Schwarze Krähen - Boten des Todes

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Schwarze Krähen - Boten des Todes
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Carolina Dorn

SCHWARZE KRÄHEN

BOTEN DES TODES

Engelsdorfer Verlag

Leipzig

2017

Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek:

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.dnb.de abrufbar.

Copyright (2017) Engelsdorfer Verlag Leipzig

Alle Rechte bei der Autorin

Titelbild: deat tree © umnola – Fotolia

Lutherbibel, revidierter Text 1984, durchgesehene Ausgabe,

© 1999 Deutsche Bibelgesellschaft, Stuttgart.

Bibelstellen: Hebräer 4,16 und Psalm 139,16.

E-Book-Umsetzung: Zeilenwert GmbH

www.engelsdorfer-verlag.de

Inhaltsverzeichnis

Cover

Titel

Impressum

Teil I: Der Patient Brandon

Teil II: Der Freund Gordon

Endnoten

ES STAND EIN BAUM OHNE BLÄTTER

UNTER EINER DUNKLEN GRAUEN WOLKENDECKE.

KALTER NEBEL HÜLLTE IHN EIN UND SCHWARZE

KRÄHEN SAßEN AUF SEINEN ZWEIGEN.

SEINE KAHLEN ÄSTE STRECKTEN SICH

FLEHEND DEM HIMMEL ENTGEGEN.

ER BAT UM HILFE, UM LINDERUNG SEINES LEIDENS.

UND ER DACHTE AN SEIN ENDE.

DA BLÜHTE PLÖTZLICH VOR IHM EINE ROTE ROSE AUF,

UND IHR

BETÖRENDER DUFT MIT DEN SAMTIGEN

LEUCHTENDEN BLÜTENBLÄTTERN

TRUGEN DIE HOFFNUNG UND DIE LIEBE AUF EIN

WEITERLEBEN ZU IHM.

DOCH VORSICHT: EINE ROSE HAT AUCH DORNEN.

TEIL I
DER PATIENT BRANDON

Kanada: nicht nur ein eigenständiger Staat in Amerika. Es ist ein Land voller Gegensätze. Riesige Waldgebiete mit herrlichen, großen, blauen, aber eiskalten Seen. Heiße, kurze Sommer, lange, sehr kalte Winter, manchmal auch mit schweren Schneestürmen in den Bergen. Ein wunderschönes Land, in das man sich sofort verlieben kann. Hohe schneebedeckte Berge blicken hinab auf ein überschwängliches Maß an Vegetation im Sommer. In den geschützten Tierparks gibt es viele seltene Tiere zu bewundern, deswegen verzeichnet dieses Land jedes Jahr auch eine große Zahl an Touristen.

Der April neigte sich dem Ende zu. Dr. Gordon Spencer, von Beruf Kinderarzt, dreiunddreißig Jahre alt, fuhr mit seinem Auto in Richtung eines alten Klosters. Von Gestalt aus schlank und groß musste er sich etwas in seinen kleinen Wagen hineinzwängen. Das dichte, dunkelbraune Haar hatte ein Eigenleben, denn es ließ sich kaum in irgendeine Richtung bändigen. Mit sorgenvollem Gesicht blickte er durch die Windschutzscheibe seines Fahrzeugs. Zurzeit besaß er keinen festen Arbeitsplatz. Seine gute Stellung in einer Kinderklinik in Vancouver hatte er gekündigt, da er seinem Freund beistehen wollte, der an Leukämie erkrankt war. Von dort kam er gerade. Er konnte es nicht mehr mit ansehen, wie schnell er verfiel. Der junge Mann befand sich bereits im Endstadium. Keine Pflegekraft wollte bei ihm bleiben. Im Moment bemühte sich eine ältere Pflegerin um ihn, in der Reihenfolge die achte. Aber diese Frauen sahen alle nur das Geld, das sie dort verdienten und er konnte ihnen gar nicht schnell genug sterben, denn nach seinem Tod stand eine große Summe für die letzte Pflegekraft aus. Der Freund hatte von seiner Familie eine Bank mit sechs Filialen und viele Millionen seines Stiefvaters nach dessen Tod geerbt. Die Pflegekräfte spekulierten alle ausschließlich auf das Geld, doch pflegen wollten sie ihn nur wenig. Da den meisten sein Ableben nicht schnell genug ging, blieben sie nicht lange und gaben sich praktisch die Klinke in die Hand. Am Abend zuvor hatte Gordon seinen Freund besucht. Er kam direkt aus Vancouver. Zufällig fiel ihm ein Vertrag von einer Pflegekraft in die Hände. Er überflog ihn und platzte dann los: „Brandon, bist du noch richtig im Kopf? Ich dachte, ich hätte mich verlesen bei dem Vertrag der freien Pflegekräfte. Du versprichst der letzten Pflegerin hier ein extra hohes Honorar? Kein Wunder, dass sie dich so schlecht behandeln. Sie wollen deinen Tod alle nur beschleunigen, denn jede will die Letzte sein und dann das Geld einstreichen. Verzeih’ mir, mein Freund, aber das ist schlichtweg einfach idiotisch von dir.“

„Vielleicht will ich ja schnell sterben. Dieses Leben ist sowieso nur noch ein Dahinvegetieren“, gab er ihm leise zu verstehen. „Es wird gewiss nicht mehr lange dauern. Mein Testament habe ich gemacht. Alles ist geregelt.“

Gordon wälzte sich schlaflos in seinem Bett herum. Doch in dieser Nacht kam ihm plötzlich eine Idee. Deshalb machte er sich am nächsten Tag sofort auf den Weg zu dem Kloster „Heilig Geist.“ Eine Nonne musste es sein. Sie besaß nichts und bekam auch nichts. Sie lebte in Armut, Keuschheit und Demut, nur für Gott. Sie würde bestimmt nicht auf sein Geld aus sein, dachte er sich. Seine Tante regierte dort als Mutter Oberin. Sie wollte er um Hilfe bitten. Gordon hielt den Wagen an, weil seine Augen vor ungeweinten Tränen brannten. Er legte den Kopf auf seine Hände, die das Steuerrad umklammerten und ließ ihnen endlich freien Lauf. Brandon galt als sein bester Freund. Schon als Kinder spielten sie zusammen. Später trafen sie sich auf der Universität wieder. Gordon studierte Medizin, speziell für Kinder, und Brandon studierte Veterinärmedizin. Im Grunde hätte er das gar nicht nötig gehabt, bei den vielen Millionen. Er hätte bequem von den Zinsen leben können und bräuchte sich trotz allem bei nichts einzuschränken. Dennoch wählte er einen Beruf, weil er der Meinung war, sein Leben nicht einfach so sinnlos zu vertrödeln mit Nichtstun und langweiligen Partys. Außerdem liebte er als Kind bereits besonders die Tiere. So empfand er seinen Beruf mehr als ein Hobby. Kamen arme Leute mit einem kranken Tier zu ihm, erließ er ihnen meist die Kosten. Seine Eltern und sein sechs Jahre älterer Bruder verließen ihn sehr früh nach einem tödlichen Autounfall. Brandon zählte damals erst dreizehn Jahre. Das Hausmeisterehepaar kümmerte sich weiter um ihn, da sonst kaum Verwandte zu finden waren, oder sie wollten kein Kuckucksei großziehen. So wurde er zum Alleinerben des ganzen Bankenimperiums seines Stiefvaters. Eigentlich war er gar nicht vorgesehen dafür. Brandon wuchs zu einem anständigen und bescheidenen jungen Mann heran. Seine Körpergröße überstieg die seines Vaters um mehrere Zentimeter. Er maß über eins neunzig. An seiner Figur gab es nichts auszusetzen. Er war etwas breitschultrig, schlank und gut durchtrainiert. Die pigmentreiche Haut hatte er von seiner Mutter geerbt, die nur wenige Stunden in der Sonne bleiben musste, um braun zu werden. Sein dichtes, dunkelbraunes Haar schimmerte bei speziellem Lichteinfall manchmal beinahe schwarz. Nur seine Augen trugen ein strahlendes Blau, das er manchmal unter den langen, dunklen Wimpern verbarg. Warum ausgerechnet er, warum musste er an dieser tückischen Leukämie erkranken? Ich werde meinen besten Freund, den ich bereits aus Kindertagen kenne, verlieren, dachte Gordon. Was wird dann wohl aus dem Banken- Imperium, wenn er nicht mehr ist? Aus den entfernten Familienangehörigen wird es wohl keiner bekommen, wenn sie es auch vielleicht gern möchten. Am Ende zersplittern die einzelnen Filialbanken und werden von der Hauptbank, der Rose-Bud-Bank getrennt. Oder die sechs Banken werden vielleicht zu einer zusammengelegt? Dann würden viele Menschen ihre Arbeit verlieren. Er schüttelte seinen Kopf, wischte sich die Tränen ab und startete den Wagen neu. Die Nachmittagssonne schien heute besonders heiß vom Himmel. Sie heizte dem Kinderarzt in dem kleinen, alten klapprigen Fahrzeug ganz schön ein. Weit voraus, doch immer in Sichtweite, begleiteten ihn die schneebedeckten Berge. Gordon fuhr bereits seit dem Mittag, denn das Kloster lag sechzig Kilometer weit ab von Brandons Haus. Außerdem kam er von Vancouver her, machte nur schnell eine Nacht Zwischenstation bei Brandon, um dann seinen Entschluss mit dem Kloster durchzusetzen. Erzählt hatte er Brandon nichts von seinem Vorhaben, denn der Freund hielt nichts von der Kirche und von Betschwestern schon gleich gar nicht. Gegen Abend erreichte er endlich sein Ziel. Dass er so lange brauchte, lag an seinem alten Auto.

Schon lange hatte er seine Tante nicht mehr besucht. Sie würde sich bestimmt wundern, was er auf einmal bei ihr wollte.

Er stieg aus seinem Auto, streckte und reckte sich erst einmal und stand vor einem großen, schweren, doppelwandigen, rundbogigen Eichentor. Die grauen Mauern aus ungleichen Steinen wurden rötlich von der Abendsonne beschienen. Er betätigte den alten, eisernen Türklopfer. Sogleich öffnete ihm eine ältere Nonne, die ihn freundlich unaufgefordert, als ob sie wüsste, was er wolle, zur Mutter Oberin führte.

 

Diese saß hinter einem gewaltigen Schreibtisch aus dunkler Eiche. Als Gordon eintrat, nahm sie die Brille ab, erhob sich und eilte um den Schreibtisch herum.

„Gordon, wenn ich alles erwartet hätte, aber dich am allerwenigsten!“, rief sie erfreut.

Sie umarmten sich.

„Ja Tante, ich habe dich schon eine Ewigkeit nicht mehr besucht. Aber dieses Kloster liegt auch weit ab von meinem Tätigkeitskreis. Heute komme ich mit einem Problem zu dir, das mir fast das Herz erdrückt. Ich weiß einfach nicht mehr aus noch ein. Vielleicht kannst du mir helfen?“, begann er.

„Setz dich, bitte.“ Die Oberin bot ihm einen Stuhl vor dem Schreibtisch an. Sie besaß einen schlanken Körper und ihre Größe bewegte sich in den mittleren Maßen. Ihr Alter mochte zwischen fünfzig und fünfundfünfzig Jahren liegen. Sie trug eine schneeweiße Tracht. Das blonde Haar verbarg sie vollkommen unter dem Schleier. Ihr Gesicht wies eine gewisse Strenge auf, doch wenn man sie näher kannte, wusste man, dass sie viel lieber lachte als tadelte. Jeder konnte mit seinen Sorgen oder manchmal auch Fehltritten zu ihr kommen. Aus ihrer Stimme fühlte und hörte man immer das große Verständnis für die dargelegten Probleme und die Güte mitschwingen. Obwohl sie hier als Oberin regierte, tat sie es nicht nur mit dem Kopf, sondern vor allem mit dem Herzen. Deshalb wurde sie auch von all ihren Untergebenen geliebt und nicht gefürchtet oder gehasst. Diese Nonnen hatten das besondere Glück, eine Oberin mit eigenen, schlimmen Erfahrungen zu haben, deswegen vor allem mit viel Gefühl. Da sie eben dies erlebt hatte, bereits in sehr jungen Jahren, regierte sie hier oft ziemlich nachsichtig und milde, statt mit Strenge und Strafe. Sie wurde auch nach den vielen Jahren, die sie als Oberin im Heilig Geist Kloster diente keine Beißzange, wie so viele andere in dieser Stellung. Sie half ihren Untergebenen mit Rat und Tat und fand praktisch für jedes Problem einen Ausweg.

„Nun, dann pack’ deine Sorgen und deinen Kummer hier aus“, forderte sie ihren Neffen lächelnd auf und setzte sich hinter ihren Schreibtisch.

Gordon faltete seine Hände über dem Knie und begann: „Mein bester Freund ist an Leukämie erkrankt. Ich betreue ihn im Moment: Er bekommt jedoch nicht die geeignete Pflegekraft. Alle sehen nur das Geld, das sie dabei verdienen, denn mein Freund ist mehrfacher Millionär, und er ist nicht kleinlich bei der Bezahlung. Ich habe die Pflegekräfte lange genug beobachtet, doch ich bemerke nicht viel von der Pflege. Das Bett wird nicht frisch bezogen, es wird ihm beim Essen nicht geholfen, die Körperpflege lässt auch zu wünschen übrig und was ich am allerschlimmsten finde ist, dass sie sehr ungeduldig und lieblos mit ihm umgehen.“

Die Oberin überlegte eine Weile, ehe sie antwortete. „Wie heißt dein Freund?“, erkundigte sie sich.

„Brandon Stonewall. Ich nehme an, du hast von ihm schon gehört“, antwortete Gordon.

„Ja, natürlich. Wer kennt ihn nicht? Er ist der oberste Chef der Rose-Bud-Bank und ihrer sechs Zweigstellen in ganz Kanada“, bestätigte sie. „Er ist der einzige Überlebende seiner Familie und nun liegt er selbst todkrank da? Ich vermute, du suchst bei mir eine geeignete Pflegekraft für ihn?“, informierte sie sich.

„Ja, wenn es möglich wäre und du eine deiner Schwestern entbehren könntest, würde mich das gewiss um einiges entlasten“, antwortete er und blickte sie mit großen Sorgenfalten auf der Stirn an.

Die Oberin zog ihre Stirn ebenfalls in Falten. Dann entspannte sich ihr Gesicht und ein leichtes Lächeln spielte um ihren Mund.

„Ich glaube, ich habe da eine sehr gute Pflegekraft für deinen Freund. Sie heißt Schwester Christin und ist eine meiner besten Kräfte, speziell in der Krebspflege. Sie kommt zwar heute Abend erst von einem ihrer Patienten zurück aber ich denke, dass sie die Aufgabe, deinen Freund zu pflegen, annehmen wird.“

„Er hat bereits das Endstadium erreicht“, klärte er vorsichtig die Tante auf.

Dann legte er noch eine Mappe auf ihren Schreibtisch, die ein kurzes Dossier über seinen Freund enthielt.

Die Oberin griff zum Telefon, um sich zu informieren, ob Schwester Christin bereits im Haus sei. Es dauerte auch gar nicht lange, da öffnete sich hinter Gordon eine Türe. Er drehte sich um und sah sich einer sehr kleinen, überaus zierlichen jungen Nonne in einer völlig schwarzen Tracht gegenüber. Es gab keinen noch so kleinen Flecken weißen Stoff an ihr, jedoch ihre Gestalt und ihre strahlenden, dunklen Augen ließen diese tiefschwarze Tracht vergessen.

Die Oberin erhob sich. „Darf ich vorstellen? Das ist Schwester Christin. Christin, das ist Doktor Gordon Spencer, mein Neffe. Er ist von Beruf Kinderarzt“, stellte sie die beiden einander vor. Christin machte einen kleinen Knicks, während Gordon eine Verbeugung andeutete. Mit einem Seitenblick auf die Nonne meinte er: „Entschuldigung, aber hast du dich da nicht etwas vertan? Wie soll sie das allein bewältigen? Ich bin ja schon eins achtzig groß und mein Freund misst um die eins neunzig.“

„Keine Sorge, mein Junge. Christin beherrscht ihr Handwerk vollkommen, ob große oder kleine Patienten“, erklärte die Oberin mit einem nachsichtigem Lächeln. Dann wandte sie sich direkt an die kleine Nonne.

„Christin, ich weiß, dass Sie eben von einem Patienten zurückkommen. Aber ich hätte einen dringenden und eventuell auch etwas langwierigen Fall für Sie. Natürlich ist es Ihr gutes Recht abzulehnen, mit der Begründung, dass Sie sich erst etwas ausruhen möchten …“

„Nein, nein, das geht schon in Ordnung. Wenn ich so dringend gebraucht werde, gehe ich natürlich sofort zu dem Patienten. Bis morgen früh bin ich auf jeden Fall wieder fit“, fiel ihr die Nonne in die Rede.

„Dann ist ja alles geregelt“, freute sich die Oberin. „Gordon, du kannst hier bei uns übernachten. Morgen früh darfst du Schwester Christin dann mitnehmen.“

Abschließend drückte sie der kleinen Nonne das Dossier in die Hände.

Diese schlug die erste Seite auf und sah dort ein Bild von ihrem neuen Patienten Brandon Stonewall. Sie erblickte einen großen, schlanken, jungen Mann, gutaussehend, dunkelhaarig, mit strahlend blauen Augen und kleinen Lachfältchen im Gesicht. Sie fühlte sich so angerührt von diesem Foto, dass sie sich setzen musste. Unentwegt starrte sie auf das Bild, als die Mutter Oberin sie fragte: „Ist irgendetwas nicht in Ordnung, Christin? Sie sehen ja auf einmal so blass aus.“

„Nein, Mutter, es ist nichts“, antwortete sie lächelnd, schlug die Mappe zu und erhob sich.

„Ich lese es in meinem Zimmer zu Ende“, teilte sie ihr mit und verabschiedete sich.

„Ich wusste gar nicht, dass du so junge Schwestern hier als Nonnen hast“, wunderte sich Gordon.

„Sie war ein Findelkind. Sie lag einst zu Weihnachten, in der Heiligen Nacht, in der Krippe unserer Kapelle. Ein Neugeborenes, nur in ein Badetuch gehüllt. Unsere Kapelle wurde zu dieser Zeit noch nicht beheizt, deshalb war es sehr kalt dort und das Kind erkrankte anschließend sehr schwer, so dass keiner mehr glaubte, dass es überleben würde. Aber, wie durch ein Wunder, wurde sie gesund. Sie ist hier im Waisenhaus aufgewachsen und hat sich dann mit fünfzehn Jahren entschieden Nonne zu werden. Christin hat fleißig gelernt und ist eine meiner besten Pflegekräfte, was die Krebspflege betrifft. Deshalb erlaube ich ihr auch über Nacht und, wenn es sein muss, über mehrere Monate bei schwerkranken Patienten zu bleiben. Ich kann ihr fest vertrauen, wenn sie eine Tätigkeit über lange Zeit außerhalb der Klostermauern beansprucht, denn sie ist vor allem äußerst stark im Glauben“, erklärte die Oberin.

Die Tante und der Neffe hatten sich lange nicht gesehen und so blieben sie noch eine Zeitlang zusammen, um Erlebnisse auszutauschen. Dadurch erfuhr die Tante, dass Gordon im Moment keine Anstellung hatte. Er hatte seine Stelle als Kinderarzt in einer Vancouver Kinderklinik gekündigt, um seinem Freund beizustehen. Sie rechnete ihm das hoch an. Da kam ihr eine Idee.

„Du hast keine Arbeit, sagtest du?“, forschte sie nach.

„Ja, die Entfernung von meinem Arbeitsplatz in Vancouver bis zu Brandon betrug viele Meilen, die ich nicht ständig fahren konnte“, antwortete Gordon.

„Nun, ich könnte gerade einen Kinderarzt brauchen. Unser langjähriger Kinderarzt ist krank und schon siebzig Jahre alt. Er sollte in den Ruhestand gehen und nicht mehr arbeiten. Wenn du möchtest, kannst du dir die Kinderklinik gleich einmal ansehen“, machte sie es ihm schmackhaft.

„Wenn das möglich wäre“, überlegte er. „Dann würde ich auch nicht allzu weit entfernt von meinem Freund sein.“

Die Oberin rief eine Schwester auf der Kinderstation an. „Gleich wird dir Schwester Melissa, die Stationsschwester, die Klinik zeigen“, lächelte sie ihrem Gast zu.

Kurze Zeit später öffnete sich die Türe und die Schwester im völlig schwarzen Habit trat ein.

Gordon erhob sich, um sie zu begrüßen. Da traf es ihn wie ein Stromschlag, als er sie erblickte. Groß gewachsen, schlank, jung, ein unwahrscheinlich liebliches Gesicht und eine Hautfarbe wie heller Milchkaffee, denn sie war ein Mischling zwischen schwarz und weiß. Gordons Verbeugung fiel etwas ungelenk aus, während die Oberin Melissa den Wunsch ihres Gastes mitteilte.

„Oh ja, natürlich führe ich Sie gern durch die Kinderklinik“, bestätigte sie mit einer angenehm leisen Stimme und einem Lächeln.

„Kommen Sie mit mir“, forderte sie Gordon auf.

Ja, dachte er. Mit dir würde ich überall hingehen. Ich muss diese Stelle hier bekommen. Damit ich immer in deiner Nähe sein kann.

Mit einem frohen Lächeln auf den Lippen führte sie ihn herum. Man sah und fühlte, dass sie ihre Arbeit sehr gern, mit Herz und viel Liebe bei den kleinen Patienten verrichtete. Gordon bemerkte auch, dass die kranken Kinder sie sehr gern hatten. Melissa stellte Gordon auch den alten Kinderarzt Dr. Henry Clark vor. Dieser reagierte allerdings etwas griesgrämig.

„So, Kinderarzt sind Sie? Wollen mir wohl meinen Platz hier streitig machen, weil ich nicht mehr der Jüngste bin? Deshalb gehöre ich noch lange nicht zum alten Eisen. Ich habe dafür nämlich viel mehr Erfahrung als ihr jungen Hüpfer“, gab er ihm gleich zu verstehen, dass er nicht vorhatte so schnell das Feld zu räumen.

Er schob seine Brille auf seine Stirnglatze und besah sich Gordon ganz genau. Ein Kranz weißer Haare umrundete seinen Hinterkopf und die Seiten. Den weißen Arztmantel trug er offen, denn sein dicker Bauch sprengte alle Knöpfe.

„Streitig machen möchte ich Ihren Platz auf keinen Fall. Aber ich hätte da einen anderen Vorschlag: Wir könnten uns die Arbeit teilen. Dann wird keiner überbelastet und zusätzlich kann einer vom anderen noch lernen. Ich bringe Ihnen die Neuerungen und Sie mir Ihre Erfahrungen. So könnten wir uns toll ergänzen“, bot Gordon an.

„Von den neuen Errungenschaften in der Kinderheilkunde halte ich nicht viel.“ Der alte Arzt machte eine wegwerfende Handbewegung. „Die alten haben sich immer noch am besten bewährt.“

Während der Unterhaltung beobachtete Gordon, wie dem alten Arzt die Hände zitterten. Nachdem sie sich verabschiedet und sich ein Stück von ihm entfernt hatten, blieb er stehen und wandte sich an die Ordensschwester.

„Trifft er eigentlich noch eine Vene, mit seinen zittrigen Händen?“, erkundigte er sich leise.

„Selten, meistens legen wir die Infusionen und geben die intravenösen Spritzen. Es wäre sehr schön, wenn Sie bei uns arbeiten würden. Dann müssten wir nicht täglich sein griesgrämiges Gesicht sehen und seine Launen ertragen. Ich glaube nicht, dass er noch lange bleibt“, antwortete Melissa.

„Dr. Clark hat Parkinson?“, hinterfragte Gordon vorsichtig.

„Ja, Sie haben es richtig erkannt, aber er will es nicht wahrhaben.“ Dabei sah sie ihn mit strahlenden, dunklen Augen an. Ihm lief es eiskalt den Rücken hinunter. Warum muss dieses Geschöpf ausgerechnet eine Nonne sein, wenn ich mich schon einmal verliebe? dachte er. Denn dass er sich in sie verliebt hatte, wurde ihm sofort klar.

Melissa brachte den Arzt zur Oberin zurück. Sie verabschiedete sich und verschwand ebenso leise, wie sie gekommen war. Bevor sie jedoch die Türe hinter sich schloss, drehte sie sich noch einmal um und lächelte ihm zu.

„Und, Gordon? Hast du dich schon entschieden?“, riss die Tante ihren Neffen aus seinen Gedanken.

Ihre Augen erspähten bereits das sanfte Lächeln auf seinen Lippen und ebenso den besonderen Glanz in seinen Augen.

„Ja, ich werde dein Angebot annehmen. Wenn Schwester Christin Brandon betreut, braucht er mich nicht mehr so oft. Ich würde mich dann nur langweilen“, antwortete er. „Möchtest du meine Zeugnisse sehen?“, bot er ihr an.

 

„Nein, das muss nicht sein. Ich glaube, du bist auch so ein guter Kinderarzt. Wenn du willst, kannst du sie ja beim nächsten Mal mitbringen. Solange du die Kinderklinik besichtigt hast, habe ich mir erlaubt bei deiner letzten Arbeitsstelle Erkundigungen über dich einzuholen. Sie waren alle voll des Lobes über dich und sie bedauern es sehr, dass du so plötzlich gekündigt hast“, erklärte ihm die Oberin.

„Na, na, Tante, übertreib mal nicht“, wehrte Gordon ab.

„Stell dein Licht nicht unter den Scheffel. Sie wollten dir demnächst den Chefarztposten anbieten und den bekommt man bestimmt nicht so ohne weiteres in deinem Alter. Tja“, sie zuckte mit den Achseln. „Gerade da hast du deinen Hut genommen“, berichtete sie weiter.

„Das habe ich nicht gewusst“, antwortete er völlig tonlos.

„Hättest du dann nicht gekündigt?“, wollte die Tante gespannt wissen.

Der Arzt überlegte kurz. „Doch, ich hätte es trotzdem getan. Ich wollte meinem Freund beistehen. Mir ist der Mensch wichtiger, als das Geld, das ich dann mehr bekommen hätte“, bestätigte er voller Ehrlichkeit. „Mein Freund ist vier Jahre jünger als ich und wir kennen uns seit Kindertagen. Mir graut vor dem Tag, an dem er mich verlässt.“ Beim letzten Satz wurde er immer leiser.

„Siehst du? Genau das wollte ich von dir hören“, atmete sie erleichtert auf. Sie war sich sicher, dass sie den richtigen Mann gefunden hatte für ihre Kinderklinik.

„Gut, dann werde ich den alten Clark mal langsam aus dem Verkehr ziehen“, überlegte die Oberin.

„Nein, Tante Rose, das würde ich nicht tun“, wehrte Gordon ab. „Lass ihn solange er möchte seine Arbeit verrichten. Ich habe das Gefühl, er braucht es, auch wenn er ziemlich tatterig ist. Eines Tages wird er es selbst begreifen, wenn es nicht mehr geht.“

„Schön, wenn du meinst mit ihm klarzukommen? In manchen Dingen ist er nämlich ganz schön bockbeinig und er kann zu einem richtigen Kotzbrocken werden“, warnte sie ihn.

„Keine Sorge, ich mach’ das schon“, beruhigte er sie.

„So, und jetzt komm, mein Junge. Es ist schon spät. Ich zeige dir jetzt dein Zimmer.“ Somit erhob sich die Oberin und schritt Gordon voran durch einen dunklen Gang. An dessen Ende öffnete sie eine Türe und schaltete das Licht ein, das von einer einfachen, weißen, runden Lampe an der Decke kam.

„Hier kannst du dich ausschlafen. Es ist vollkommen egal, wann du morgen früh aufstehst oder soll ich dich wecken?“ erkundigte sie sich.

„Das wäre mir sogar lieber. Sagen wir so gegen sieben Uhr?“, bat er sie.

„Gut, dann klopfe ich Morgen an deine Türe. Toiletten und Dusche sind zwei Türen weiter hier auf dem Gang. Ich wünsche dir eine gute Nacht. Sie schloss die Türe. Während sie sich entfernte, dachte sie über ihn nach. Ich wusste gar nicht, dass ich einen so attraktiven, gutaussehenden Neffen habe. Der wird einen ganz schönen Wirbel hier im Kloster unter meinen Ordensschwestern auslösen.

Gordon sah sich um. Er stand in einem äußerst spartanisch eingerichteten Zimmer. Dieses bestand aus einem Bett an der Wand, einem schmalen Schrank, denn Nonnen besaßen nicht viel Kleidung, einem kleinen, dreibeinigen Tisch mit einem verblichenen Stoffsessel und einem Waschbecken. Ein kleines Fenster wäre noch erwähnenswert gewesen, allerdings ohne Gardine. Ein großes Holzkreuz hing dem Bett gegenüber. Es nahm beinahe die ganze Breite und Höhe der gesamten Wand ein.

So also leben die Ordensfrauen hier, dachte er bei sich. Verblüfft stellte er fest, dass es keinen Spiegel über dem Waschbecken gab. Wie sollte er sich am nächsten Morgen rasieren? Und vor allem mit was? Er trug weder Rasierzeug, noch Wäsche zum Wechseln bei sich. Wer hätte denn auch ahnen können, dass er zum Schlafen eingeladen wurde? So ging er zwei Türen weiter in den Duschraum.

Wenigstens den Schweiß des heißen Tages abspülen, dachte er. Als er zurück kam lag auf dem kleinen Tischchen ein Apfel und daneben stand ein Glas mit einer Flasche Mineralwasser. Das Obst aß er sofort und spülte alles mit einem Glas Wasser hinunter. Danach legte er sich nur mit der Unterwäsche bekleidet auf das Bett. Das Fenster öffnete er weit, denn die Luft stand förmlich im Zimmer. Er rief sich Melissas liebliches Gesicht in Erinnerung und schlief damit ein.

Während Gordon von der hübschen Nonne träumte, saß Christin an dem kleinen Tisch in ihrem Zimmer und las die Lebensgeschichte von Brandon Stonewall, ihrem nächsten Patienten.

„Brandon Stonewall, Beruf Tierarzt, neunundzwanzig Jahre alt. Zweiter und außerehelicher Sohn des Ehepaares Stonewall. Er verlor mit dreizehn Jahren seine gesamte Familie bei einem schweren Autounfall. Da nur wenige weit entfernte Verwandte gefunden wurden, die ihn nicht haben wollten, übernahm das Hausmeisterehepaar, in Absprache mit dem Jugendamt, die weitere Erziehung. Mit achtzehn Jahren trat er das Erbe seiner Familie an. Er übernahm die Rose-Bud-Bank mit sechs Filialen und mehreren Millionen Dollar.“ Sie überlegte kurz: Rose-Bud-Bank? Das heißt Rosenknospe. Eigentlich ein seltsamer Name für eine Bank.

Sie las weiter: „Anschließend studierte er Veterinärmedizin. Die Praxis befindet sich im Kellergeschoss seines Hauses. Vor einem Jahr Ausbruch der Leukämie. Er bekam mehrfach Chemotherapie und Bestrahlungen, die jedoch keine Besserung erzielten. Durch die körperliche Schwäche bedingt, stürzte er vor einem halben Jahr die Treppe im Haus hinunter und verletzte sich dabei das Rückgrat. Wegen seines schlechten Allgemeinzustandes konnte keine Operation stattfinden. Danach bewegte er sich im Rollstuhl fort. Seit zwei Monaten kann er das Bett nicht mehr verlassen. Er bekommt Morphium intravenös zur Schmerzbehandlung und weitere Medikamente gegen das Zellwachstum der Krebszellen. Nebenbei trinkt er viel Alkohol ( Whiskey ), um die Wirkung des Morphiums zu verstärken. In der Zwischenzeit wurde viermal die Lunge punktiert, um gestautes Wasser abzuleiten. Zuweilen wird er sehr ausfällig. Unter Umständen kann es geschehen, dass er alles Essen an die Wand wirft oder es der Pflegekraft über den Kopf stülpt, wenn es ihm nicht passt. Dazwischen hat er schwere, depressive Phasen. Voraussichtliche Lebensdauer noch ungefähr zwei Monate.“

Christin ließ das Dossier sinken. Nur noch zwei Monate gaben die Ärzte ihm? Sie schüttelte energisch ihren Kopf. Nein, die letzten beiden Patienten waren ihr gestorben. Dieser hier musste leben. Das machte sie sich zum Ziel, obwohl er sich bereits im Endstadium befand. Christin war eine sehr ehrgeizige Schwester. Was sie sich vornahm, führte sie auch aus. Noch einmal sah sie sich das Bild von ihm an. So wie hier würde er auf keinen Fall mehr aussehen. Sie stellte ihn sich ohne Haare und sehr untergewichtig vor. Auch die Lachfältchen würden nicht mehr vorhanden sein. Schade, ein Jammer, was diese furchtbare Krankheit aus den Menschen machte. Christin schloss die Mappe. Dann ging sie duschen, betete ein Nachtgebet und begab sich zu Bett.

Gordon glaubte gerade erst eingeschlafen zu sein, da klopfte es an seiner Türe. Ein Blick auf seine Armbanduhr zeigte ihm, dass es Punkt sieben Uhr war. Das hieß für ihn aufzustehen. Mit kaltem Wasser wusch er sich rasch Gesicht und Hände und fuhr sich mit den nassen Fingern durch das Haar. So, das musste für heute genügen. Hätte er einen Spiegel gehabt, dann würde er wohl gesehen haben, dass er auf seinem Kopf ein noch viel größeres Chaos angerichtet hatte als es ohnehin schon war. Jedenfalls sah es jetzt so aus, als sei er gerade unter der Bettdecke hervorgekrochen. Normalerweise trug er sein Haar etwas nach vorn gekämmt, doch die Natur machte was sie wollte, noch dazu wenn seine Frisur nass wurde. Vor seiner Türe empfing ihn die Tante und wünschte ihm einen „Guten Morgen.“ Er folgte ihr zum Frühstück. In diesem Raum befanden sich beinahe alle Nonnen des Klosters, außer den Nachtwachen und den Außendiensthabenden. So viele hatte er eigentlich nicht erwartet. Er wünschte allen einen „Guten Morgen“, doch wurde ihm etwas unbehaglich zu Mute, als einziger Mann unter beinahe zweihundert Ordensfrauen. Außerdem wurde ihm überhaupt nicht bewusst, wie heiß er mit seinem Drei-Tage-Bart und dem Wirrwarr seiner Haare auf die Anwesenden wirkte: nämlich unheimlich jung, sympathisch und voller Tatendrang.

Die Mutter Oberin blieb stehen und klopfte mit dem Löffel an ihre Kaffeetasse, um die Aufmerksamkeit ihrer Ordensfrauen zu gewinnen.

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