Loe raamatut: «Eine Spur von Mord », lehekülg 3

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KAPITEL FÜNF

Im Cedars-Sinai Medical Center ging Keri so schnell den Gang hinunter, wie ihre schmerzenden Knochen es zuließen. Becky Smapsons Haus war nicht weit vom Krankenhaus entfernt, daher hatte Keri kein allzu schlechtes Gewissen, dass sie einen kurzen Besuch bei Ray einlegte.

Sowie sie sich seinem Zimmer näherte, machte sich wieder die Nervosität in ihr breit. Wie sollte es zwischen ihnen je wieder normal werden, wenn diese unausgesprochenen Gefühle zwischen ihnen lagen? Als sie bei seinem Zimmer ankam, beschloss sie, sich zusammen zu nehmen.

Die Tür stand einen spaltbreit offen und Keri konnte sehen, dass Ray schlief. Außer ihm war niemand im Zimmer. Verwundete Polizisten bekamen, soweit verfügbar, immer ein eigenes Zimmer. Mit einem Blick auf die Hügel von Hollywood und einem großen Fernseher hatte er es gut getroffen. Der Fernseher zeigte einen alten Sylvester Stallone Streifen, der Ton war abgeschaltet.

Kein Wunder, dass er dabei eingeschlafen ist.

Keri ging zu ihm und sah sich ihren Partner genauer an. In diesem Krankenhausbett mit dem lockeren Nachthemd wirkte er plötzlich viel gebrechlicher als sonst. Eigentlich war er ein ziemlich großer und einschüchternder Bursche, Afroamerikaner, Glatze, über zwei Meter groß. Seinen Spitznamen „Big“ hat er mehr als verdient.

Da seine Augen geschlossen waren, konnte man ihm nicht ansehen, dass sein rechtes Auge aus Glas war. Er hatte es vor ein paar Jahren bei einem Boxkampf verloren. Man würde nicht vermuten, dass dieser Mann, der neben seinem orangefarbenen Wackelpudding hier gerade im Krankenhausbett schlief, damals Ray „der Sandmann“ Sands war, olympischer Boxer und ungeschlagenes Schwergewicht, dem eine brillante Karriere prophezeit worden war. Seine Karriere war jedoch vor einem unerwarteten linken Haken seines Gegners, der sein Auge brutal zerstört hatte, mit nur achtundzwanzig Jahren vorzeitig beendet worden.

Nachdem er in ein tiefes Loch gefallen war, hatte Ray seine Berufung als Polizist entdeckt, und hatte sich seitdem zu einem der angesehensten Ermittler der Einheit für Vermisste Personen hochgearbeitet. Da Brody bald in Rente gehen würde, wartete auf Ray eine leitende Position in der Einheit für Raubüberfälle und Mord.

Keri ließ ihren Blick aus dem Fenster und über die Hügel schweifen. Sie fragte sich, wie ihr Verhältnis in sechs Monaten aussehen würde, wenn sie nicht mehr zusammen arbeiteten. Der Gedanke beängstigte sie. Seit man ihr Evie genommen hatte, war er die einzige stabile Person in ihrem Leben gewesen, und sie hatte gerne jeden einzelnen Tag mit ihm zusammen verbracht.

Sie drehte sich wieder zu ihm und stellte fest, dass er sie schweigend ansah.

„Wie geht’s, Schlumpfinchen?“, fragte er grinsend. Sie machten ständig Witze über ihren gewaltigen Größenunterschied.

„Wie geht es dir, Shrek?“

„Ehrlich gesagt bin ich ganz schön müde. Ich habe heute schon Extremsport gemacht. Man hat mich den ganzen langen Gang einmal herunter und wieder herauf gejagt. Nimm dich in Acht, LeBron James, ich bin dir dicht auf den Fersen.”

„Weißt du schon, wann sie dich wieder frei lassen?“, fragte Keri.

„Wenn ich weiterhin gute Fortschritte mache, darf ich vielleicht schon Ende der Woche gehen. Dann sind aber noch zwei Wochen Bettruhe angesagt, bevor ich wieder an den Schreibtisch darf – vorausgesetzt ich habe mich bis dahin nicht vor lauter Langeweile selbst erschossen.“

Keri saß eine Weile still da. Sie wusste nicht recht, was sie sagen sollte. Eigentlich wollte sie ihm sagen, dass er sich Zeit nehmen sollte, dass seine Gesundheit wichtiger war, als die Arbeit. Andererseits wäre das ziemlich lachhaft, da sie selbst sich auch nicht daran hielt, und das würde er ihr auch unter die Nase reiben.

Er war angeschossen worden, weil er ihr das Leben gerettet hatte. Sie fühlte sich dafür verantwortlich und sie fühlte noch andere Dinge, über die sie jetzt nicht nachdenken wollte.

Schließlich beschloss sie, dass jetzt eher Ablenkung angebracht war als ein Vortrag über Gesundheit.

„Ich wollte dich nach deiner Meinung zu meinem neuen Fall fragen. Hast du Lust auf ein bisschen Psychoanalyse mit Wackelpudding?“, fragte sie.

„Gratuliere, dann bist du also wieder offiziell einsatzbereit. Lass uns doch den Wackelpudding überspringen und direkt ans Eingemachte gehen.“

„Okay. Folgendes: Kendra Burlingame, Hausfrau eines berühmten Schönheitschirurgen in Beverly Hills, ist seit gestern früh spurlos verschwunden.“

„Welcher Tag war gestern nochmal?“, unterbrach Ray. „Sorry, aber die ewige Bettruhe, gemischt mit starken Medikamenten, hat mein Zeitgefühl vollkommen durcheinander gebracht.“

„Gestern war Montag, Sherlock“, neckte Keri ihn. „Ihr ehrenwerter Gatte sagt, dass er sie gegen sechs Uhr fünfundvierzig zum letzten Mal gesehen hat, bevor er für eine OP nach San Diego gefahren ist. Das heißt, dass sie seit etwa zweiunddreißig Stunden vermisst wird.“

„Vorausgesetzt, er sagt die Wahrheit. Du weißt genauso gut wie ich, dass der Ehemann immer der erste Verdächtige ist.“

Keri war etwas genervt davon, dass jeder, einschließlich ihres scharfsinnigen Partners, sie darauf hinwies. Als sie antwortete, konnte sie einen gewissen Unterton nicht unterdrücken.

„Ach wirklich, Ray? Hast du sonst noch eine wunderbare Weisheit parat, großes Orakel? Vielleicht, dass die Sonne heiß ist, oder dass Grünkohl wie Alufolie schmeckt?“

„Ich meine ja nur…“

„Glaub mir, Ray. Das weiß ich selbst. Er ist unser Hauptverdächtiger. Und vielleicht ist sie einfach abgehauen. Aber als professionelle Gesetzeshüter sollten wir vielleicht nach weiteren Spuren suchen, findest du nicht?“

„Doch, sicher. Dann hast du noch ein zweites Standbein, wenn du ihn verhaftest.“

„Wunderbar.  Ganz die alte Spürnase, bloß keine unbegründeten Schlüsse ziehen“, neckte sie ihn weiter und bemühte sich, dabei ernst zu bleiben.

„So bin ich eben. Was hast du noch?“

„Ich treffe gleich Kendras beste Freundin, sie wohnt hier ganz in der Nähe. Ihr Mann sagte, dass Kendra seit einem Klassentreffen merkwürdig drauf war.“

„Hast du jemanden nach San Diego geschickt um seine Story zu überprüfen?“

„Brody ist in dieser Sekunde unterwegs.“

„Frank Brody ist dein neuer Partner?“, sagte Ray. Jetzt musste er sich bemühen, nicht zu lachen. „Kein Wunder, dass du lieber im Krankenhaus herumhängst. Wie klappt es mit euch beiden?“

„Warum glaubst du, dass ich nichts dagegen hatte, als er angeboten hat, nach San Diego zu fahren? Die Kollegen vor Ort hätten sich genauso gut um die Zeugen kümmern können, aber er wollte unbedingt selbst fahren, und ich halte alles für eine gute Idee, was ihn und sein Ungeheuer von Auto weit weg von mir beschäftigt,. Übrigens würde ich die Gesellschaft eines abgehalfterten, schlappen, bettlägerigen Sackes wie dir Brody jederzeit vorziehen.“

Das scherzhafte Geplänkel hatte Keri so sehr entspannt, dass sie jetzt zu spät bemerkte, wie dieser letzte Kommentar sie wieder auf diese verkorkste emotionale Ebene befördert hatte, die sie unbedingt hatte vermeiden wollen. Ray sagte zuerst gar nichts, aber als er den Mund öffnete, um etwas zu entgegnen, kam Keri ihm zuvor.

„Ich muss los, sonst komme ich zu spät zu dem Treffen mit Kendras Freundin. Ich melde mich später wieder. Übertreib es nicht mit deinem Sport. Versprochen?“

Ohne auf eine Antwort zu warten, verließ sie das Zimmer. Als sie den Gang hinunter eilte um den Fahrstuhl zu erwischen, ging ihr ein Wort nicht mehr aus dem Kopf.

Idiot. Idiot. Idiot.

KAPITEL SECHS

Während Keri zu Becky Sampsons Haus fuhr, war ihr die Situation mit Ray noch immer peinlich. Sie sah ihr leicht gerötetes Gesicht im Rückspiegel und wendete schnell den Blick ab und zwang sich, an etwas anderes zu denken. Erst jetzt fiel ihr auf, dass sie ihm gar nichts von dem anonymen Hinweis zu Evies Verschwinden und ihrem Ausflug zu der verlassenen Lagerhalle erzählt hatte, weil sie so schnell geflüchtet war.

Der Fall, Keri! Du musst dich jetzt auf den Fall konzentrieren!

Sie überlegte, ob sie Detective Edgerton anrufen sollte, der Kendras letzten GPS-Daten überprüfte. Vielleicht hatte er inzwischen etwas herausgefunden.

Auch wenn sie diese Informationen dringend brauchten, gefiel es ihr nicht, dass seine Arbeit an Pachangas Rechner davon unterbrochen wurde. Als sie zum ersten Mal Zugang zu seinen Dateien bekommen hatten, hatte Keri sich sehr gefreut, endlich mehr über das Netzwerk der Kindesentführer herausfinden zu können, doch die Freude war schnell in Frust umgeschlagen, als sich herausstellte, dass jede einzelne Datei zusätzlich verschlüsselt war.

Keri war sich sicher, dass sie den Schlüssel bei einem ganz anderen finden würde – bei Pachangas Anwalt Jackson Cave. Heute würde sie Cave einen Besuch abstatten, auch wenn sie sich eigentlich auf den neuen Fall konzentrieren musste.

Gerade als sie diesen Beschluss gefasst hatte, erreichte Keri Becky Sampsons Haus.

Cave muss warten. Kendra Burlingame braucht mich jetzt. Reiss‘ dich zusammen, Keri!

Sie stieg aus dem Wagen aus und musterte die Nachbarschaft, während sie zum Eingang ging. Becky Sampson wohnte in einem dreistöckigen Wohnkomplex, das sich in die Reihe der übertrieben verzierten Gebäude im North Stanley Drive bestens einfügte.

Dieser Teil von Beverly Hills, südlich von Cedars-Sinai und Burton Way und westlich des Robertson Boulevards, gehörte technisch gesehen zwar noch zu Beverly Hills, doch er war umgeben von den Gewerbegebieten und Ausläufern der Stadt Los Angeles, weswegen die Miete dort um einiges erschwinglicher war. Dennoch rissen sich die Leute um Wohnungen und Häuser hier, schließlich lautete die Adresse auf Beverly Hills.

Keri klingelte und wurde sofort ins Haus gelassen. Ihr wurde schnell klar, dass die Postleitzahl den größten Reiz dieser Gegend ausmachte. Als sie auf den Aufzug zuging, fiel ihr der dicke, abgelaufene Teppich und die rosafarbenen Wände auf, die einen neuen Anstrich gut gebrauchen konnten. Auch der abgestandene Geruch wirkte wenig anziehend auf sie.

Im Aufzug roch es, als hätte es den einen oder anderen Vorfall mit gewissen Verdauungssäften gegeben, was sich nun nicht mehr vertuschen ließ. Er fuhr stotternd hinauf in den dritten Stock, wo sich seine Türen wackelnd öffneten. Keri stieg aus und schwor sich, auf dem Rückweg die Treppen zu nehmen, auch wenn das für ihre gebrochenen Rippen vielleicht nicht die beste Wahl war.

Sie klopfte an Appartement Nummer 323, löste die Lasche an ihrem Pistolengürtel und wartete. Sie hörte, wie ein Haufen Geschirr unsanft in einem Spülbecken voller Wasser abgeladen, und ein paar herumliegende Dinge mit einem dumpfen Knall in einen Schrank geworfen wurden.

Jetzt wirft sie noch einen Blick in den Spiegel neben der Wohnungstür, schaut mich durch den Spion an und öffnet die Tür in drei, zwei, eins…

Keri hörte, wie die Sicherheitskette entfernt wurde. Die Tür öffnete sich und eine dünne, verbittert aussehende Frau erschien. Sie musste so alt wie Kendra Burlingame sein, wenn sie zusammen zu diesem Klassentreffen gegangen waren, aber sie sah um die zehn Jahre älter aus. Ihr Haar war Mausgrau, die spröden Spitzen verrieten, dass sie vor einiger Zeit gefärbt worden waren, und ihre braunen Augen waren ebenso rot unterlaufen, wie Keris eigene Augen manchmal aussahen, wenn sie zu wenig Schlaf bekommen hatte. Das Attribut, das Keri sofort in den Sinn kam, war schreckhaft.

„Becky Sampson?“, fragte Keri aus Routine, auch wenn sie die Frau aufgrund des Führerscheinlichtbildes, das ihr unterwegs zugeschickt worden war, zweifelsfrei identifizieren konnte. Ihre rechte Hand lag noch immer auf dem Pistolengürtel.

„Ja. Detecive Locke? Kommen Sie bitte herein.“

Keri trat ein, achtete aber darauf, immer einen angemessenen Abstand zu Becky Sampson zu bewahren. Auch die unscheinbarsten Bewohner des sagenumwobenen Beverly Hills konnten einem Ärger machen, wenn man sich nicht vorsah. Die Luft in der Wohnung war muffig, so dass Keri sich zusammenreißen musste, um nicht die Hand vor die Nase zu halten.

„Kann ich Ihnen etwas anbieten?“, fragte Becky.

„Vielen Dank, ein Glas Wasser wäre wunderbar“, sagte Keri, nicht weil sie durstig war, sondern weil es ihr die Gelegenheit gab, sich etwas genauer umzusehen, während die Gastgeberin in der Küche verschwand.

Die geschlossenen Fenster und Gardinen wirkten erdrückend auf Keri. Überall schien eine Staubschicht zu liegen, von den Beistelltischen, über das Bücherregal bis hin zur Couch. Keri betrat das Wohnzimmer und stellte fest, dass sie sich geirrt hatte.

Der Kaffeetisch zeigte kein einziges Staubkörnchen, als wäre er in ständigem Gebrauch. Auf dem Boden vor dem Tisch bemerkte Keri weiße Flecken. Sie kniete sich hin und ignorierte dabei den stechenden Schmerz in ihrer Brust. Es schien eine Art weißen Pulver zu sein und unter dem Tisch entdeckte sie einen zusammengerollten Schein, der ebenfalls Reste des Pulvers aufwies. Sie hörte, dass der Wasserhahn in der Küche abgedreht wurde und richtete sich schnell auf, bevor Becky Sampson mit zwei Gläsern Wasser den Raum betrat.

Sie sah erstaunt aus, dass ihr Gast sich so weit vom Eingang entfernt hatte und warf ihr einen argwöhnischen Blick zu, bevor sie unwillkürlich auf die weiße Stelle am Boden schielte.

„Darf ich mich setzen?“, fragte Keri höflich. „Ich habe eine gebrochene Rippe und kann daher nicht allzu lange stehen.“

„Bitte“, sagte die Frau beschwichtigend und wies auf die Couch. „Wie ist es denn passiert?“

„Ein Kindesentführer hat mich verprügelt.“

Becky Sampsons Augen weiteten sich erschrocken.

„Keine Sorge, ich habe ihn erschossen“, erklärte Keri.

Jetzt war Keri sicher, dass ihr Gegenüber überrascht war. Es war Zeit, loszulegen.

„Also, ich habe Ihnen ja bereits am Telefon gesagt, dass ich mit Ihnen über Kendra Burlingame reden muss. Sie wird vermisst. Haben Sie eine Ahnung, wo sie sich aufhalten könnte?“

Becky Sampsons Augen wurden noch größer, sofern das überhaupt noch möglich war.

„Was?“

„Seit gestern früh hat keiner mehr von ihr gehört. Wann haben Sie sie zuletzt gesprochen?“

Becky wollte gerade antworten, als sie plötzlich zu husten begann. Der Anfall dauerte ein paar Sekunden. Dann begann sie zu reden.

„Samstagnachmittag waren wir zusammen einkaufen. Sie wollte sich ein neues Kleid für die Gala heute Abend kaufen. Sind Sie ganz sicher, dass sie verschwunden ist?“

„Wir sind sicher. Wie haben Sie sie am Samstag wahrgenommen? Kam sie Ihnen irgendwie beunruhigt vor?“

„Eigentlich nicht“, antwortete Becky. Sie nahm ein Taschentuch und putzte ihre Nase. „Soweit ich weiß gab es ein paar kleine Schwierigkeiten mit dem Catering für die Gala, aber es war nichts, das sie nicht schon hundertmal erlebt hatte. Sie schien nicht besonders beunruhigt deswegen.“

„Wie war es für Sie, mit anzuhören, wie sie all diese wichtigen Telefonate für die große Gala führte und ein weiteres teures Kleid kaufte?“

„Wie meinen Sie das?“

„Sie sind doch ihre beste Freundin, oder?“

Becky nickte. „Seit fast fünfundzwanzig Jahren“, bestätigte sie.

„Sie wohnt in diesem Schloss auf den Hügeln und Sie wohnen in einer kleinen Einzimmer-Wohnung. Da könnte man doch neidisch werden, oder nicht?“

Keri beobachtete Becky Sampsons Reaktion genau. Sie nahm einen Schluck Wasser, bevor sie antwortete, doch sie begann wieder zu husten, als hätte sie sich verschluckt.

„Nun, manchmal bin ich schon ein bisschen neidisch, das muss ich zugeben. Aber es ist schließlich nicht Kendras Schuld, dass es das Schicksal mit mir nicht so gute gemeint hat, wie mit ihr. Ehrlich gesagt, kann man ihr gar nicht böse sein. Sie ist der netteste Mensch, der mir je begegnet ist. Und glauben Sie mir, mir sind schon so einige… andere Menschen begegnet. Kendra war immer für mich da, wenn ich ein Problem hatte.“

Keri konnte sich vorstellen, welcher Art diese Probleme waren, aber sie sagte nichts. Becky redete weiter.

„Außerdem ist sie sehr großzügig ohne überheblich zu sein. Das muss für sie manchmal ein ziemlicher Drahtseilakt sein. Sie hat mir übrigens auch das Kleid gekauft, das ich heute Abend auf der Gala tragen werde. Vorausgesetzt, dass sie trotzdem stattfindet. Wissen Sie etwas darüber?“

„Leider nein“, antwortete Keri knapp. „Erzählen Sie mir etwas über ihre Ehe mit Jeremy. Wie würden Sie die Beziehung beschreiben?“

„Gut. Sie sind großartige Partner, ein ausgezeichnetes Team.“

„Das klingt nicht besonders romantisch. Ist es eine Ehe oder ein Bündnis?“

„Ich hatte nie den Eindruck, dass sie ein besonders leidenschaftliches Paar sind. Jeremy ist eher ein sachlicher Typ und Kendra hat ihre wilde Phase ausgelebt, als sie in ihren Zwanzigern war. Ich habe das Gefühl, dass sie froh war, eine stabile, zuverlässige Beziehung zu haben. Ich weiß, dass sie ihn liebt. Aber sie sind nicht direkt Romeo und Julia, wenn sie das meinen.“

„Hat sie sich je nach mehr Leidenschaft gesehnt? Hat sie vielleicht danach gesucht, sagen wir auf diesem Klassentreffen?“

„Warum fragen Sie das?“

„Jeremy hat ausgesagt, dass sie nach dem Klassentreffen mit Ihnen irgendwie durcheinander wirkte.“

„Ach das“, sagte Becky und schniefte wieder, bevor sie einen weiten Hustenanfall bekam.

Während sie sich bemühte, ihn unter Kontrolle zu bringen, bemerkte Keri eine Kakerlake auf dem Boden. Sie ignorierte sie und hörte zu, was Becky zu sagen hatte.

„Glauben Sie mir, sie hat sich absolut korrekt verhalten. Einer ihrer Exfreunde, Coy Brenner, hat immer wieder versucht, sich an sie heran zu machen. Sie wies ihn freundlich ab, aber er war ziemlich hartnäckig.“

„Inwiefern?“

„Es war ihr offensichtlich unangenehm. Sie waren in der wilden Zeit zusammen, von der ich vorhin gesprochen habe. Er hat ihr nein einfach nicht akzeptiert. Am Ende hat er etwas gesagt, wie ‚Er wird sie bald wieder sehen“, oder so etwas. Ich glaube, das hat sie ziemlich verunsichert.“

„Wohnt er in der Gegend?“

„Er hat lange in Phoenix gelebt. Dort war auch das Klassentreffen. Wir sind dort groß geworden. Aber er hat auch erwähnt, dass er vor kurzem nach San Pedro gezogen ist, dass er dort am Hafen arbeitet.“

„Wie lange ist das Klassentreffen her?“

„Zwei Wochen“, sagte Becky. „Denken Sie, dass er etwas damit zu tun hat?“

„Ich weiß es nicht, aber wir werden ihn überprüfen. Wo kann ich Sie finden, wenn ich mit Ihnen in Kontakt treten muss?“

„Ich arbeite bei einer Casting-Agentur in Robertson, gegenüber von The Ivy. Es ist nicht weit von hier. Aber ich habe mein Handy immer bei mir. Rufen Sie einfach an, wenn Sie mich erreichen möchten. Kendra ist wie eine Schwester für mich, bitte lassen Sie es mich wissen, wenn ich irgendwie helfen kann.“

Keri sah sie lange an und überlegte, ob sie ansprechen sollte, was auf der Hand lag. Das ständige Schniefen und Husten, das weiße Puder, der zusammengerollte Schein – all das wies stark daraufhin, dass diese Frau ein Drogenproblem hatte.

„Vielen Dank für Ihre Zeit“, sagte sie schließlich. Noch würde sie sie nicht darauf ansprechen.

Vielleicht würde sich Beckys Problem noch als nützlich erweisen, daher wollte sie sie fürs Erste in Ruhe lassen.

Keri verließ die Wohnung und ging trotz der Schmerzen in Schulter und Brust die Treppen hinunter zum Erdgeschoss.

Es gefiel ihr eigentlich nicht, Beckys Drogensucht als potenzielles Ass gegen sie zu behalten, aber das schlechte Gewissen verflüchtigte sich schnell, als sie vor die Tür trat und tief Luft holte. Sie war eine Polizistin, keine Therapeutin. Alles, was helfen würde, einen Fall zu lösen, musste genutzt werden.

Als sie losfuhr, rief sie über die Freisprechanlage auf dem Revier an. Sie brauchte möglichst viele Informationen über Kendras penetranten Exfreund, Coy Brenner.

Sie beschloss, ihm einen kleinen Besuch abzustatten.

KAPITEL SIEBEN

Keri versuchte ruhig zu bleiben, während ihr Blutdruck langsam stieg. Sie fuhr Richtung Süden auf der auf 110 zum Hafen von Los Angeles in San Pedro. Der Feierabendverkehr wurde immer dichter. Es war nach vier Uhr und sie kam trotz der Sirene nur schleppend voran.

Schließlich fuhr sie vom Highway ab und folgte dem gewundenen Straßenverlauf, bis sie bei einem Verwaltungsgebäude in der Palos Verdes Street ankam. Dort sollte sie ein paar Kollegen von der Hafenpolizei treffen, die mit ihr Brenner befragen sollten. Die Hafenpolizei musste konsultiert werden, da sie sich in ihrem Revier befand.

Normalerweise scherte Keri sich nicht um solche bürokratischen Regelungen, aber heute hatte sie nichts gegen ein bisschen Unterstützung einzuwenden. Eigentlich war sie im Umgang mit möglichen Verdächtigen sehr selbstbewusst. Sie war in Krav Maga, einer besonderen Selbstverteidigungstechnik, ausgebildet und Ray hatte ihr sogar ein paar Boxstunden gegeben. Aber mit ihrer angeknacksten Schulter und den gebrochenen Rippen fühlte sie sich nicht so stark wie sonst und sie wusste nicht genau, was sie bei Brenner erwartete.

Von Detective Manny Suarez hatte sie unterwegs per Telefon erfahren, dass Brenner scheinbar kein einfacher Mensch war. Er war in den vergangenen Jahren mehrfach verhaftet worden: Alkohol am Steuer, Diebstahl, tätlicher Übergriff mit Körperverletzung und sogar Betrug, weswegen er sechs Monate hinter Gitter verbracht hatte. Das war vor vier Jahren, und da er eigentlich fünf Jahre lang den Bundesstaat nicht verlassen durfte, hatte er technisch gesehen gegen seine Bewährungsauflagen verstoßen.

Jetzt arbeitete er hier im Hafen von San Pedro. Laut Becky Sampson hatte er behauptet, erst vor kurzem hierher gezogen zu sein, doch die Akten zeigten, dass er bereits seit über drei Monaten in einer Wohnung in Long Beach wohnte.

Als Keri eintraf, wartete Sergeant Mike Covey von der Hafenpolizei bereits mit zwei weiteren Beamten auf sie. Covey war Mitte vierzig, groß, schlank und glatzköpfig. Er strahlte Autorität aus. Sie hatte ihm telefonisch über ihre Ermittlungen informiert und er hatte die Informationen scheinbar bereits an seine Männer weitergegeben.

„Brenners Schicht endet um vier Uhr dreißig“, verkündete Covey, nachdem sie Hände geschüttelt hatten. „Da es bereits nach vier ist, habe ich den Pier-Manager gebeten, die Crew heute nicht früher gehen zu lassen.“

„Sehr gut. Dann sollten wir uns am besten direkt auf den Weg machen. Ich möchte ihn kurz in seiner vertrauten Umgebung sehen, bevor ich mit der Befragung beginne.“

„Einverstanden. Vielleicht sollten wir mit Ihrem Wagen fahren, um weniger Aufmerksamkeit zu erregen. Kuntsler und Rodriguez können im Dienstwagen nachkommen. Wir fahren in dieser Gegend regelmäßig Patrouille, der Wagen an sich wird nicht weiter auffallen. Es wäre etwas anderes, wenn sie eine fremde Person aus dem Wagen steigen sehen.“

„Alles klar“, bestätigte Keri und war erleichtert, dass sie mit kompetenten Männern zusammenarbeiten durfte, die ebenfalls keine großen Wellen schlagen wollten. Ihr Chef hasste schlechte Publicity, je diskreter die Polizei arbeitete, desto besser.

Keri folgte Sergeant Coveys Anweisungen gemäß über die Vincent Thomas Brücke zum Besucherparkplatz von Pier 400. Die Fahrt dauerte länger, als Keri angenommen hatte. Sie erreichten ihr Ziel erst um 4 Uhr 28.

Covey informierte den Pier-Manager über Funk, dass er die Crew jetzt entlassen konnte.

„Brenner müsste jeden Moment hier vorbei kommen“, sagte er zu Keri. Der Dienstwagen der Hafenpolizei fuhr an ihnen vorbei und drehte eine langsame, große Runde. Keiner beachtete sie.

Keri beobachtete die Hafenarbeiter, die jetzt den Pier entlang kamen. Einer der Männer bemerkte, dass er noch immer seinen Helm trug, und trabte zurück in die Halle, um ihn abzugeben. Zwei Männer rannten um die Wette zu ihren Autos, der Rest ging gelassen in einer großen Gruppe.

„Da ist er“, sagte Covey und wies mit dem Kinn auf einen Typen, der etwas abseits alleine ging. Coy Brenner hatte kaum Ähnlichkeit mit dem Mann in dreckigen Shorts, der vor vier Jahren in Arizona verhaftet wurde. Das Foto von damals zeigte einen durchtrieben und unruhig wirkenden Mann mit längeren braunen Haaren und grauen Bartstoppeln.

Der Mann, der jetzt über den Parkplatz schlenderte, hatte bestimmt zwanzig Kilo mehr auf den Rippen. Seine Haare waren ordentlich kurz geschnitten und sein Bart war lang und dicht. Er trug Jeans und ein kariertes Baumwollhemd, sein Blick war auf den Boden gerichtet. Er sah ernst aus. Coy Brenner kam Keri auf den ersten Blick nicht unbedingt glücklich vor.

„Könnten Sie mir ein paar Minuten geben, Sergeant? Ich würde gerne herausfinden, wie er reagiert, wenn er von einer Polizistin konfrontiert wird.“

„Sicher. Ich werde eine kleine Runde drehen und meinen Männern Bescheid geben, sich fürs erste ebenfalls zurückzuhalten. Geben Sie mir ein Zeichen, wenn wir kommen sollen.“

„Abgemacht.“

Keri stieg aus dem Wagen und zog ihren Blazer über, um die Dienstwaffe zu verbergen. Dann ging sie mit ein wenig Abstand hinter Brenner her. Er schien in seinen eigenen Gedanken versunken und bemerkte sie nicht. Als er bei seinem alten Pickup Truck ankam, hatte sie ihn fast eingeholt. Gerade als sie ihn ansprechen wollte, vibrierte ihr Handy in der Hosentasche. Sie zuckte zusammen, doch er schien sie immer noch nicht zu bemerken.

„Wie geht’s, Coy?“, fragte sie kokett.

Er wirbelte überrascht herum. Keri nahm ihre Sonnenbrille ab, grinste ihn breit an und stemmte ihre Hand in die Hüfte.

„Hi?“, antwortete er, doch es klang eher wie eine Frage.

„Sag bloß, du erinnerst dich nicht an mich. Es ist vielleicht fünfzehn Jahre her. Du bist Coy Brenner aus Phoenix, richtig?“

„Ja. Sind wir zusammen zur Schule gegangen?“

„Das nicht gerade, aber wir haben eine Menge voneinander gelernt, wenn du das meinst. Du kannst mich doch nicht vergessen haben.“

Ob ich zu dick auftrage? Vielleicht sollte ich einen Gang zurück schalten.

Doch Coys Gesicht entspannte sich und sie wusste, dass er angebissen hatte.

„Sorry. Ich hatte einen langen Tag und es ist ja wirklich schon lange her“, sagte er entschuldigend. „Warum hilfst du mir nicht auf die Sprünge? Verrate mir deinen Namen.“ Er schien wirklich überrascht zu sein.

„Keri. Keri Locke.“

„Es tut mir wirklich leid, Keri Locke, aber ich kann dich immer noch nicht einordnen. Dabei bist du definitiv der Typ Frau, an den man sich erinnern würde. Was treibt dich hierher?“

„Ich hatte die Nase voll von der Hitze in Arizona. Jetzt arbeite ich für die Stadtverwaltung. Ich bearbeite Fälle – nichts Besonderes. Und du?“

„Das siehst du doch, ich arbeite am Hafen.“

„Ein Junge aus der Wüste, der jetzt am Hafen arbeitet. Wie ist es denn dazu gekommen? Wolltest du dein Glück in Hollywood probieren? Oder Surfen lernen? Oder bist du wegen einer Frau hier?“

Sie sagte es ganz nebenbei, beobachtete seine Reaktion aber genau. Sein interessiertes und amüsiertes Grinsen wich einem gewissen Misstrauen.

„ich weiß immer noch nicht, wer du bist, Keri. Wo haben wir uns kennen gelernt?“ Sein Ton klang jetzt etwas schärfer als noch vor einer Minute.

Keri spürte, dass ihre Deckung an Überzeugungskraft eingebüßt hatte. Sie hatte nicht mehr viel Zeit und beschloss, etwas aggressiver vorzugehen.

„Vielleicht erinnerst du dich nicht an mich, weil ich nicht aussehe wie Kendra. Ist das vielleicht das Problem, Coy? Hast du nur Augen für sie?“

Er sah jetzt verärgert aus und machte einen Schritt auf sie zu. Keri sah, wie es unwillkürlich die Faust ballte. Sie blieb ganz ruhig.

„Wer zum Teufel bist du?“, fragte er. „Was soll das?“

„Ich will mich nur mit dir unterhalten, Coy. Warum bist du plötzlich so angespannt?“

„Ich kenne dich nicht“, stellte er schließlich fest. Seine Stimme klang jetzt geradezu feindlich. „Wer hat dich geschickt? Ihr Mann? Bist du ein Privatdetektiv?“

„Was wäre, wenn? Gäbe es denn etwas herauszufinden? Willst du mir vielleicht etwas sagen?“

Er machte einen weiteren Schritt auf sie zu. Sein Gesicht war jetzt keinen halben Meter mehr von ihrem entfernt. Anstatt sich einschüchtern zu lassen, spannte Keri die Schultern an und erhob ihr Kinn.

„Ich glaube, es war ein großer Fehler, hierher zu kommen, kleine Lady“, knurrte Coy. Er stand mit dem Rücken zum Einsatzfahrzeug, das langsam hinter ihm herangerollt war und jetzt ein paar Meter entfernt stand.

Aus dem Augenwinkel sah Keri, dass auch Sergeant Covy langsam auf sie zukam, ebenfalls darauf bedacht, nicht von Brenner entdeckt zu werden. Sie hatte plötzlich das starke Bedürfnis, die Männer heranzuwinken, aber sie unterdrückte es.

Jetzt oder nie.

„Was hast du mit Kendra gemacht, Coy?“, zischte sie. Nichts erinnerte mehr an das Katz und Maus-Spiel, mit dem sie begonnen hatte. Sie starrte ihn herausfordernd an und fuhr mit den Fingerspitzen über ihren Pistolengürtel, bereit sich selbst zu verteidigen.

Auf ihre Frage hin veränderte sich sein Blick jedoch wieder. Er war jetzt nicht mehr wütend, sondern verwirrt. Er hatte offensichtlich keine Ahnung, worauf sie anspielte. Er machte einen Schritt zurück.

„Was?“

Sie spürte, dass er nichts getan hatte, bohrte aber trotzdem nach.

„Kendra Burlingame wurde als vermisst gemeldet und mir ist zu Ohren gekommen, dass Sie ihr nachgestiegen sind. Wenn Sie ihr irgendetwas angetan haben, wäre jetzt der richtige Zeitpunkt, den Mund aufzumachen. Wenn Sie kooperieren, werde ich Ihnen helfen, ansonsten könnte es hässlich für Sie werden.“

Er starrte sie weiterhin ungläubig an. Er schien nicht ganz zu begreifen, was sie gerade gesagt hatte. Sergeant Covey war nur noch wenige Schritte von ihm entfernt. Auch seine Hand ruhte auf seiner Waffe.

„Kendra ist verschwunden?“, fragte Brenner und klang wie ein Kind, das gerade erfahren hat, dass sein Hund weggelaufen ist.

„Wann haben Sie sie zuletzt gesehen, Coy?“

„Auf dem Klassentreffen. Ich habe ihr erzählt, dass ich jetzt in der Nähe wohne und sie vielleicht mal besuchen würde. Aber sie hat mir ziemlich deutlich gezeigt, dass sie kein Interesse an meiner Gesellschaft hat. Ich glaube, ich war ihr peinlich. Das wollte ich wirklich nicht, also habe ich mich nicht mehr bei ihr gemeldet.“

„Wollten Sie sich nicht an ihr rächen, weil sie Sie blamiert hat?“

„Sie hat mich nicht blamiert, ich habe mich ganz von alleine geschämt, dass ich jemandem so unangenehm sein kann. Ich habe mich durch ihre Augen gesehen und mir ist bewusst geworden, wie tief ich gefallen bin. Das hat mir die Augen geöffnet. Ich habe mir immer eingebildet, wie cool und wie taff ich bin. Erst durch Kendra ist mir klar geworden, dass ich eigentlich ein ziemlicher Verlierer bin.“

Tasuta katkend on lõppenud.