Loe raamatut: «Reflexive Sinnlichkeit III: Lebenskunst und Lebenslust», lehekülg 5

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4.2 Der Gegenwartsmoment der phänomenologischen Psychologie

Interessanter für unseren Zusammenhang ist, was der Entwicklungspsychologe Daniel Stern in seinen bahnbrechenden Forschungen zu diesem Thema herausgefunden hat. Dem Titel dieser einmalig genauen Analyse der Mikrostruktur unseres Gegenwartserlebens, die übrigens Pöppels Messergebnisse bestätigt, verdanke ich den Ausdruck Gegenwartsmoment (the present moment) (D. Stern, 2005). Interessanterweise arbeitete auch Stern bei seinen Forschungen zunächst mit Erzählungen. Es erweist sich dabei, dass wir nicht nur bei außerordentlichen, sondern auch bei ganz banalem Alltagsgeschehen, wie z. B. ich mache mir Frühstück, ich treffe eine Verabredung, ich parke mein Auto, ich fahre mit dem Fahrstuhl zu meinem Büro, ich führe ein Gespräch im Korridor, in der Lage sind, eine Reihung von Gegenwartsmomenten nachträglich in einer Erzählung wiederzugeben, wenn das Kurzzeit-Gedächtnis nicht zerstört ist oder im Moment des Erlebens war. In den ersten Zusammenfassungen seiner Forschungsergebnisse (auf den Seiten 14 sowie 32–39) stellt Stern u. a. fest:

• Gegenwartsmomente sind überaus inhaltsreich; die Inhalte können real oder vorgestellt sein.

• Ein Gegenwartsmoment ist eine ganzheitliche Erfahrung, eine Gestalt, die als abgegrenzt von anderen erlebt wird.

• Er enthält eine durchlebte Geschichte, die erzählbar ist.

• Diese erlebten Momente sind nicht isoliert vom sonstigen Leben des Subjekts, sondern in ihnen spiegeln sich seine Persönlichkeitsstile, Voreingenommenheiten und Konflikte wieder.

• Ein Gegenwartsmoment ist nicht voraussagbar, weil er bestimmt wird von den ständig sich ändernden Umständen von Zeit, Ort, vergangenen Erfahrungen und den jeweiligen Umweltbedingungen inklusive der Beziehungsverhältnisse.

• Obwohl Gegenwartsmomente eine »zeitliche Architektur« besitzen, werden sie als eine andauernde Gegenwart erlebt, die eine geschlossene Gestalt hat. Sie währen gewöhnlich drei bis vier Sekunden, können sich aber bei außerordentlichen Erfahrungen bis zu 40 Sekunden ausdehnen.

• Gegenwartsmomente werden auf subtile Weise durch die Vergangenheit eben vorübergegangener und die Zukunft als nächste erwarteter Gegenwartsmomente mitbestimmt. Diese Hinneigung der Gegenwartsmomente zur Vergangenheit und Zukunft hat bereits Edmund Husserl, der Begründer der Phänomenologie, erkannt und als Retention und Protention bezeichnet.

Hier zeichnet sich erstmals ein genaueres Bild von dem ab, was wir ständig als unsere momentane Gegenwart erleben. Überraschend ist vielleicht zunächst vor allem ihre Kürze. Andererseits kennt jeder ja auch die Ungeduld, die sich sofort einstellt, wenn der Computer uns einige unausgefüllte Sekunden des Wartens abnötigt. Unser Gehirn will unablässig beschäftigt sein. Die Meditationserfahrung zeigt uns, dass es unmöglich ist, es zum Stillstand zu zwingen. Allein der Wechsel in den Zeugenstand, in die Beobachterposition des Nicht-Beteiligten und Nicht-Wertenden, ermöglich den Eintritt in einen meditativen Zustand, in dem das Bewusstsein sich selbst zum Inhalt werden kann.

Ein solcher Zustand ist etwas anderes als die reflexiven Gegenwartsmomente, zu denen wir auch im Alltagsbewusstsein häufig wechseln: »Der Gegenwartsmoment ist oft schwer zu greifen«, schreibt Daniel Stern, »weil wir so oft schnell aus dem gerade laufenden Erleben herausspringen, um die objektive Perspektive der dritten Person einzunehmen. Wir versuchen zu begreifen, was wir gerade erlebt haben, indem wir es in Worte oder Bilder fassen. Die Versuche der unmittelbaren Reflexion (immediate retrospection) objektivieren die Erfahrung offensichtlich« (33, meine Übersetzung, HPD), und helfen dabei, uns zu orientieren. Diese reflexiven Gegenwartsmomente haben, wie schon erwähnt, die gleiche Struktur wie die nicht-reflexiven Gegenwartsmomente. Sie tauchen aus dem Meer der gewöhnlichen Routinen dann im Bewusstsein auf, wenn etwas Ungewöhnliches diese stört und dem menschlichen Organismus eine Reaktion auf das Neue abfordert: Irgendetwas muss geistig und vielleicht auch körperlich getan werden. Insofern ist der rasche Wechsel zwischen unmittelbaren erlebten und reflexiven Gegenwartsmomenten nicht verwunderlich. Eine interessante Frage, der ich hier aber nicht ausführlich nachgehen kann, wäre dabei, was genau der Unterschied zwischen reflexiven und meditativen Gegenwartsmomenten ist. Letztere bestehen nicht aus einem Nachdenken über und Nachspüren von etwas eben Erlebtem, sondern beinhalten ein unmittelbares Bewusstsein des Geschehens jenseits aller Fragen von Sein oder Schein und von gut oder schlecht. Es würde zu einem Handeln »aus dem Bauch«, einer Spontaneität (nicht: Impulsivität!) führen, wie sie in manchen asiatischen Kampfsportarten geübt wird.

■ Schon Jahrzehnte zuvor hatte Perls diese Forschungsergebnisse in seiner praktischen Arbeit vorweggenommen, als er die gestalttherapeutische Methode der Konzentration auf das Hier-und-Jetzt eines Gegenwartsmoments entwickelte. Dabei geht es vor allem um die Gegenwartsmomente in der Beziehung zwischen Therapeut und Patient, also im therapeutischen Kontaktprozess, wobei das Gewahrsein noch durch sogenannte Gestalt-Experimente gesteigert werden kann.

Wir können mit den neuen phänomenologischen Untersuchungsergebnissen nun die Wirkung dieser Methode besser verstehen: In den Gegenwartsmomenten und ihren je individuellen Retentionen und Protentionen spiegelt sich der persönliche Stil, mit dem ein Mensch sein tägliches Leben führt. Deshalb ist zu erwarten, dass in ihnen auch die neurotischen Prozesse bereits sichtbar werden. Der mikroskopische Blick auf diese Erlebenseinheiten kann, zusammen mit bestimmten Gestaltübungen, dann zu Erlebens- und in der Folge zu Verhaltensänderungen bei der kreativen Bewältigung von Lebensproblemen führen.2

Dabei hilft die Tatsache, dass Gegenwartsmomente erzählbar und damit sprachlich kommunizierbar sind. Die jeder Erzählung innewohnende Tendenz zum Plot sorgt dafür, dass die jeweiligen Gegenwartsmomente in der Therapie neu erlebt werden und zu neuen Einsichten führen können, die über die Wirkung rein kognitiver Erkenntnisse aus den reflexiven Gegenwartsmomenten hinausgehen, weil das Drama die Gefühle weckt und den Körper mitnimmt.

Denn jede Erzählung besitzt eine innere Struktur – Anfang und Ende, Einleitung, Absätze und Rhythmen im Erzählfluss, dramatische Höhepunkte und Pointen, einen Abschluss und möglichst auch eine »Moral von der Geschichte«. Diese formale, aber variable Struktur, die jeder Erzählung eigen ist, hat darin bereits eine heilende Kraft, dass sie dem Erlebten unversehens eine Ordnung verleiht, die in sich sinnhaft ist und uns Orientierung schafft.

Wir brauchen also eine Kultur des Erzählens, die ihre eigenen Regeln hat, zu denen ein Sich-Zeit-Nehmen ebenso wie die unsichtbaren Mauern eines gewissen Datenschutzes gehören, weil es um das eigene Leben geht, zu dem immer auch Privates und Intimes gehören. Denn es ist gut, diese Selbst-Erzählungen auch zu veröffentlichen, also zunächst ins Dialogische zu überführen, weil erst die Resonanz die in ihr gewonnene Orientierung absichert und gesellschaftstauglich macht.

■ So ist etwa, anders als in traditionellen Ehen, in der modernen Partnerschaft das Beziehungsgespräch konstitutiver Bestandteil einer gelungenen Beziehung, das nicht etwa dann erst stattfinden darf, wenn die Krise bereits offen zu Tage tritt, sondern vielmehr ständig kultiviert werden muss. Das Glück oder Unglück von Paarbeziehungen hängt sehr weitgehend davon ab, ob es gelingt, diese Gesprächskultur gemeinsam zu erlernen und miteinander zu entwickeln. Dazu gehören wichtige Regeln, die zu lehren der eigentliche Sinn von Paartherapien ist oder sein sollte: Zum Beispiel,

– dass es sinnvoll ist, wie wir von Paul Watzlawick gelernt haben (P. Watzlawick, 2000) den Inhaltsaspekt einer Kommunikation von ihrem Beziehungsaspekt, also der immer mitschwingenden Frage, wie man gerade emotional zueinander steht, zu unterscheiden und wenn möglich abzutrennen;

– dass es wichtig ist, den anderen wirklich anzusprechen und ihm ernsthaft zuzuhören;

– dass eine Streit steigernde Semantik, wie z. B. die Worte »immer« und »nie«, vermieden werden sollte;

– dass dem anderen in jedem Fall – also gegebenenfalls auch kontrafaktisch – die volle Kommunikationskompetenz unterstellt werden muss, mit der psychologischen Keule aufeinander einzuschlagen (z. B. du projizierst, das ist eine Rationalisierung, typisch Narzisst – typisch Mann – typisch Frau, genau wie deine Mutter etc.), und

– dass es immer entscheidend ist, ob die Partner ihre eigenen Bedürfnisse zu spüren und zu achten gelernt haben und sich den Mut fassen können, sie klar und ehrlich offenzulegen.

Miteinander sprechend konstituieren wir unsere gemeinsame Wirklichkeit. Je mehr dieses Reden die Struktur von Erzählungen annehmen kann, desto sinnhafter wird die damit konstituierte Wirklichkeit, desto stärker wird ihre Orientierungskraft sein. Es gibt elegische und emphatische, dramatische, balladenartige und lyrische, anekdotenhaft zugespitzte und episch ausgebreitete, komische und tragische Erzählungen. Es steht der Kunst des biografischen Erzählens ein großer Formenreichtum zur Verfügung. Aus der Romanliteratur lässt sich nicht nur Inhaltliches über das Leben lernen, sondern mehr noch aus der Form des Erzählens. Zur Lebenskunst gehört die erzählerische Kompetenz, aus diesem Reichtum zu schöpfen und die gewählte Form der jeweiligen Kommunikationssituation anzupassen. Viel zu einseitig wird auch in der Psychotherapie das Augenmerk auf den Inhalt, viel zu wenig auf die Form der Erzählung gelegt. Viel zu wenig wird die Notwendigkeit dieser Kompetenz gesehen, viel zu gering wird auch in der Psychotherapie ihre heilende Kraft geschätzt (eine seltene Ausnahme: E. Polster, 1987).

■ Die Gestalttherapie hat eine holistische Perspektive. Wie schon erwähnt zeigt die gestalttherapeutische Erfahrung, dass sich die Strukturen der Makro-Prozesse bereits in den Mikro-Prozessen finden, dass die übergreifenden, tiefer gehenden neurotischen Prozesse schon in den kleinen Hemmungen und Verhakungen der erlebten Gegenwartsmomente sichtbar werden. Gerade weil diese so banal und harmlos erscheinen, eignen sie sich besonders gut dafür, Veränderungsprozesse anzustoßen. So ist z. B. die Gestalttherapie weniger an dem Inhalt als am Wie der Erzählungen interessiert. An der Art und Weise, wie jemand erzählt und aus dem Ablauf des Erlebens eine Gestalt mit der Struktur eines Plots formt, lässt sich bereits diagnostisch einiges erkennen und – wichtiger – therapeutisch etwas gewinnen. Auch banale Gegenwartsmomente können schleppend und einschläfernd (»depressiv«) oder eilig, übertreibend, oberflächlich (»hysterisch«) oder ängstlich und mit ermüdender Detailversessenheit (»zwanghaft«) oder träumerisch, vage, zaghaft, versponnen (»schizoid«) erzählt werden. Schon die Übung, dieselbe Episode einmal in ganz anderem Stil zu erzählen, kann zu einer erstaunlichen therapeutischen Erfahrung werden. Wichtig bleibt aber in der Therapie die Einbettung in eine dialogische Beziehung. Allein die physische Gegenwart und die psychische Präsenz des Therapeuten, schon sein Zuhören mit echtem Interesse und seine gelegentlichen Nachfragen sind für manche Patienten eine neue Erfahrung, die zu einer Änderung festgefahrener Einstellungen und erstarrter Perspektiven führen kann.

■ Ist das übertragbar auf andere Beziehungen? Ja und nein. Es muss auf jeden Fall eine vertrauensvolle Beziehung sein, weil jeder Perspektivenwechsel, erst recht das Loslassen von gewohnten Vorstellungen und Handlungsabläufen und das Sich-Einlassen auf das Neue, beängstigend sind. Ferner kann die Asymmetrie in der therapeutischen Dyade, der Autoritätsvorschuss, den der Patient dem Therapeuten entgegenbringt, nur durch einen paritätischen Positionswechsel der Gesprächspartner im Dialog ausgeglichen werden: Der Therapeut kann – und sollte in maßvoller Weise – sich selbst mit seinen Gefühlen als Resonanzboden mit einbringen, was in einer scheinbar ähnlichen Beziehung wie der zwischen einem Gläubigen und seinem Beichtvater eben nicht vorgesehen ist. Auch dann bleibt die therapeutische Beziehung allerdings eine asymmetrische, anders als in der Paarbeziehung, in der die Bedürfnisse und Probleme beider Beteiligten zum Thema werden können und müssen.

Selbst diese Art des Dialogs, in dem jeder dem anderen die größte Autorität in Dingen seines eigenen Lebens unterstellt und belässt, ist im dauerhaften Zusammenleben ersichtlich schwierig und verlangt aufmerksame Bemühung. Abzuraten ist auf jeden Fall bei Vorhandensein stärkerer neurotischer Prozesse – also fast immer – der Versuch eines Partners, den anderen zu therapieren. Denn die Unvorhersehbarkeit der Gegenwartsmomente wird bei einer Veränderung des Erlebensmodus noch verstärkt, sodass das therapeutische Handwerk, nämlich die Kunst der Interventionen und die erforderliche Präsenz, viel Erfahrung verlangt. Dennoch gibt es auch Versuche der gestalttherapeutischen Selbsthilfe (z. B.: Muriel, 1971; M. Weber, 1982), die dann allemal besser ist, als sich Menschen anzuvertrauen, die dieses Kunsthandwerk nicht erlernt haben oder zu denen Vertrauen zu fassen schwer fällt.

Was aber auf jeden Fall für die Lebenskunst bleibt, ist der Wert der bloßen Konzentration auf das Jetzt des Gegenwartsmoments. Denn das Gewahrsein allein hat schon eine heilende Kraft. So wie sich unser Atem automatisch verändert, wenn wir unsere Aufmerksamkeit auf ihn richten, so ist es auch mit anderen Ich-Funktionen des Selbst:

Wenn du dein Leben ändern willst, dann übe dich in Achtsamkeit im Hier-und-Jetzt! Denn »jeder Zustand, ja jeder Augenblick ist von unendlichem Wert, denn er ist der Repräsentant einer ganzen Ewigkeit.« (Goethe)

4.3 Die Gegenwart der übergreifenden Kontakt-Prozesse

Die unregelmäßige Abfolge von Gegenwartsmomenten strukturiert sich in übergreifenden Handlungs- und Erlebens-Einheiten, die ihre eigene Gestalt und ihre eigene Gegenwart besitzen. »Hier-und-Jetzt« kann sich auf die Situation beziehen, in der jemand am Frühstückstisch sitzend sich Brote streicht und Kaffee trinkt. Aber »Hier-und-Jetzt« kann auch meinen: auf dieser Konferenz, in diesem Seminar, in dieser Urlaubswoche, während dieses Besuches, in dieser Liebesnacht. Und auch: bei diesem Gespräch auf der Straße, diesem Einkauf im Laden, diesem Trinkgelage, dieser sportlichen Betätigung, dieser Arbeitsbesprechung und so fort. Es gibt unzählige Handlungsstränge, die eine in sich geschlossene Gestalt bilden, weil sie eine bestimmte Bedeutung besitzen und einen Zeithorizont, der als eine Spanne von Gegenwart erlebt wird. Die Gestalttherapie nennt diese Erlebenseinheiten Kontaktprozesse.

Im allgemeinen Sinn bezeichnet der Begriff Kontaktprozess jeden Austauschprozess zwischen einem menschlichen Organismus, ganzheitlich als psycho-physische, intelligente, mobile Einheit verstanden, und seiner jeweiligen Umwelt bzw. Mitwelt. Diese verändert sich ihrerseits durch die menschliche Mobilität sowie auch ständig aus sich selbst heraus, sodass sie also »jeweils« anders ist. Ausgetauscht wird dabei, was der Mensch zu seiner vieldimensionalen Existenz braucht, nämlich

– Energie,

– Materie und

– Informationen.

Es kann sich dabei also sowohl um physische Austauschprozesse (z. B. Nahrungsaufnahme und -verarbeitung) als auch um geistige (z. B. Lesen, Schreiben, Kunstgenuss) oder um psychosoziale (alle Arten von Interaktionen) handeln, aber die Letzteren stehen natürlich meist im Vordergrund des therapeutischen Interesses.

Kontaktprozesse sind beim Thema »Hier-und-Jetzt« von Interesse, weil sie jeweils ihre eigenen Orte und vor allem ihre eigene Gegenwart haben. Und sie sind im weiteren Kontext dieses Buches von Interesse, weil sie gelingen oder misslingen können, je nachdem, mit wie viel Lebenskunst man zu Werke geht. Die zuerst von Perls und Goodman skizzierte Theorie der Kontaktprozesse (vgl. PHG, 2006, Kapitel 12/13) habe ich an anderer Stelle ausführlich ausgearbeitet (H. P. Dreitzel, 2007a, Teil II.) Ich werde mich deshalb auf die hier wichtigen Aspekte beschränken.

■ In unseren Kontaktprozessen geht es um die Befriedigung von Bedürfnissen, Trieben und Interessen. Sie sind der Motor jedes Kontaktprozesses. Der Vorgang der Bedürfnisbefriedigung verläuft in vier Phasen, in denen jeweils andere Ich-Funktionen des Selbst zum Zuge kommen: In der ersten Phase, im Vorkontakt, geht es darum, die eigenen Bedürfnisse hier-und-jetzt zu spüren und gegebenenfalls auch zum Ausdruck zu bringen. Erst muss man wissen, was man braucht. Allgegenwärtig hier, nämlich anwesend, ist unser Leib. An seinen Bedürfnissen führt kein Weg vorbei; immer sind wir an ihn gebunden, stets müssen wir für ihn sorgen, bevor wir zu anderen Bedürfnissen und Interessen fortschreiten können. Nur wenige leibliche Bedürfnisse müssen unverzüglich befriedigt werden, will man nicht an Leib und womöglich Leben Schaden nehmen. Manche gestatten Aufschub, wenn auch nicht allzu langen, noch andere kann man verdrängen, aber nur um den Preis der Wiederkehr des Verdrängten unter anderem, schlechterem Vorzeichen.

Im Vorkontakt geht es um brauchen, wünschen, wollen – in dieser Reihenfolge. Es ist immer nützlich, bei der Befriedigung seiner Bedürfnisse zunächst auf die Unterscheidung dessen, was man braucht, und dessen, was man sich wünscht, zu achten. Gewiss, es kann keine klare Grenze zwischen diesen beiden geben: Selbst die Armutsgrenzen sind relativ, variabel je nach dem Lebensstandard einer Gesellschaft. Jenseits von ihnen aber muss jeder selbst oder mit den Lebenspartnern entscheiden, welchen Interessen man mit wie viel Aufwand nachgehen will, und in welchem Umfang man den eigenen Trieben nachgeben möchte. In jedem Fall sollten alle Kontaktprozesse zu »sättigenden Erfahrungen« werden. Dazu muss nicht nur dem, was man zu brauchen meint, Priorität eingeräumt werden, sondern man muss auch von Zeit zu Zeit den Wünschen freien Lauf lassen, um sich erst einmal die Vielfalt der Lebensmöglichkeiten vor Augen zu führen. Allerdings kann bei der Sättigung auch ein Überdruss am Zuviel entgegenstehen. Das ist in reichen Konsumgesellschaften wie der unseren nicht selten der Fall. Dann erlahmt jedes Interesse und die Handlungsimpulse schlafen ein. Schlimmer noch ist es, wenn kein Überdruss bei Übersättigung entsteht: Leider neigt der psycho-physische Organismus des Menschen zur Sucht, also zu einer Selbstschädigung, zu der eine profitgierige und moraltaube Konsumindustrie ihn ständig verführen will.

Der Kampf um die Vermeidung von Süchten ist ein wiederkehrendes Thema beim Üben der Lebenskunst: Während das Rauschhafte im Leben im Dienste der Lebenslust stehen kann, ist die Sucht allemal nur Hindernis bei der Achtsamkeit, eine Trübung des Gewahrseins.

Ist das Gebrauchte besorgt und sind die Wünsche besichtigt, dann kommt das Wollen. Hier führt meistens das Abwägen von Kosten und Nutzen bereits zur Entscheidung. Wenn nicht, dann ist typischerweise außer Acht gelassen worden, was man nicht will. Wenn ich mir sicher bin, was ich auf keinen Fall möchte, wozu ich absolut nein sage, dann ergibt sich das, was ich will, wie von allein. Denn jede Ablehnung vermindert die Zahl der Alternativen, und das ist gut so, weil wir oft viel genauer wissen, was wir nicht wollen, als was wir wollen. Allerdings gestehen wir das meistens uns selbst nicht ein und anderen nicht zu (mehr dazu in Abschnitt I, 5, 4).

■ In der zweiten Kontaktphase kommen die senso-motorischen Funktionen des Selbst zum Zuge. Man muss sich in der Umwelt orientieren, schauen, was sie den Bedürfnissen zu bieten hat, und auch offen sein für ihre Anregungen. Man muss aus sich und seinem Hause herausgehen, sich umschauen, vergleichen und dann zugreifen. Oder man muss die gegebene Umwelt so umgestalten, dass es möglich ist, sie sich zu eigen, d. h. nutzbar für die Befriedigung der eigenen Bedürfnisse und Interessen zu machen.

Wichtig dabei ist, ein ausgewogenes Verhältnis zu den eigenen aggressiven Funktionen zu entwickeln. Die Gestalttherapie hat ein positives Verhältnis zur Aggressivität, weil sie die aggressive Energie der Initiative, der schöpferischen Umgestaltung, des kreativen Zorns, des künstlerischen Schaffens, aber auch der Beseitigung, des Loslassens und der Trennung hochschätzt. Alles Leben ist auch Zerstören, Destruktion im Sinne von De-Strukturierung des Vorgefundenen; nur so ist Neues möglich, kann es Überwindung des Alten und Freiraum für einen Neubeginn geben. Die alten Inder wussten das: Ihr Gott Shiva wird oft tanzend auf den Schädeln und Knochen der Toten dargestellt; zugleich sind Lingam und Yoni, die Geschlechtsorgane, als die Quellen des Lebens die Wahrzeichen Shivas in den Tempeln und auf den Straßen Indiens, wo immer Shiva verehrt wird.

Wir zucken zurück, dem Aggressiven einen positiven Wert beizumessen, weil es viel zu viel Gewalt in der Welt gibt, auch hierzulande noch, obwohl unsere Häuser und Wohnungen, unsere Städte und unsere Wälder noch niemals zuvor in der Geschichte so sicher waren wie heute.

Die Gestalttherapie geht nun von der Erkenntnis aus, dass Gewalt, soweit sie nicht aus purer Notwehr geschieht, meistens ihre Ursache in der Unterdrückung von aggressiven Impulsen hat. Ich halte das zwar für zu einseitig, aber es gibt zweifellos gute Beispiel dafür: So hat etwa die noch immer weite Verbreitung häuslicher Gewalt, die die Privatsphäre heute fast gefährlicher erscheinen lässt als das öffentliche Leben, oft ihre Ursache in dem emotionalen Analphabetismus vieler Männer, die sich der wortreicheren und emotional treffsichereren Provokationen ihrer Frauen nur durch impulsive Gewalt erwehren zu können glauben.

Diese Beobachtungen sind richtig, ihre Verallgemeinerung aber ist wahrscheinlich zu optimistisch in Hinsicht auf den emotionalen Zivilisationsstandard unserer Gesellschaft. Gewalt geht nicht nur aus der Unterdrückung unserer notwendigen (!) positiven aggressiven Funktionen hervor, sondern stammt auch aus den negativen von Macht- und Geldgier, von Eifersucht, von Angst vor Ehrverlust, von Sucht nach Ruhm und Anerkennung und auch bei bestimmten Unterdrückungszuständen von dem alles beherrschenden Wunsch nach einem selbstbestimmten Leben in Freiheit und Würde.3 Aber all diesen Süchten und Sehnsüchten kann man auch ohne Gewalt nachgehen, wenn auch manchmal – wohl gemerkt nur manchmal! – weniger erfolgreich. Alle Affekte können übersteigert werden, nicht nur die aggressiven – aber nur bei diesen ist der Ausdruck einer Übersteigerung Gewalt ! Deshalb ist es richtig, dass wir lernen müssen, den Ausdruck unserer negativen Gefühle zu zügeln, sodass es nie zu körperlicher Gewalt oder Zerstörung von Sachwerten kommt, aber ohne sie zu unterdrücken oder zu verdrängen. Denn sonst droht die Wiederkehr des Verdrängten an falscher Stelle und mit dem falschen Mittel: impulsiver Gewalt. Das lässt sich üben, nur müsste eigentlich früh damit begonnen werden. Zum Beispiel kann auch eine leise Stimme sehr abweisend, kritisch und sogar böse wirken; zur Energieabfuhr ist es besser, auf den Boden zu stampfen als zuzuschlagen. Oder man kann sich bei jeder emotionalen Übersteigerung stoppen, wenn man zum rechten Moment in den Spiegel schaut oder sich insgeheim an ein zuvor eingeprägtes, privates Code-Wort erinnert, sei es einfach »Stopp!«. Vor allem aber geht es um ein frühzeitiges Gewahrsein der aufsteigenden aggressiven Erregung und gegebenenfalls um eine Entkoppelung dieser Erregung vom potenziellen Objekt der Wut, sodass ich meinen Geist befreie von der Obsession, dem anderen etwas antun zu müssen, und ihn allein mit der Beobachtung des Affekts in mir, dem Subjekt des Erlebens, befasse. (Vgl. dazu die Meditation Nr. 13 im Teil III, 2 dieses Buches, die besonders zur Zügelung von Wut geeignet ist.)

■ Es gibt seit einiger Zeit unter Gestalttherapeuten eine Debatte darüber, ob die von PHG vorgetragene Sicht der Aggressiven Funktionen angesichts der Gewalt in der Welt nicht zu blauäugig, ja gefährlich naiv ist (vgl. die Diskussionen in F. Staemmler & R. Merten, 2008.) Kürzlich ist diese Diskussion heftig aufgeflammt durch einen nun in der Tat naiven Vorstoß von Stefan Blankertz, der so weit ging, mit dem politischen Anarchismus Paul Goodmans die ultraliberalen amerikanischen Waffengesetze zu rechtfertigen, wobei er den beunruhigenden Amokläufen einzelner Psychopathen eine generelle Tendenz zu staatlichen Amokläufen gegenüberstellte (S. Blankertz, GESTALTTHERAPIE 27 (1.2013), dazu seine Kritiker E. Fuhrmann und A. Boeckh im gleichen Heft. Vgl. auch: S. Blankertz, Verteidigung der Aggression, 2010. In GESTALTTHERAPIE Heft 28 gibt es einen Leserbrief von mir, der zum Teil identisch ist mit dem Text der folgenden Seiten hier).

Mir scheint es schwer vorstellbar, dass sich Paul Goodman in der gegenwärtigen Diskussion in den USA über mögliche Einschränkungen des Verfassungsartikels, der jedem Amerikaner das Recht auf den Besitz von Waffen erlaubt, auf die Seite der heutigen Waffen-Lobby stellen würde – zu verschieden ist die gegenwärtige Situation von der Ausgangslage der amerikanischen Verfassung im 18. Jahrhundert. Vor allem hat sich die Waffentechnik dramatisch verändert: Die verheerende Wirkung moderner Handfeuerwaffen ist nicht mit der einer Büchse jener Zeit zu vergleichen. Das Fazit, das Albrecht Boeckh daraus zieht, scheint mir allerdings völlig überzogen: »Diese Haltung von Stefan Blankertz ist die bittere Frucht einer Gestalttherapie-Theorietraditionslinie, die kein Konzept besitzt, mit dem zwischen ›Nahrungsaufnahme‹ und sozialen Kontakten unterschieden werden kann, in welcher beides dem gleichen ›Gestaltzyklus der Erfahrung‹ als einem biologistischem Konzept der Aggression und Einverleibung subsumiert wird.« (A. Boeckh, 97). Fritz Perls hat ja bei seiner These von der Bedeutung des Wachstums der Zähne für die Entwicklung einer »oralen Aggression« nicht an Menschenfresserei gedacht, sondern an ein Entwicklungsstadium der Kindheit, in welchem sich im Sinne einer psychophysischen Einheit des Erlebens positive aggressive Funktionen des Selbst entwickeln. Aus dieser These (die bekanntlich von der Psychoanalyse ebenso wie von der Entwicklungspsychologie ignoriert wurde) ist eine notwendige und fruchtbare Ergänzung des einseitig an dem Zusammenhang von Frustration und Aggression orientierten Verständnisses von aggressiven Antrieben entstanden. Das Bild von der Nahrungsaufnahme ist dabei sehr anschaulich, verdeutlicht durchaus auch positiv aggressive Aspekte auch anderer Kontaktprozesse und ist zugestandenermaßen dennoch auch viel zu einseitig und verführt zu falschen Assoziationen, wenn es um die Vielseitigkeit und Fülle menschlicher Kontaktprozesse geht.

Ich sehe hier hauptsächlich ein semantisches Problem: Unsere Sprache kennt keine Unterscheidung zwischen positiven und negativen Aggressionen, und alle Versuche, eine solche durch die Übersetzung des englischen »assertion« oder »assertivenes« einzuführen, wirken künstlich oder liegen daneben wie Hilarion Petzolds Versuch (H. Petzold, 2006, 48), das von Perls und Goodman Gemeinte mit »Mut«, »Zivilcourage«, »Beherztheit« zu umschreiben, und zwar deshalb, weil diese Wörter Charaktereigenschaften einer Person bezeichnen und nicht Funktionen des Selbst im gestalttherapeutischen Sinn. Albrecht Boeckh hat nicht ganz Unrecht, wenn er das Problem darin sieht, dass zur Zeit neben der »Reduktion auf das Paradigma des ›Selbsterhaltes durch die orale Aggression‹ die Bubersche Beziehungsphilosophie und in ihrer Tradition die dialogisch-relationale Gestalttherapie recht unvermittelt und unvermittelbar steht« (97). Aber das darf nicht heißen, dass die in der therapeutischen Praxis reichlich anzutreffende Retroflexion von aggressiven Gefühlen keine Beachtung mehr findet oder durch eine konfluente Überbenutzung von Beziehungs- und Wertschätzungs-Vokabular noch unterstützt wird. Es geht bei Perls und Goodman um die Unfähigkeit, sich mit der gegebenen Situation auseinanderzusetzen, die zu Gewalt (F. Perls, 1980,134) oder zu Verdrängungen führt. Die Wiederbelebung aggressiver Ich-Funktionen des Selbst ist nicht nur wichtiger Bestandteil der Therapie von depressiven, angstneurotischen und zwanghaften Prozessen sowie auto-aggressiven Verhaltensweisen und Immunerkrankungen, sondern auch Voraussetzung jeder sinnvollen, d. h. auf Achtsamkeit beruhenden Unterscheidung von positiven und negativen aggressiven Funktionen. Diese Unterscheidung ist zwar bei Perls und Goodman angelegt, aber leider nicht in theoretischer Präzision ausgearbeitet worden. Bei PHG heißt es dazu:

»Die Einstellungen und Handlungen, die man ›aggressiv‹ nennt, umfassen ein Bündel von sehr unterschiedlichen Kontaktfunktionen, die normalerweise im Handeln dynamisch miteinander verbunden sind, und daher laufen sie unter ein und demselben Namen. Wir werden nachzuweisen versuchen, dass zumindest das Vernichten, Zerstören, die Initiative und die Wut für Wachstum im Organismus/ Umweltfeld wesentlich sind. Vorausgesetzt, die Ziele sind vernünftig, sind sie immer ›gesund‹, und in jedem Falle unverzichtbar, wenn nicht wesentliche Teile der Persönlichkeit auf der Strecke bleiben sollen, insbesondere Selbstvertrauen, Gefühl und Kreativität. Andere Arten der Aggression wie Sado-Masochismus, Eroberung und Beherrschung sowie Selbstmord werden wir als neurotische Derivate interpretieren.« (PHG 2006, 170)

Hier wird klar zwischen zwei verschiedenen Formen der Aggression, nämlich positiven und negativen, unterschieden. Die einen werden als »unverzichtbar« für das Wachstum bezeichnet, die anderen als deren »neurotische Derivate«. Aber diese Unterscheidung ist nicht klar genug, weil sie als einziges Kriterium die Ausrichtung auf »vernünftige Ziele« angibt. Hinter dieser Unschärfe verbirgt sich, wie ich vermute, die Vermeidung einer Auseinandersetzung mit der schwierigen, aber heute erneut hoch aktuellen Frage nach der Unterscheidung zwischen legitimer Revolte und illegitimem Terror, zwischen legitimem Widerstand und illegitimer Gewalt, und auch, was bei den Achtundsechzigern ständig diskutiert wurde, nach der Unterscheidung zwischen Gewalt gegen Menschen und Gewalt gegen Sachen. Man kommt mit dieser Art der begrifflichen Unterscheidung nicht weiter, weil sie an den Zielen der Handlungen orientiert ist und nicht, wie meines Erachtens notwendig und sinnvoll, an ihren Mitteln. Man erinnert sich vielleicht: »Macht kaputt was euch kaputt macht!« war ein populärer Slogan der Studentenbewegung nach 1968. Was war gemeint? Menschen (»Bullen«)? Sachwerte (Bankfilialen)? Oder »die Verhältnisse«, das »System«? Und wie steht es heute, wenn man vielleicht zwar den Terror als Methode ablehnt, aber die Gewalt des »Arabischen Frühlings« gutheißt? Ich bin kein Pazifist, wie es niemand sein kann, der den Zweiten Weltkrieg als eine Befreiung von Tyrannei und Terror erlebt hat und versteht. Aber ich habe etwas gegen Gewalt. Dies sind die Antinomien von politischen und moralischen Fragen, mit denen eine Therapie-Theorie vielleicht überfordert ist.