partner, während sie sich bemühte, nicht mehr an die Lagerhalle, sondern an ihren neuen Fall zu denken – die vermisste Kendra Burlingame.

Sie konzentrierte sich jetzt auf den Verkehr und ihr Navi, und fand sich leicht in den gewundenen Straßen von Beverly Hills zurecht. Sie kam zu einem abgelegenen Viertel, das hoch über der Stadt lag. Je höher sie kam, desto verwinkelter wurden die Straßen und umso versteckter lagen die Häuser.

Unterwegs rekapitulierte sie noch einmal die wenigen Informationen, die ihr über den Fall bisher bekannt waren.

Jeremy Burlingame führte – trotz seines Berufes und seines Einkommens – ein unauffälliges Leben. Eine kurze Recherche hatte ergeben, dass er als Schönheitschirurg für die Schönen und Reichen tätig war, aber auch ehrenamtlich Kinder mit Missbildungen im Gesichtsbereich behandelte.

Kendra Burlingame, achtunddreißig Jahre alt, hatte vor einigen Jahren als Pressesprecherin der Gesellschaft von Hollywood gearbeitet, doch seit ihrer Hochzeit mit Jeremy steckte sie all ihre Energie in eine gemeinnützige Einrichtung namens All Smiles, die Spendengelder für behinderte Kinder sammelte und sich um ihre medizinische Versorgung kümmerte.

Sie waren seit sieben Jahren verheiratet. In den polizeilichen Akten waren beide unbeschriebene Blätter. Es gab weder Aufzeichnungen über häusliche Probleme, noch über Alkohol- oder Drogenmissbrauch. Sie waren das perfekte Ehepaar. Zumindest auf dem Papier. Keri war misstrauisch.

Nachdem sie doch in eine falsche Straße eingebogen war, erreichte sie schließlich das Haus am Ende der Tower Road. Es war 1:41 Uhr; sie war elf Minuten zu spät.

Es war eigentlich auch kein Haus im klassischen Sinne. Es war eher eine Anlage, die sich über mehr als einen Hektar zu erstrecken schien. Von hier oben konnte man ganz L.A. sehen.

Keri nahm sich noch einen Augenblick Zeit, um etwas zu tun, das sie fast nie tat: Sie legte Makeup auf. Es half bereits, dass sie die Armschlinge nicht mehr trug, aber der gelbe Fleck auf ihrem Wangenknochen war immer noch zu sehen. Jetzt tupfte sie vorsichtig mit einem Abdeckstift darüber, bis der Fleck völlig verschwunden war.

Zufrieden drückte sie auf die Klingel neben dem Sicherheitstor. Während sie auf eine Antwort wartete, bemerkte sie den weißen Cadillac von Detective Frank Brody, der vor dem Haus geparkt war.

Eine Frauenstimme meldete sich an der Gegensprechanlage.

„Detective Locke?“

„Ja.“

„Ich bin Lupe Veracruz, die Haushälterin der Burlingames. Bitte fahren Sie direkt vor das Haus. Sie können neben Ihrem Partner parken. Ich werde Sie dort treffen und zu Dr. Burlingame bringen.“

Das Tor öffnete sich und Keri stellte ihren Wagen wie angewiesen neben Frank Brodys gepflegtem Fahrzeug ab. Der Caddy war sein Baby. Er war stolz auf seine altmodische Lackierung, seinen verschwenderischen Spritverbrauch und seine Form, die an einen gestrandeten Wal erinnerte. Was er klassisch nannte, kam Keri vor wie ein Dinosaurier.

Als sie aus ihrem Wagen stieg, kam eine kleine, zierliche, etwa vierzig Jahre alte Hispanoamerikanerin auf sie zu. Keri beeilte sich, um den Wagen herumzukommen, damit die Frau nicht bemerkte, wie steif sie sich in dem engen Spalt zwischen den Fahrzeugen bewegte.

Ab jetzt verhielt Keri sich, als wäre sie an einem potenziellen Tatort. Sie wollte auf keinen Fall Unsicherheit oder Schwäche ausstrahlen.

„Hier entlang, Detective“, sagte Lupe, drehte sich um und führte Keri den Kiespfad entlang zum Haus. Keri bewunderte die akribisch gepflegten Blumenbeete und achtete auf jeden einzelnen ihrer Schritte. Mit den Verletzungen an Auge, Schulter und Rippen fühlte sie sich auf unebenem Boden immer noch unsicher.

Sie gingen an einem riesigen Pool vorbei, und an einem Loch, das von einem kleinen Bagger ausgehoben worden war. Daneben war ein riesiger Haufen Erde. Lupe bemerkte Keris neugierige Blicke.

„Die Burlingames lassen einen Jaccuzi einbauen, aber die marokkanischen Fliesen sind im Moment nicht lieferbar, deswegen liegt das Projekt auf Eis.“

„Das Problem habe ich auch“, scherzte Keri, aber Lupe lachte nicht.

Nach einem kurzen Spaziergang erreichten sie einen Seiteneingang zum Haupthaus, der direkt in eine große Küche führte. Keri konnte Männerstimmen in der Nähe reden hören. Detective Brody stand mit Blick zu ihr und redete mit einem Mann, der mit dem Rücken zu ihr stand.

Der Mann schien ihre Anwesenheit zu spüren und drehte sich zu ihr um, noch bevor Lupe ihr Eintreffen ankündigen konnte. Keri konzentrierte sich auf seinen Gesichtsausdruck, als er sie zum ersten Mal ansah. Die Ermittlungen hatten für sie bereits begonnen. Ihr Gegenüber hatte braune, warme Augen, die leicht gerötet waren. Entweder hatte er Heuschnupfen oder er hatte vor kurzem geweint. Als guter Gastgeber bemühte er sich um ein höfliches Lächeln, obwohl ihm aufgrund der besorgniserregenden Situation offensichtlich nicht danach zumute war.

Er sah nett aus, nicht direkt attraktiv, aber sein Gesicht war offen und freundlich, fast knabenhaft. Unter seinem Sakko hatte er eine sportliche Figur, zwar nicht übermäßig muskulös, aber drahtig und athletisch, wie ein Marathonläufer. Er war durchschnittlich groß und Keri schätzte ihn zwischen achtzig und neunzig Kilo. Sein braunes Haar war kurz geschnitten. Die ersten grauen Haare schimmerten im Licht.

„Detective Locke, danke, dass Sie kommen konnten“, sagte er und streckte die Hand aus, als er auf sie zukam. „Ich habe mich gerade mit Ihrem Kollegen unterhalten.“

„Keri“, sagte Brody und nickte, „wir sind noch nicht dazu gekommen, die Einzelheiten zu besprechen. Ich wollte auf meinen Partner warten.“

Keri bemerkte die subtile Anspielung auf ihre Verspätung, auch wenn er sie als professionelle Höflichkeit getarnt hatte. Keri tat, als hätte sie es nicht bemerkt und konzentrierte sich weiterhin auf den Doktor.

„Es freut mich, Sie kennen zu lernen, Dr. Burlingame, auch wenn es mir leid tut, dass es unter solch schwierigen Umständen ist. Lassen Sie uns direkt zur Sache kommen, wenn es Ihnen recht ist. Bei vermissten Personen kann es auf jede einzelne Minute ankommen.“

Aus dem Augenwinkel sah Keri, dass Brody ein mürrisches Gesicht machte. Er war nicht gerade erfreut darüber, dass sie die Befragung übernommen hatte. Es war ihr egal.

„Natürlich“, stimmte Burlingame zu. „Wo möchten Sie beginnen?“

„Sie haben uns ja bereits am Telefon einen groben Überblick über den Ablauf gegeben, aber ich hätte es gerne noch etwas ausführlicher. Beginnen Sie doch damit, als Sie Ihre Frau zum letzten Mal gesehen haben.“

„Selbstverständlich. Das war gestern früh, im Schlafzimmer.“

Keri unterbrach ihn. „Können Sie uns vielleicht dorthin führen? Ich mache mir gerne ein möglichst genaues Bild von Ihren Angaben.“

„Natürlich. Soll Lupe uns begleiten?“

„Wir werden später mit ihr alleine sprechen“, erwiderte Keri. Jeremy Burlingame nickte und brachte sie die Treppen hinauf zum Schlafzimmer. Keri beobachtete weiterhin jede seiner Bewegungen. Sie hatte ihn noch aus einem anderen Grund unterbrochen.

Sie wollte abwägen, wie ein angesehener, einflussreicher Arzt darauf reagiert, mehrfach von einer Unbekannten Anweisungen zu erhalten. Bisher schien er damit kein Problem zu haben. Er schien bereit zu sein, alles zu tun, um seine Frau zu finden.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer stellte sie ihm weitere Fragen.

„Was würde Ihre Frau jetzt normalerweise tun?“

„Sie würde vermutlich hier zu Hause eine ihrer Spendenaktion vorbereiten.“

„Welche Art von Spendenaktionen organisiert sie denn?“, fragte Keri, als hätte sie keine Ahnung.

„Wir haben eine Stiftung für rekonstruktive Chirurgie gegründet, hauptsächlich für Kinder mit Entstellungen im Gesichtsbereich, hin und wieder unterstützen wir aber auch junge Erwachsene mit Verbrennungen oder Narben. Kendra verwaltet die Einrichtung und organisiert zwei große Galas pro Jahr. Eine sollte heute Abend im Peninsula Hotel stattfinden.“

„Steht ihr Auto in der Garage?“, fragte Brody, als sie oben an der Treppe ankamen.

„Das weiß ich ehrlich gesagt nicht. Dass ich nicht früher darauf gekommen bin! Ich werde Lupe fragen.“

Er holte sein Handy aus der Hosentasche und drückte eine Taste, die scheinbar interne Verbindungen aufbaute.

„Lupe, wissen Sie vielleicht, ob Kendras Auto in der Garage steht?“ Die Antwort kam wie aus der Pistole geschossen.

„Nein, Dr. Burlingame. Ich habe vorhin nachgesehen. Es ist nicht da. Mir ist außerdem aufgefallen, dass die kleine Reisetasche aus ihrem Schrank fehlt, als ich vorhin die frische Wäsche einsortiert habe.“

Burlingame sah verblüfft aus.

„Das ist seltsam“, sagte er.

„Was denn?“, fragte Keri.

„Ich verstehe nicht, warum sie ihre Reisetasche benutzen sollte. Wenn Kendra zum Sport geht, nimmt sie natürlich ihre Sporttasche mit. Und wenn sie sich für die Gala umziehen wollte, hätte sie einen Kleidersack mitgenommen. Ihre Reisetasche benutzt sie nur, wenn sie vorhat zu reisen.“

Sie gingen einen langen Flur hinunter und erreichten schließlich das Schlafzimmer. Brody war ein wenig außer Atem geraten. Er stemmte die Hände in die Hüfte, streckte die Brust heraus und versuchte sich nicht anmerken zu lassen, dass er nach Luft schnappte.

Keri sah sich im Raum um. Er war außergewöhnlich groß, größer als ihr gesamtes Hausboot. Das riesige Ehebett war ordentlich gemacht. Ein leichter, hauchdünner Himmel ließ das Bett wirken wie eine Wolke. Durch die weit offenstehenden Türen konnte man den großzügigen Balkon sehen, der einen wunderbaren Blick auf den Pazifischen Ozean bot.

Ein überdimensionaler Flachbildfernseher hing gegenüber dem Bett an der Wand. Die andere Wand war mit geschmackvollen Gemälden und Fotos von dem glücklichen Paar dekoriert. Keri ging etwas näher heran.

Sie sah sich ein Foto an, auf dem sie an einem tropischen Ort im Urlaub waren. Im Hintergrund war das Meer zu sehen.

Jeremy trug darauf ein lockeres, pinkfarbenes Hemd mit karierten Shorts. Er lächelte gestellt und etwas unbeholfen in die Kamera, wie man es oft bei Männern sieht, die nicht gern fotografiert werden.

Kendra Burlingame trug ein türkisfarbenes Sommerkleid mit eleganten, hochhackigen Sandalen, deren Riemchen um ihre Knöchel gewickelt waren. Sie hatte langes, schwarzes Haar, das zu einem Pferdeschwanz zusammengebunden war. Sie lächelte über das ganze Gesicht, als hätte sie gerade herzlich gelacht. Sie hatte lange, schlanke Beine und war genauso groß wie ihr Gatte, der seinen Arm locker um ihre Hüfte gelegt hatte. Ihre blauen Augen hatten dieselbe Farbe wie das Meer hinter ihr. Sie war wirklich eine ausgesprochen hübsche Frau.

„Dann haben Sie Ihre Frau wann genau zuletzt gesehen?“, fragte sie noch einmal. Burlingame stand hinter ihr, doch sie konnte sein Spiegelbild im Bilderrahmen beobachten.

„Gestern früh, genau hier“, sagte er. Er sah wirklich besorgt aus. „Wegen des Termins in San Diego musste ich früher los als sonst. Ich musste bei einem komplizierten Eingriff anwesend sein. Es war noch vor sieben Uhr; sie war noch im Bett, also habe ich ihr nur einen Abschiedskuss auf die Stirn gegeben.“

„War sie wach?“, fragte Brody.

„Ja, sie hatte den Fernseher an. Sie hat sich gerade den Wetterbericht angesehen, wegen der Gala heute Abend.“

„Und seitdem haben Sie sie nicht mehr gesehen?“, fragte Keri zum dritten Mal.

„Ja, Detective“, entgegnete er und klang zum ersten Mal leicht gereizt. „Das habe ich doch inzwischen mehrfach bestätigt. Darf ich Ihnen vielleicht auch eine Frage stellen?“

„Natürlich.“

„Ich weiß, dass Sie alles Schritt für Schritt untersuchen müssen, aber könnten Sie vielleicht veranlassen, dass Kendras Auto und Handy geortet werden? Vielleicht kann ich sie so finden.“

Keri hatte diese Frage erwartet. Hillman hatte den technischen Dienst natürlich längst damit beauftragt, aber diese Information hatte sie bisher zurückgehalten. Sie war gespannt, wie er darauf reagieren würde.

„Das ist eine sehr gute Idee, Dr. Burlingame“, sagte sie. „Deswegen haben wir es bereits überprüft.“

„Was haben Sie herausgefunden?“, fragte er hoffnungsvoll.

„Nichts.“

„Nichts? Wie soll ich das verstehen?“

„Vermutlich wurde sowohl im Bordcomputer des Autos, als auch auf dem Handy Ihrer Frau das GPS-Signal deaktiviert“, sagte Keri und beobachtete ihn genau.

Er starrte sie erstaunt an.

„Deaktiviert? Wie ist das möglich?“

„Jemand muss es absichtlich deaktivieret haben, damit man weder das Auto noch das Telefon orten kann.“

„Bedeutet das, dass jemand beides manipuliert und sie entführt hat?“

„Das wäre denkbar“, mischte Brody sich ein. „Oder aber sie ist diejenige, die nicht gefunden werden möchte.“

Burlingame sah jetzt nicht mehr erstaunt aus, sondern ungläubig.

„Wollen Sie mir damit sagen, dass meine Frau mich verlassen hat und nicht gefunden werden will?“

„Sie wäre bestimmt nicht die erste“, sagte Brody.

„Nein, das ergibt einfach keinen Sinn. Kendra würde das nicht machen. Sie hat auch gar keinen Grund dazu. Wir führen eine hervorragende Ehe. Wir lieben uns, und sie liebt ihre Arbeit und diese Kinder. Sie würde nicht einfach aufstehen und all das hinter sich lassen. Ich hätte bemerkt, wenn sie unzufrieden gewesen wäre. Ich würde es wissen.“

In Keris Ohren klang es wie ein Flehen, wie ein Mann, der sich selbst überzeugen will. Er wirkte plötzlich schrecklich einsam.

„Sind Sie sich ganz sicher, Dr. Burlingame?“, fragte sie. „Manchmal bewahrt man ein Geheimnis so gut, dass nicht einmal der engste Freund davon weiß. Da wir gerade darüber reden, hat Kenda außer Ihnen noch andere vertraute Personen?“

Burlingame schien sie nicht zu hören. Er setzte sich auf das Bett und schüttelte langsam den Kopf, als könne er so den Zweifel abschütteln.

„Dr. Burlingame?“, fragte Keri sanft.

„ Entschuldigen Sie. Ja. Ihre beste Freundin ist Becky Sampson. Sie kannten sich seit der High School. Sie sind vor ein paar Wochen gemeinsam zu einem Klassentreffen gegangen. Kendra war danach irgendwie durcheinander, aber sie wollte nicht sagen, warum. Becky wohnt in Robertson Street. Vielleicht hat Kendra ihr etwas anvertraut.“

„Sehr gut, wir werden sie kontaktieren“, versicherte Keri. „In der Zwischenzeit werden wir ein Team von der Spurensicherung zu Ihnen schicken, damit sie Ihr Haus genauer unter die Lupe nehmen. Wir beginnen üblicherweise dort, wo die vermisste Person zuletzt gesehen wurde, bevor das GPS-Signal deaktiviert wurde. Haben Sie alles verstanden, Dr. Burlingame?“

Der Mann starrte jetzt ohne jede Regung geradeaus. Als sie seinen Namen sagte, schloss er die Augen einen Moment und sah sie dann lange an.

„ Ja, Spurensicherung, ich verstehe.“

„Wir werden außerdem die Angaben zu Ihrem Aufenthaltsort gestern überprüfen müssen, einschließlich Ihrem Einsatz in San Diego“, erklärte Keri. „Wir werden jeden, mit dem Sie dort in Kontakt waren, kontaktieren müssen.“

„Das gehört zu unseren Aufgaben“, fügte Brody betont diplomatisch hinzu.

„Ich verstehe. Wahrscheinlich wird der Ehemann grundsätzlich verdächtigt, wenn eine Frau verschwindet. Ich werde eine Liste von Leuten und Telefonnummern erstellen, die ich gestern getroffen habe. Brauchen Sie die Liste sofort?“

„Je schneller desto besser“, sagte Keri. Ich möchte nicht unhöflich sein, Doc, aber Sie haben recht – der Ehemann ist zu Beginn immer ein Hauptverdächtiger. Und je schneller wir Sie als Täter ausschließen können, desto schneller können wir uns auf andere Theorien konzentrieren. Ein paar Polizisten werden zu Ihnen kommen und die ganze Umgebung durchsuchen. Jetzt würde ich Sie und Lupe bitten, uns in den Hof zu unseren Fahrzeugen zu begleiten. Dort werden wir gemeinsam warten, bis die Teams eintreffen.“

Burlingame nickte und bewegte sich langsam aus dem Schlafzimmer. Plötzlich hob er den Kopf. „Aus Erfahrung gesprochen, Detective Locke, wie viel Zeit hat sie, wenn sie wirklich entführt wurde? Ich weiß, dass bei solchen Vorfällen die Uhr tickt. Wie viel Zeit hat sie realistisch gesehen?“

Keri sah ihn lange an. Er wirkte kein bisschen hinterlistig, sondern ernsthaft betroffen, als wollte er sich an etwas Rationalem festhalten. Das war eine gute Frage und sie wüsste selbst gerne die Antwort darauf.

Sie rechnete still ein paar Zahlen zusammen, aber das Ergebnis war nicht gut. So offen konnte sie einfach nicht mit dem Mann eines potenziellen Opfers reden. Sie versuchte, ihr Kalkulation vorsichtig in Worte zu fassen.

„Sehen Sie, Dr. Burlingame, ich möchte ehrlich mit Ihnen sein. Jede Sekunde zählt. Aber wir haben vermutlich ein paar Tage, bevor die Spuren verwischen, und wir werden alle Hebel in Bewegung setzen, um Ihre Frau zu finden. Sie dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.“

Tatsächlich sah die Rechnung allerdings um einiges hoffnungsloser aus. Im Normalfall lag das Limit bei zweiundsiebzig Stunden. Wenn sie wirklich gestern Vormittag entführt worden war, hatten sie jetzt noch knappe achtundvierzig Stunden um sie zu finden.

Das war ein ziemlich optimistisch gesehener Zeitrahmen.