Loe raamatut: «Christmas Bloody Christmas 2», lehekülg 2

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Als ich erneut von jemandem gestoßen wurde, glaubte ich schon an einen Angriff, aber hinter mir waren nur zwei miteinander ringende Männer umgefallen. Der eine drückte den anderen nach unten und schlug mit solcher Wucht auf ihn ein, dass Blut spritzte. Ich kümmerte mich nicht weiter darum, gelangte in den Laden und war überrascht, dass ich nicht sofort attackiert wurde. Aber scheinbar waren die Menschen zu beschäftigt, um auf mich zu achten.

Erst als ich auf die wenigen verbliebenen Halsketten in einer Glastheke zuging, bemerkte mich jemand. Ein großer Kerl in schwarzer Lederjacke versperrte mir sofort den Weg und maulte:

»Denk nicht mal dran, Freundchen! Ich brauche eine für …«

Ohne Vorwarnung schlug ich ihm in die Weichteile und ließ ihn zurück, während er heulend in die Knie ging. Einen anderen Mann riss ich vom Tresen weg, verpasste ihm eine Gerade, dann einen Schlag in den Magen und kassierte selber einige Treffer, bevor ich mir aus einer neben mir stehenden Einkaufstasche einen Werkzeugkasten schnappte und ihn dem Kerl gegen den Kiefer schmetterte. Blut und Zähne spritzten aus seinem Mund.

Den Koffer achtlos fallen lassend, wandte ich mich der Verkäuferin zu, die mich ansah, als würde sie all das Chaos gar nicht bemerken.

»Wie kann ich dir helfen, junger Mann? Suchst du etwas für deine Freundin?«, fragte sie.

Ihr Lächeln wirkte ansteckend. Ich erwiderte es, fühlte mich plötzlich sicherer und erwiderte:

»Ja, ich …«

Jemand stülpte mir von hinten eine Plastiktüte über den Kopf und zog sie fest, dass sich die Folie über mein Gesicht legte. Mit jedem Atemzug saugte ich es an und konnte keine Luft holen. Weil jemand meine Arme festhielt, blieb mir nichts übrig, als um mich zu treten. Dabei wurde ich zu Boden gerissen. Während die Luft knapp wurde und meine Brust zu schmerzen begann, dachte ich an meinen Vater und wie enttäuscht er sein würde. Bei meiner Beerdigung hatte er neben meinem Sarg bestimmt nicht mehr Worte für mich übrig als: »Er war eben ein Loser.« Und dann würde er Monika anmaulen, nicht mit den Gästen zu flirten, während sie in der ersten Reihe auf ihr Handy glotzte.

Die Schreie und Kampfgeräusche drangen nur noch durch ein immer lauter werdendes Rauschen zu mir durch. Ich sah weiße Punkte vor meinen Augen zerplatzen und mein Herz schlug so heftig, als wollte es mir aus der Brust springen. Ich würde wegen einer albernen Halskette sterben. Für ein Mädchen, von dem ich nicht mal sicher war, ob ich es liebte. Alle meine Freunde hatten schon Freundinnen gehabt. In unserem Alter waren Beziehungen aber meist nur von kurzer Dauer. Warum für so jemanden sein Leben riskieren?

Plötzlich riss jemand an der Tüte und somit auch an meinem Kopf. Zuerst glaubte ich, es würde sich um meinen Gegner handeln, aber dann verschwand das Plastik und jemand brüllte:

»Das ist meine! Wie soll ich denn mein Zeug nach Hause tragen, wenn du mir die Tüte klaust?«

Nach Luft schnappend sah ich, wer versucht hatte, mich zu ersticken.

Das Mädchen mit den Nasenringen und Ketten sowie eines mit pinken Haaren. Der Mann, der die Tüte an sich gerissen hatte, wollte der Pinkhaarigen eine verpassen, als sie ihm mehrmals hintereinander ihr Klappmesser in den Bauch rammte. Noch ehe er zu Boden ging, wandte sie sich mir zu. Geschwächt, wie ich war, würde ich keine Chance gegen sie haben. Entgegen ihren Vorsätzen wollte sie es schnell machen, stieß mit der blutigen Klinge nach mir und hätte mich ins linke Auge getroffen, wäre da nicht die Verkäuferin gewesen, die hinter dem Tresen hervorgetreten war und den Arm des Mädchens packte.

Wieder änderte das Licht schlagartig seine Farbe und alles kam zum Stillstand.

Die einzige Person, die sich noch bewegte, war das pinkhaarige Mädchen, als es verzweifelt versuchte, sich loszureißen. Ich hörte etwas trocken knacken, bevor sie mit einem spitzen Schrei das Messer fallen ließ.

»Das – ist – ein Regelverstoß«, sagte die Verkäuferin laut. Ihr Lächeln glich jetzt einem Zähnefletschen, ihr Gebiss erinnerte an das eines Raubtiers. »Regelverstöße werden sofort bestraft«, fuhr sie fort.

Um ihre Schmerzen nicht zu vergrößern, hielt das Mädchen zwar still, schrie aber immer noch wie am Spieß. Erst recht, als sich die anderen Angestellten um sie herum aufbauten und den Umstehenden die Sicht auf das nahmen, was als Nächstes geschah. Die Schreie wurden schriller und von reißenden Geräuschen unterlegt, bevor sie abrupt verstummten. Blut klatschte auf die Schuhe der Verkäufer, die sich daran nicht weiter störten. Als sie sich schließlich umdrehten, hielt jeder von ihnen einen Arm, ein Bein oder den Kopf des Mädchens in den Händen.

In aller Seelenruhe kehrten sie auf ihren Platz zurück, verstauten die abgerissenen Körperteile hinter dem Tresen, wo die Kundschaft sie nicht mehr sehen konnte, und warteten genau vier Sekunden. Dann wurde das Licht wieder weiß, die Musik kehrte zurück und die Verkäuferin von gerade eben sah mich an.

»Entschuldige, wir sind unterbrochen worden. Du hattest Interesse an einer Halskette, glaube ich«, sagte sie, während um uns herum Stille herrschte.

Mein Hals schmerzte so sehr, dass ich kaum einen Ton herausbekam, aber dennoch sagte ich mit heiserer Stimme:

»Ja, sie soll für meine Freundin sein.«

»Das ist aber schön«, erwiderte die Frau lächelnd.

Irgendwo hinter mir schrie jemand und sofort gingen die unterbrochenen Kämpfe weiter. Damit es schnell ging, zeigte ich auf die erstbeste Halskette und rief:

»Die nehme ich.«

»Soll ich sie als Geschenk einpacken?«

Weil das zu lange dauern würde, antwortete ich:

»Auf gar keinen Fall!«

»Gut, dann sind das bitte einhundert Euro und neunundneunzig Cent.«

Ich legte das Geld auf den Tresen und verzichtete auf das Wechselgeld, um mit der Halskette unter meiner Jacke aus dem Geschäft zu fliehen. Natürlich versuchte man, mich daran zu hindern. Hände griffen nach mir, zerrten an meiner Kleidung und an meinem Helm, den ich löste, um mich aus einem der Griffe befreien zu können. Kaum war die Kette sicher in einer Innentasche meiner Jacke verstaut, schlug und trat ich um mich. Vielleicht war es das Wissen, diesen Wahnsinn hinter mir lassen zu können, aber ich kämpfte plötzlich noch verbissener, bekam zwar auch wieder einiges ab, doch genau wie mein Vater schien ich gut was einstecken zu können. Der Schmerz trieb mich dazu, selber noch fester zuzuschlagen. Und es gefiel mir, zu sehen, wie mein Kontrahent zu entkommen versuchte. Es stachelte mich regelrecht an, ihm nachzulaufen, obwohl ich hätte nach Hause gehen können. Aber dieser Typ sollte noch ein paar von mir verpasst bekommen. Ich jagte ihn den Gang entlang, verfolgte ihn in eines der umliegenden Geschäfte, wo er offensichtlich nach einem Versteck oder einer Safe-Zone Ausschau hielt. Aber dann war ich schon auf ihm drauf, klammerte mich an ihm fest und biss in sein Ohr. Schreiend drehte er sich im Kreis und wollte mich abwerfen, da riss ich ihm ein Stück von seinem Ohr ab und spuckte es angewidert aus.

Als er brüllend vor Schmerz nach der Wunde tastete, stach ich ihm meine Daumen in die Augen und trieb sie mit aller Kraft tiefer in die Höhlen, aber da erwischte mich seine Faust auf dem Mund. Meine Lippen platzten auf. Blut und Speichel spuckend, stolperte ich in einen Kleiderständer. Zwei Frauen mussten glauben, dass ich ihnen etwas wegkaufen wollte und begannen, nun auf mich einzuprügeln. Ganz wie mein Vater entschloss ich mich, ihnen nicht wehzutun und ertrug die Prügel. Sie war ohnehin nur von kurzer Dauer, da die Frauen sich wieder den Artikeln zuwandten.

Ich blieb noch einen Moment liegen, schnappte nach Luft und lachte schließlich. All das wegen einer beschissenen Halskette? Aber es hatte tatsächlich Spaß gemacht. Ich glaubte, meinen Vater zu verstehen, freute mich darauf, ihm von dem Kerl zu erzählen, der wegen mir jetzt bei jedem Blick in den Spiegel und auf seine Ohren an mich denken würde.

»Chriftmaf Prawl ift fuper!«, sagte ich zu mir selber und lachte über meine komische Aussprache.

Unter Schmerzen aber äußerst zufrieden stand ich auf, sah mich nach links und rechts um, wo das Chaos tobte. Blutend und erschöpft standen Menschen in Warteschlangen vor den Kassen, ruhten sich aus, bevor sie weitermachen mussten. Nur, damit ihre Liebsten am nächsten Tag etwas Schönes auspacken konnten. Man sollte meinen, dass es an Weihnachten Wichtigeres gab als das. Irgendwann musste es mal eine Bedeutung für dieses Fest gegeben haben, aber die hatten wir wohl vergessen. Fürs Erste war es mir auch egal. Ich hatte bekommen, was ich wollte, und würde meinen Vater stolz machen, wenn er nach Hause kam.

Also machte ich mich auf den Heimweg. Da mir offenbar niemand ansah, was sich Wertvolles unter meiner Kleidung befand, ließ man mich in Ruhe. Lediglich zwei gleichaltrige Jungs aus der Nebenklasse musste ich verprügeln, und das auch nur, weil ich sie nicht mochte.

Mein erstes richtiges Weihnachten war ein voller Erfolg.

ßXV

Zwanzig Jahre später:

»Und hier hat einer versucht, mich mit einem Kleiderhaken aufzuschlitzen«, sagte ich stolz und zeigte auf die zehn Zentimeter lange Narbe an meinem Bauch. Meine Freunde und Kollegen nickten anerkennend. Olaf wollte gerade etwas zu einer Brandnarbe in seinem Gesicht sagen, als die jährliche Ansage vorm Christmas Brawl aus den Lautsprechern begann.

Andächtig hörten wir zu. Mein Vater wäre stolz auf mich gewesen, hätte er all die Narben an meinem Körper und den Stumpf gesehen, der einmal mein rechter Daumen gewesen war. Links war ich fast blind und taub, aber das störte mich kaum. Es war ein wundervolles Andenken an den Christmas Brawl vor elf Jahren. Mein Vater war während des Brawls vor sechs Jahren gestorben, aber ich hatte nie um ihn getrauert, denn das hätte er nicht gewollt. Er war bei seiner Lieblingsbeschäftigung gestorben. Mit einer Grillgabel in der Luftröhre.

Während sich das Tor öffnete und die Menge ins Innere des Einkaufzentrums stürmte, blickte ich für eine Sekunde zum Himmel, klopfte mit dem Quarzhandschuh gegen meine nackte Brust und sagte:

»Dieser Brawl ist für dich, Papa. Wie auch alle anderen.«

Irgendwo in der Menschenmasse mussten Monika und meine Mutter sein. Vielleicht würde ich sie zwischendurch sehen. So kämen wir an Weihnachten mal wieder zusammen.

Eine schöne Tradition.

Finden Sie nicht auch?

Oh du Fröhliche
Caroline Simanek

Oh du fröhliche, o du selige …«, erklang es aus unseren Mündern, doch von den Anwesenden war niemand fröhlich. Auch aus mir drang emotionslos das Lied, welches so lange geübt worden war. Während des Singens streiften meine Augen durch das riesige Wohnzimmer. Der Raum strahlte so golden, wie er es nur an Weihnachten vermochte. Es war, als wären jene Kälte und Lieblosigkeit, die sonst das ganze Jahr über diesen Ort dominierten, vertrieben. Ein lieblicher Duft nach Lebkuchen und Punsch hing in der Luft. Auf dem klassisch mit Strohsternen und gold lackierten Äpfeln geschmückten Weihnachtsbaum, der bis zur hohen Zimmerdecke reichte, brannten echte Kerzen.

Die flackernden Flammen zogen mich in ihren Bann. Sie bewegten sich bedrohlich, als wollten ihre kleinen Zungen an den trockenen Zweigen lecken. Mich ergriff dabei lediglich ein Gefühl der Besorgnis, nicht einmal Angst. Sollte ich bei diesem Anblick nicht in Panik verfallen? Schließlich hatte ein Feuer mein Leben zerstört. Genau ein Jahr war es her, als meine ganze Familie bei einem Wohnungsbrand ums Leben kam. Auch Oma, die mich gerettet hatte. Sie starb bei dem Sturz aus dem dritten Stock. Ich hatte nur überlebt, weil ich auf sie gefallen war. Bis auf ein paar Prellungen und einer mächtigen Gehirnerschütterung, welche mir das Gedächtnis geraubt hatte, blieb ich unversehrt. Mein Leben, wie ich es jetzt kannte, begann für mich mit dem Aufenthalt in der Klinik. Da ich noch nicht volljährig war und es niemanden mehr gab, der mich aufnehmen konnte, wurde ich hier in diesem Mädchenheim untergebracht.

Schlechte Laune stieg in mir empor, als ich den scheinheiligen Haufen neben mir sah. Keines der Mädchen wollte hier sein, trotzdem taten sie so, als würden sie sich über dieses gezwungene Fest freuen. Aber ich wusste es besser: Sie hassten dieses Heim genauso wie ich. Abgesehen von der Gemeinsamkeit, dass wir alle die Nonnen, Erzieherinnen und sogar die Hausmeisterin verabscheuten, verachteten die Mädchen mich. Etwas an mir war anders. Lag es daran, dass ich kaum sprach? Oder weil ich, wie die Nonnen sagten, so eine düstere Aura ausstrahlte?

Punkt um, ich war einfach anders.

Für mich gab es nur ein Ziel, die Zeit hier abzusitzen.

Noch zwei Jahre, dann war ich achtzehn und durfte gehen.

Unser Gesang verstummte und eine der Erzieherinnen begann, eine moderne Weihnachtsgeschichte vorzulesen. Sie legte so viel Betonung in die Sätze und blickte dabei so bedächtig, dass mir übel wurde. Einigen Mädchen liefen scheinheiligerweise Tränen über die Wangen, weil sie ja so gerührt waren. Solche verlogenen Tussen! Ich wünschte mir, der Baum würde endlich brennen, damit der zähe Abend ein Ende hatte.

Nach der Geschichte stimmte die Nonne das Lied O Tannenbaum an.

Ohne Vorwarnung tat sich in meinem Bewusstsein eine Tür auf. Meine Erinnerung, die verborgen lag, brach heraus. Meine Gedanken beförderten mich nach Hause ins Esszimmer.

ßZV

Aus dem alten Plattenspieler, der nur noch an Weihnachten in Betrieb genommen wurde, erschallte das Lied: O Tannenbaum, o Tannenbaum. Ich sah mich am Tisch sitzen. Der Raum zeigte sich für unsere Verhältnisse gut aufgeräumt. Auf der gedeckten Tafel lag eine weiße Tischdecke, orientalisch anmutende Öllämpchen dienten als Kerzen. Die Großeltern und auch Onkel Eduard mit seiner Frau Rosemarie waren da. Vater, auf dessen Stirn sich bereits zwei vertikale Falten gebildet hatten, die er immer bekam, wenn er zornig wurde oder zu viel gebechert hatte, griff nach der Geflügelschere. Ungeschickt versuchte er, den Truthahn in gerechte Teile zu zerlegen.

»Sei nicht so knauserig mit dem Fleisch!«, stichelte Großvater, als er sich den Kartoffelbrei auf den Teller schaufelte. Ich wusste, dass Opa uns hasste. Er verachtete seine Tochter, weil sie einen arbeitslosen Versager geheiratet hatte, und auch mich, die unerwünschte Brut daraus. Trotzdem kam er einmal im Jahr an Weihnachten vorbei, um mit der Familie zu feiern. In seine Wohnung wollte er unsere Sippe nicht einladen, betonte er oft. Wer weiß, was wir alles mitgehen lassen würden.

Als Vater den Teller meines Onkels füllen wollte, zeigte Eduard auf mich.

»Gib zuerst ihr. Die Kleine kann noch etwas auf die Rippen gebrauchen, damit ihr ein paar ordentliche Titten wachsen.«

Feuer schoss mir ins Gesicht. Mein Magen verwandelte sich zu Blei. Nicht nur wegen des schamlosen Scherzes, zeitgleich fühlte ich auch, wie sein Fuß an meinem Bein entlangstreifte und sich unter mein Kleid drängte. Erschrocken zog ich meinen Stuhl zurück. Sein warnender Blick jedoch zwang mich dazu, so zu tun, als hätte ich mich verschluckt.

Vater und Mutter bemerkten mal wieder nichts. Sie erörterten stattdessen die Konsistenz der Dosenerbsen. Doch sie wussten Bescheid. Letztes Jahr hatte sich Eduard betrunken in mein Zimmer geschlichen und mich gewaltsam entjungfert. Zuerst waren meine Eltern aufgebracht gewesen, aber nur einen Tag später meinten sie zu mir, ich hätte es selbst provoziert. Ich glaubte es ihnen sogar und schämte mich. Meine Mutter nannte mich eine kleine Hure und Vater drohte damals, mich ins Heim zu stecken, wenn ich es jemandem erzählen würde. Sie hatten es geschafft, mich emotional so einzuschüchtern, dass ich wirklich die Schuld an mir selber fand. Dass Onkel Eduard dann öfter zu Besuch kam, wenn die Eltern Geld brauchten und er sich in der Nacht in mein Zimmer verirrte, blieb ein unausgesprochenes Geheimnis.

Nur einmal war mir etwas darüber herausgerutscht. Wir hatten gefeiert und auch ich hatte schon einige Biere intus, als ich es meinen Eltern vorwarf. Vater hatte mir daraufhin die Nase gebrochen und Mutter hatte geweint und gemeint, ich würde nur lügen, um sie zu verletzen.

Während Vater herzlos ein Stück Fleisch auf meinen Teller klatschte, knurrte er mich an:

»Hock nicht bloß blöd rum, hol Bier aus dem Keller!«

Ich fuhr hoch. Wenn mein Vater so launisch war, würde ihn auch das Haus voller Gäste nicht abschrecken, mir eine Backpfeife zu geben. Nervös strich ich mein Kleid glatt. Ich war nicht gewohnt, Kleider zu tragen. Normal nahm ich mit Pulli und Jeans vorlieb, aber meine Mutter bestand wie jedes Jahr darauf, dass ich mich an Weihnachten wie ein Mädchen anzog. So lief ich in den Flur und machte mich auf den Weg zum Keller. Ich war noch nicht mal auf der Treppe, als ich Schritte hinter mir hörte. Es war Eduard.

»Ich helfe dir, dann geht es schneller. Das Essen soll ja nicht kalt werden.«

Mein Magen zog sich zusammen. Obwohl das Licht nur diffus leuchtete, konnte ich seine Augen glänzen sehen. Dennoch hoffte ich, dass er, solange die Großeltern da waren, die Finger von mir lassen würde. Ich beeilte mich, die Stufen hinunterzukommen, bückte mich nach dem Bierkasten und ... Schon war Eduard hinter mir. Grob umklammerte er mich.

»Mmh!«, grunzte er, während seine Finger über meine Brüste glitten und er seine Hüfte eng an meine presste, »wie wäre es, wenn wir die Nachspeise einfach vor dem Essen genießen?«

Mir war, als wollte sich mein Magen umdrehen.

»Lass mich los!«, wimmerte ich ängstlich.

»Ich denke schon den ganzen Tag an dich. Los, machen wir einen Quickie! Ich bin schon ganz scharf und die da oben bekommen es doch nicht mit«, brummte er. Seine Hand wanderte an meinem Schenkel entlang und suchte sich seinen Weg in den Slip.

»Nein, bitte nicht!«, jammerte ich. Zu sehr hatte ich gehofft, er wäre nachher zu betrunken und würde im Wohnzimmer bei der Feier einschlafen. Diesmal wollte ich in der Nacht heimlich weglaufen. Gierig umspielten seine Finger meine Klitoris. Ich fühlte eine Beule in seiner Hose, die mir an den Hintern drückte. Er keuchte:

»Los, bück dich tiefer!«

Ich zerrte seine widerlichen Klauen von mir und wollte mich an ihm vorbeizwängen.

»Lass das!«

»Hey, du Schlampe!«, keuchte er wütend, während sich seine Finger wie ein Schraubstock um meinen Arm schlossen, »wenn du nicht willst, veröffentliche ich im Netz alle geilen Bilder, die ich von dir habe. Zeitgleich verbreite ich, dass du eine Hure bist. Was denkst du, wer das Bier und das Weihnachtsessen bezahlt hat? Das war ich, du kleines Flittchen. Und jetzt komm her!« Grob drückte er mich über den Bierkasten, dass ich mich abstützen musste, um nicht darauf zu fallen. Um Hilfe rufen würde mir nichts nützen. Im Erdgeschoss wohnte der Hausmeister. Ein unsympathischer Kerl, der mich jedes Mal so gierig anglotzte, wenn ich im Treppenhaus war. Sicher würde er lieber meinem Onkel helfen, mich aus den Klamotten zu bekommen, als mir. Die Wohnung darüber stand leer. Und meine Eltern? Die konnte ich vergessen. Eduard schob mein Kleid hoch und zerrte an meinem Höschen. Es brannte auf der Haut, wo mir der Baumwollstoff ins Fleisch schnitt.

Vielleicht war es der Wunsch, lieber tot zu sein, als erneut diesen Widerling in mir zu spüren. Möglicherweise auch die Vernunft, die mir klarmachte, dass ich mich nicht mehr erpressen lassen wollte.

»Wer das bezahlt hat? Das war ich, du krankes Schwein!«, schrie ich, zog eine volle Flasche aus dem Kasten und knallte sie meinem Onkel auf den Kopf.

Als ob ein Dämon von mir Besitz ergriffen hatte, donnerte ich ihm erneut die Flasche auf den Schädel. Beim ersten Angriff hatte ich ihn nur grob gestreift. Schließlich hatte ich mich erst aus der gebückten Haltung drehen müssen. Aber jetzt stand ich vor ihm. Schlug zu und das Glas zerbarst über seinem kargen Haupt. Bier schäumte und lief ihm über das Gesicht. Ich schlug erneut mit dem Stumpen der Flasche zu. Das Brennen der Schnitte in meiner Handfläche nahm ich kaum wahr. Mein Onkel taumelte zurück, stolperte über seine Hose, die ihm bereits bis zu den Knien herabgerutscht war, und fiel auf seinen Hintern. Ohne Einfluss auf mein Tun zu haben, griff ich eine zweite Flasche und schlug sie ihm ins Gesicht. Sie zerbarst mit dem Klang seines brechenden Nasenbeins. Mit dem zerborstenen Flaschenhals in der Hand verharrte ich vor seinen entsetzten Augen.

»Mach den Mund auf und lutsch, als sei es ein Lolli!« Was auch immer gerade von mir Besitz ergriffen hatte, wählte genau die Worte, die mein Onkel vor einigen Nächten benutzt hatte, als er mich zwang, ihm einen zu blasen.

Wimmernd hob Eduard die Hände. Als er seinen Mund öffnete, um etwas zu sagen, rammte ich ihm die zerbrochene Flasche ins Gesicht. Seine Zähne waren im Weg, es war einiges an Kraft nötig, um ihm den Rest des scharfkantigen Glases in die Kehle zu rammen. Mit gurgelnden Lauten blubberte Blut aus seinem Mund und zeichnete ein bizarres Gemälde auf den Kellerboden.

Ich hielt den Atem an, um zu lauschen. Hatte jemand von den anderen etwas mitbekommen? Großvater nörgelte gerade:

»Warum dauert das so lange? Ich glaube, deine verblödete Göre hat das Bier fallen lassen!«

Die Emotionslosigkeit, die mich in Besitz genommen hatte, wich einem anderen Gefühl: Wut. Sie brodelte in meinem Bauch, Hitze stieg in mir auf und verteilte sich wie heißes Wasser durch meine Venen. Zielstrebig griff ich zwei Bierflaschen und stapfte hinauf in unsere Wohnung. Als ich in das Esszimmer trat, blickten Tante Rosemarie und Mutter schuldbewusst auf ihre Teller. Sie wussten ganz genau, warum der schmierige Onkel mir helfen wollte. Aber sie taten mal wieder nichts dagegen. Jedem hier schien es mehr oder weniger egal zu sein. Großvater blickte nicht einmal zu mir, als er meinte:

»Geht das auch ein bisschen schneller?«

Ich fühlte, wie sich meine Hände um die Flaschenhälse verkrampften. Das kochende Wasser in meinen Venen explodierte, zumindest in emotionaler Sicht. Nacheinander warf ich Opa die Flaschen mit voller Wucht entgegen.

»Hier, wenn du etwas saufen willst, hol dir deinen Scheiß doch selbst!«

Ich hatte in meiner Wut so weit ausgeholt, dass die Flaschen wie Geschosse in seinem Gesicht landeten. Sein Stuhl kippte nach hinten, er schlug mit dem Kopf gegen die Wand und rutschte langsam zu Boden.

Oma an seiner Seite verschluckte sich an den Erbsen und griff erschrocken an den Hals. Vater blickte mich wütend an, als ob er noch immer nicht begriffen hatte, was geschah. Langsam weiteten sich seine Augen und er erhob sich. Jetzt schien er das Blut auf meinem Kleid zu sehen. Stammte es aus den Schnittwunden meiner Hand oder aus Onkel Eduards Halsschlagader? Ich wusste es nicht zu sagen und es war mir in diesem Moment auch egal, da ich keine Schmerzen fühlte. Wortlos trat ich zu dem Mann, der mich und meinen Körper verkauft hatte. Zeitgleich griff ich nach der Geflügelschere. Sie fühlte sich fettig an. Meine Augen fixierten meinen Vater, dem jegliches Blut aus dem Gesicht gewichen war.

»Weißt du, wie es ist, wenn jemand in dich eindringt, obwohl du es nicht willst?!«

Schon rammte ich ihm die Geflügelschere in den Bauch. Ich zog sie heraus und stach erneut zu. Wieder und wieder, bis Mutter plötzlich neben mir stand.

»Kind!«, stammelte sie. Als ich mich zu ihr drehte, sackte Vater wie ein nasser Sack zusammen. Ich blickte jene Frau an, die mein Leid kannte. Wie oft hatte ich versucht, es ihr zu erzählen. Aber sie tat immer so, als verstünde sie nicht, was ich meinte. Abermals ergriff mich das Gefühl der Hilflosigkeit. Meine Augen brannten. Normalerweise war das der Moment, an dem ich einfach schnell das Thema wechselte oder in mein Zimmer lief. Aber diesmal nicht. Meine Venen pulsierten vor glühender Wut. Mit einer ungeahnten Kraft, die ich aus dieser Verzweiflung erntete, zog ich mein Bein an und trat ihr so heftig gegen den Bauch, dass sie zurücktaumelte und gegen die Vitrine am anderen Ende des Raumes stieß. Ihr Hinterkopf durchschlug das Glas. Sie blickte mit ungläubigen Augen auf die Reste der Scheibe, die über ihrem Hals hing. Das, was dann geschah, nahm ich wie in Zeitlupe wahr und konnte mir das Lachen kaum verkneifen. Ruckartig und präzise wie das Messer einer Guillotine durchtrennte die herabfallende Scheibe ihren Hals. Blut spritzte wie ein Fächer aus ihrer Kehle und sprudelte kraftvoll bis zu Decke. Ein schrilles Kreischen erreichte mein Ohr. Tante Rosemarie saß auf ihrem Stuhl und klang wie eine Sirene. Ihre dicken Arme wackelten wie zwei wulstige Würmer in der Luft. Sie verstummte nicht, als ich langsam auf sie zutrat.

»Du wusstest, was er tat! Aber anstatt mir zu helfen, hast du mich dafür verurteilt, dass er mich anziehender fand als dich!« Meine Stimme klang mir selbst fremd, als wäre sie tiefer und ruhiger als je zuvor.

Noch immer kreischte Rosemarie, nur eine Oktave höher als vorher. Ich packte ihren Kopf und schlug ihn auf die Tischplatte. Das wiederholte ich, bis das Kreischen durch ein matschiges Floppen abgelöst wurde. So unerwartet wie ein Geist stand Oma plötzlich neben mir und ich zuckte regelrecht zusammen. In ihrer Hand hielt sie die Suppenkelle, holte aus und schlug mir damit ins Gesicht.

Wie oft war ihr in der Vergangenheit die Hand ausgerutscht. Immer wieder hatte sie gekeift, ich brauchte eben mal eine ordentliche Tracht Prügel, um etwas zu kapieren. Aber mit einer Suppenkelle?

Verdutzt fühlte ich die Kälte und die Wucht auf meiner Schläfe, die von diesem Angriff ausging. Als Oma realisierte, dass sie mich damit nicht aufhalten konnte, holte sie erneut aus. Diesmal war ich jedoch vorbereitet und riss ihr die Kelle aus der Hand. Gerade als ich sie ihr im Gegenzug über den Schädel ziehen wollte, war Opa wieder da. Sein Kopf hing eigenartig abgewinkelt zur Seite gewandt, Blut rann aus Nase und Mund. Er sah aus wie ein Zombie. Seine Faust landete in meinem Gesicht. Sterne blitzten aus einem roten Nebel, der sich vor meinen Augen auftat. Jemand hatte etwas nach mir geworfen, mich aber nicht getroffen.

Plötzlich bemerkte ich die Hitze hinter mir. Die Vorhänge hatten Feuer gefangen. Flammenzungen fraßen sich gierig hinauf und verteilten sich über die anderen Gardinen. Oma hatte tatsächlich die Öllampe als Wurfgeschoss gewählt. Wollte sie mich damit lebendig verbrennen?

Mit torkelnden Schritten kam Großvater auf mich zu und drängte mich immer weiter zur Feuersbrunst, die hinter mir tobte. Vor sich hielt er einen Stuhl, als wollte er einen tollwütigen Hund von einem Angriff abhalten. Er kam immer näher und drängte mich zurück, bis ich gegen die Fensterbank stieß.

Die Feuerzungen leckten bereits an der Zimmerdecke und schwefeliger Geruch machte sich breit. Wieder flog etwas knapp an mir vorbei. Oma hatte die zweite Öllampe nach mir geworfen. Sie erwischte die Vorhänge auf der anderen Seite des Zimmers. So blieb mir kein Platz mehr, dem Feuer auszuweichen. Großvater stieß mit den Stuhlbeinen zu.

Mir blieb kein anderer Ausweg, als mich auf die Fensterbank zu retten. Ein Sturz aus dem dritten Stock wäre mein Todesurteil, doch das störte meinen Großvater nicht. Er holte mit dem Stuhl erneut aus und wollte mich damit angreifen. Geistesgegenwärtig trat ich ihm ins Gesicht. Sein schiefer Kopf knackte nach hinten wie der Verschluss einer Bügelflasche. Er taumelte, ließ den Stuhl fallen und fiel zuckend zu Boden. Die Verkleidung der Zimmerdecke brannte lichterloh und tropfte zäh wie Honig herab. In den wenigen Sekunden hatte sich das Esszimmer in einen Glutofen verwandelt. Erschrocken blickte ich hinter mir aus dem Fenster. Ich musste fliehen. Unter mir befand sich ein Radweg. Ich würde geradewegs auf Asphalt krachen.

Wie eine Schlange hatte Oma meine Ablenkung genutzt und den Stuhl aufgestellt, um ebenfalls auf die Fensterbank zu klettern. Plötzlich stand sie neben mir mit einem Messer in der Hand. In letzter Sekunde konnte ich es ihr aus der Hand schlagen. Aber sie versetzte mir einen Stoß, dass ich nach hinten stolperte und gegen die Fensterscheibe krachte. Panisch hielt ich mich an ihr fest. Vielleicht lag es an der Hitze oder der Wucht, etwas ließ das Glas bersten und wir stürzten hinaus. Es gelang mir, mich im Flug zu drehen und auf ihr zu landen. Ihr Schädel knallte auf den Asphalt und glich einer heruntergefallenen Pampelmuse.

Ich hingegen hatte lediglich eine Gehirnerschütterung und litt an einer Amnesie.

ß3V

Ich konnte nur wenige Begebenheiten meiner Kindheit ins Gedächtnis rufen, jetzt jedoch traf mich die komplette Erinnerung mit einem Schlag. Als man mich fand, eng umschlungen mit meiner Großmutter, dachte jeder, es wäre ein verzweifelter Sprung gewesen, um dem Feuer zu entkommen. Niemand hatte geahnt, was vorgefallen war. Laut Pressebericht war das Haus niedergebrannt und mit ihm sämtliche Bewohner – bis auf mich und Oma, aber die war jetzt ebenfalls tot.

Trotz der Tatsache, dass alle in meiner Familie Monster waren, erfüllte mich die Erkenntnis mit Trauer. Unablässig rannen mir Tränen aus den Augen.

Unbemerkt war Schwester Bettina, die Nonne, die mich am meisten hasste, zu mir getreten.

»Hör auf zu heulen! Brauchst dich nicht wichtigmachen!«

Was sagte sie da? Als Leiterin der Gruppe kannte sie unsere Geschichten. Sollte sie nicht wissen, dass ich an Weihnachten meine Familie verloren hatte? Auch wenn sie den Tod verdient hatten und ich daran nicht ganz unschuldig gewesen war, stimmte mich Weihnachten traurig. Kein Wunder, oder?

Die bronzefarbene Nonne indischen Ursprungs hatte trotz der Feierlichkeit schlechte Laune. Schon den ganzen Tag hatte sie uns putzen lassen und mit Spitzfindigkeiten drangsaliert. Anschließend mussten wir zur Kirche und jetzt zog sich das Brimborium auch noch unnötig in die Länge. Glaubte sie wirklich, dass sich irgendwer von uns auf die Geschenke freuen würde? Es waren in buntes Papier verpackte Zuteilungen vom Jugendamt – meist bestehend aus Kleidern, Taschen und Gegenständen, die eigentlich jeder normale Mensch besaß.

Tasuta katkend on lõppenud.