Loe raamatut: «Die Invasion der Barbaren», lehekülg 2

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Kritik der Kritik der Kritik: ein metadiagnostischer Zwischenruf in eigener Sache

IST es nicht merkwürdig, daß öffentliche Debatten zum Zustand der Kunstkritik immer demselben alarmistischen Muster folgen? Die Einladungen und Ankündigungen zu den einschlägigen Podiumsdiskussionen und Tagungen sind in aller Regel so formuliert, als gelte es, schnellstmöglich ein Team spezialisierter Notärzte ans Bett einer Patientin in extremis zu rufen. Und tatsächlich kommt man meist ausschließlich zusammen, um der armen Kritik kopfschüttelnd den Puls zu fühlen, gemeinsam ihren bedenklichen Zustand zu beklagen, stirnrunzelnd die beunruhigenden Symptome ihrer Degeneration und Ermattung aufzuzählen sowie ausführlich über Art und Umfang der für eine etwaige Genesung notwendigen Kuren zu debattieren, sofern man sie nicht lieber gleich für tot erklärt. Anschließend beglückwünschen sich die Teilnehmer gegenseitig zu ihrem diagnostischen Scharfsinn und gehen hochzufrieden auseinander. Man sieht sich bei der nächsten Veranstaltung.

Nun wäre es reichlich bizarr, wollte ausgerechnet ich der Kunstkritik ein pauschales Gesundheitszeugnis ausstellen.1 Daß dieses literarische Genre intellektuell hoffnungslos verwildert ist und die meisten Texte zur Gegenwartskunst überwiegend aus Anmaßung, Halbwissen und Schaumschlägerei bestehen, gebe ich gerne zu. Aber was ist mit dieser Feststellung gewonnen? Schon Anfang des 18. Jahrhunderts beschwerte sich Antoine Coypel, Präsident der Pariser Akademie und Premier Peintre du Roi, also ein ausgewiesener Profi, über den »faden und bizarren Jargon« aus »falsch angebrachten Kunstausdrücken«2, den die Kunstschriftsteller seiner Zeit benutzten, und ließ keinen Zweifel daran, daß er die allermeisten von ihnen für inkompetent und unterbelichtet hielt. Wenn im Vorwort eines zeitgenössischen Lehr- und Lesebuchs für angehende Kulturjournalisten ausdrücklich die Hoffnung formuliert wird, die Publikation möge dazu beitragen, »daß Kunstkritiker wieder mit klarem Bewußtsein ihre Arbeit tun«3, dann hat sich dieser Generalverdacht offenbar seither nicht wirklich zerstreuen lassen. Hält eine solch grundsätzliche Klage aber über drei Jahrhunderte lang an, dann haben wir es ganz sicher nicht allein mit einem vorübergehenden Phänomen zu tun, auch nicht mit publizistischen Ausnahmebedingungen oder einer außergewöhnlich hartnäckigen Häufung inkompetenter, schlecht ausgebildeter oder gar böswilliger Autoren. Der Fehler muß im System stecken.

Zu diesem System aber gehören nicht nur die vermeintlich moribunde Patientin – die sich angesichts ihrer hoffnungslosen Krankengeschichte nebenbei als erstaunlich langlebig erweist –, sondern – was gern vergessen wird – ebenso ihre vermeintlich sachkundigen Ärzte. Wie wäre es nun, wenn die, anstatt weiter wohlgemut Diagnosen zu stellen, sich zur Abwechslung einmal fragen würden, was ihre umfangreichen Verschreibungen eigentlich bisher gebracht haben? Was konkret ist das Resultat ihrer zahllosen Verbesserungsoffensiven? Wie sieht der Ertrag all der wohlformulierten Ratgeber und Anleitungen zu guter Kritik aus, die seit der Zeit Coypels ein eigenes kunstkritisches Subgenre bilden? Wenn die Diagnosen mehrheitlich wirklich so zutreffend und die Therapievorschläge wirklich so hilfreich waren – warum hat sich dann das Problem nicht längst erledigt? Kurz: Worin unterscheiden sich die einschlägigen metakritischen Fachärztetreffen eigentlich von einer themenorientierten Karnevalssitzung, zu der die Teilnehmer mit Kittel und Stethoskop erscheinen?

Ein Unterschied liegt auf der Hand: Karnevalisten wundern sich nicht allzusehr darüber, daß die Medikamente, die sie verschreiben, außerhalb ihres Vereinsheims ohne Wirkung bleiben. Die chronische Folgenlosigkeit kunstkritischer Metakritik dagegen wird in aller Regel der verstockten Patientin oder aber der Widrigkeit der Umstände angelastet. Nach meinem Dafürhalten ist das zu kurz gegriffen. Das Versagen muß andere Gründe haben. Möglicherweise kann ja eine Rückschau auf die Entstehung der Kunstkritik als eigenständigen literarischen Genres einen Hinweis darauf geben, wo sie am ehesten zu suchen sein dürfte. Dazu wäre zunächst einmal zu klären, seit wann es die Disziplin überhaupt gibt. Bei allem berechtigten Mißtrauen gegenüber allzu markanten historischen Zäsuren spricht einiges dafür, mit Albert Dresdner, dem ersten ernstzunehmenden deutschsprachigen Chronisten auf diesem Feld, die öffentliche Kontroverse um die Salonkritik von Étienne La Font de Saint-Yenne 1747 über den Pariser Salon des Vorjahres als markantes Ereignis zu betrachten.4 In der Einleitung zu dieser kämpferischen Großrezension hatte der Autor geschrieben: »Ein Gemälde, das man ausstellt, ist wie ein Buch, das durch den Druck öffentlich gemacht, ein Theaterstück, das auf der Bühne aufgeführt wird: Jedermann hat das Recht, darüber zu urteilen.«5 Der Autor präzisierte auch, wen er mit »jedermann« meinte: den »unvoreingenommenen, aufgeschlossenen Beobachter, der, ohne mit dem Pinsel umgehen zu können, nach einem natürlichen Geschmack und ohne die sklavische Beachtung der Regeln urteilt«.

Auf den folgenden etwa 100 Seiten machte La Font de Saint-Yenne von diesem Recht dann auch ausführlich Gebrauch. Das Resultat war ein öffentlicher Eklat. Führende Mitglieder der königlichen Akademie protestierten gegen die Zumutung, einem von ihnen nicht autorisierten Laientribunal gegenüber als rechenschaftspflichtig angesehen zu werden, und boykottierten den Salon des Folgejahres. Ihr Protest blieb allerdings folgenlos. Wenige Jahre später waren auch die hartnäckigsten Kritiker des Kritikers wieder mit ihren Werken auf der Ausstellung präsent, die Kunstkritik bildete fortan eine Sphäre eigenen Rechts. Bis heute gilt, daß, wer öffentlich ein Urteil über Kunst abgibt, dies »als Kritiker« unternimmt, das heißt als Teilnehmer einer offenen Diskussion über Ziele und Möglichkeiten von »Kunst« (im Singular), an der – zumindest idealiter – grundsätzlich jedermann gleichermaßen teilzunehmen berechtigt ist, egal ob er in Sachen bildende Kunst über einschlägige Expertise verfügt oder sich »lediglich« als interessierter Laie zu Wort meldet (daß realiter nur die wenigsten der Stimmberechtigten Zugang zum öffentlichen Diskurs über die Kunst haben, da dieser längst komplex institutionalisiert und damit vielfältig hierarchisiert ist, ist wieder ein anderes Thema).

Folgt man Niklas Luhmann6, an dem in dieser Frage kein Weg vorbeiführt, so liegt es nahe, die Geburt der Kunstkritik als eigenständiger Disziplin um die Mitte des 18. Jahrhunderts als Teilmoment der von ihm beschriebenen allgemeinen Tendenz zur Ausdifferenzierung gesellschaftlicher Funktionskreise in der Moderne zu interpretieren, aus der unter anderem das autonome »System Kunst« hervorgegangen ist. Sofern man Kunst in dem Maß als autonom betrachtet, in dem künstlerische Formfindung sich unabhängig von heteronomen Zwecksetzungen vollzieht, sprich: die Künstler keine kunstfremden Vorgaben mehr als Kriterien der Beurteilung ihrer Werke anerkennen und statt dessen ausschließlich kunstspezifische Zielstellungen verfolgen, dann stellen Autonomie der Kunst und Autonomie der Kunstkritik zwei Seiten derselben Medaille dar – das eine ergibt sich zwangsläufig mit dem anderen. Allein die Feststellung, daß man es bei der Kunst mit einem Handlungsfeld eigenen Rechts zu tun habe, ist schließlich bereits eine (im Wortsinne) kritische Leistung. Sie verpflichtet Künstler wie Kritiker gleichermaßen, Kunstwerke ausschließlich als Kunstwerke zu gestalten bzw. zu beurteilen, und nicht etwa die Wertmaßstäbe anderer sozialer Funktionskreise an sie anzulegen.

Nun sieht es in der Tat so aus, als folgte die Geschichte der Kunst wie auch die der Kunstkritik ebendiesem entwicklungsgeschichtlichen Muster. Die kanonische Rahmenerzählung ist hinlänglich bekannt und so oft und so detailliert dargestellt worden, daß ich mich damit begnügen kann, ihre wichtigsten Grundlinien kurz nachzuzeichnen. Unstrittig ist, daß Gestaltungsleistungen der Art, wie wir sie unter dem Begriff der Kunst zusammenfassen und museal präsentieren, die längste Zeit über eng in das Funktionsfeld des religiösen Kultus eingebunden waren. Ein Diskurs über das Gelingen eines »Kunstwerks« war in diesem Kontext in erster Linie ein Diskurs über seine Gottgefälligkeit. Ein prominentes Beispiel dafür sind die apologetischen Bemerkungen des Abtes Suger von Saint Denis aus dem 12. Jahrhundert zur ästhetischen Prachtentfaltung des von ihm initiierten Kirchenbaus: Der außergewöhnliche Aufwand an Material und Arbeit dient nach Suger einzig und allein dazu, einen Erlebnismodus auszulösen, in dem der Gläubige von der Schönheit des Sichtbaren zur Schönheit des Unsichtbaren aufsteigt und so der Vollkommenheit Gottes gewärtig wird.7

Daß die Kriterien, die in unserer zeitgenössischen Western Art World zur Entscheidung derselben Frage angesetzt werden, in krassem Gegensatz zu diesem Argumentationstypus stehen, bedarf keines besonderen Nachweises. Man muß nur an den kollektiven Aufschrei der Entrüstung denken, der den Prozeß wegen »Verletzung religiöser Gefühle« begleitete, den die russisch-orthodoxe Kirche 2004 gegen Juri Samodurow anstrengte und der in erster Instanz mit einer Geldstrafe endete. Samodurow hatte im Jahr zuvor im Museum des von ihm geleiteten Moskauer Sacharow-Zentrums die umstrittene Kunstausstellung »Vorsicht Religion!« veranstaltet, durch die die Kläger sich provoziert sahen.8 Das zentrale Argument von Samodurows Verteidigungsstrategie lautete: »So ist die moderne Kunst. Das ist ihr Prinzip. Historisch und kulturell geht dahin die Entwicklung. In einer weltlichen modernen Gesellschaft kann man so etwas nicht verbieten.«9 Die Kommentatoren im weltanschaulichen Gravitationsfeld des westlichen Kunst- und Museumsbetriebs sahen das genauso: Moderne Kunst ist autonome Kunst und folglich – vom Strafrecht vielleicht einmal abgesehen – nur sich selbst gegenüber legitimationspflichtig.10

Nun kann allerdings auch im Westen von einer Autonomie der Kunst gegenüber religiösen Wertvorstellungen frühestens seit der Renaissance die Rede sein. Entscheidende Impulse gingen dabei von den ökonomisch erfolgreichen und politisch extrem dynamischen Handelsstädten und Fürstentümern Norditaliens aus, wo um das 15. Jahrhundert eine sinnenfreudige, weltläufige, initiativkräftige, wohlhabende und anspruchsvolle Klientel entstand, die das Potential der bildenden Kunst als Medium der Repräsentation, aber auch der Intensivierung des Lebensgenusses entdeckte. Damit veränderten sich zwangsläufig auch die Motive für die Wertschätzung von Kunst und damit die Kriterien ihrer Beurteilung – neben den alten, kultusgebundenen Ansprüchen wurden nun zunehmend auch profane Erwartungen an sie als legitim angesehen.11 Diese Entwicklung, in der man schon damals eine Parallele zu homologen Autonomisierungstendenzen in der Spätantike sah, hatte weitreichende Folgen für den beruflichen Status der Künstler. Ein Markt, der mit der steigenden Nachfrage nach ihren Produkten auch steigende ästhetische Kennerschaft hervorbrachte, ermöglichte es den Beweglicheren unter ihnen, sich zunehmend aus der mittelalterlichen Zunfttradition zu lösen und damit einen sozialen Aufstieg einzuleiten, der – mit je nach Region sehr unterschiedlicher Verzögerung – bald auch im Rest Europas merkbar wurde.

Der Statusgewinn wurde zügig institutionell abgesichert. Zu Beginn der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts entstanden in Florenz (gegr. 1562) und Rom (gegr. 1577, eröffnet 1593) die ersten Akademien als Standesorganisationen und zunftfreie Ausbildungsstätten. Mit der Zeit bürgerte es sich ein, daß Meister und Schüler an bestimmten kirchlichen Festtagen ihre Werke öffentlich zur Schau stellten und so auch Personen außerhalb des akademischen Umfelds die Möglichkeit zu einem kritischen Vergleich eröffneten.12 Die Akademien waren aber nicht nur Impulsgeber für ein öffentliches Ausstellungswesen, sondern auch die ersten Zentren einer systematischen Reflexion über Wert und Charakter künstlerischer Tätigkeit. Es ist also keineswegs ein Zufall, daß Giorgio Vasari, der mit seinen Viten die Urschrift der europäischen Kunstgeschichtsschreibung vorgelegt hat, zugleich auch als Begründer der Florentiner Akademie hervorgetreten ist. Eine der entscheidenden Leistungen Vasaris war es, daß er, im Anschluß an die Künstlertraktate von Alberti bis Leonardo, ein Vokabular für die diskursive Verständigung über Kunst entwickelte, das nicht nur handwerkliche Kategorien bemühte, sondern systematisch zu erfassen trachtete, was Kunst als Kunst überhaupt zu leisten imstande sei. Damit war die wichtigste Voraussetzung für eine autonome Kunstkritik geschaffen.

Die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen im politisch zersplitterten Italien begrenzten allerdings die Reichweite des neuen, elitären Spiels zwischen Künstlern und Kennern. Die Entwicklungen, die daraus die Massenveranstaltung der heutigen Kunstkritik machten, in der spezialisierte Rezensenten für ein anonymes Publikum schreiben, spielten sich deshalb auch nicht mehr in Italien, sondern in Frankreich ab, genauer gesagt in Paris. In dem kurzen Zeitraum von nur 130 Jahren zwischen 1661, als Ludwig XIV. nach dem Tod Mazarins die Regierungsgeschäfte übernahm, und 1793, als die französische Nationalversammlung die königliche Kunstsammlung per Dekret zum »Musée de la République« erklärte, etablierten sich dort all die Institutionen, die den Kunstbetrieb auch heute noch als soziales Funktionsfeld eigenen Rechts auszeichnen: öffentliche Museen und Skulpturengärten, ein differenziertes Ausstellungswesen für alte und neue Kunst, ein spezialisierter Kunstmarkt, eine systematische Theorie der Kunst und ein vielfältiger publizistischer Begleitapparat, der für die ständige Rückkopplung zwischen den Institutionen des Betriebs und dem Publikum sorgt.13

Meilensteine dieser Entwicklung waren die Revision und Erweiterung der königlichen Kunstsammlung und ihre dauerhafte Ausstellung in einem Teil des Louvre sowie die Gründung der Académie Royale de Peinture et de Sculpture nach italienischem Muster, bald ebenfalls im Louvre untergebracht. Die Gründung der Académie im Jahr 1648 datiert noch aus der Zeit vor der Thronbesteigung des späteren Sonnenkönigs.14 Sie geht auf die Initiative einer Reihe zunftunabhängiger, vorwiegend für Hof und Aristokratie tätiger junger Künstler zurück, darunter Charles Le Brun, Eustache le Sueur und Henri Testelin, die ihre Arbeitsmöglichkeiten durch die zünftische Konkurrenz, die Communauté des maîtres peintres es sculpteurs de Paris, kurz: Maîtrise, eingeschränkt sahen. Der Maîtrise gehörten nicht nur Maler und Bildhauer an, sondern auch die unterschiedlichsten Kunsthandwerker, Ornamentmaler, Stuckateure, Kunsthändler etc. Ihre noch aus dem 14. Jahrhundert stammende Zunftordnung hatten sie mit Zustimmung des Pariser Parlaments zwei Jahre zuvor noch einmal verschärft und dabei eine Beschränkung der Zahl der Hofkünstler und ihrer Privilegien durchsetzen können, etwa des lukrativen Rechts, ohne Zustimmung der Zunft Aufträge außerhalb des Hofs anzunehmen. Die Maîtrise hatte auch weitgehend erfolgreich den Zuzug ausländischer Konkurrenten hintertrieben. Daß die zunftfreien Künstler gegen diese aggressive Politik korporatistischer Besitzstandswahrung aufbegehrten, ist nur zu verständlich.

Im offiziellen Gründungsgesuch an den Staatsrat nutzten sie15 die Grundtopoi der italienischen Kunsttheorie zu einem Generalangriff auf die Maîtrise: Die beiden Künstlergruppen, so ihre Kernthese, seien im Grunde gar nicht vergleichbar. Die Malerei sei nicht einfach ein Handwerk wie jedes andere und erst recht kein Gewerbe, sondern eine geistig anspruchsvolle Tätigkeit. Wer sie als wahre Kunst betreiben wolle, bedürfe deshalb nicht nur einer geübten Hand, sondern vor allem fundierter wissenschaftlicher Kenntnisse. Auf dem entsprechenden Niveau betrieben, könne sie sich dann sogar mit der Dichtung messen (eine königliche Akademie für Literaten, die Académie Française, war schon 1632 eingerichtet worden). Da die Zunftmaler von diesen intellektuellen Höhenlagen des Metiers aber keine Ahnung und statt edler Theorie nur den profanen Broterwerb im Kopf hätten, müsse man ihrem schnöden Regiment Einhalt gebieten und der Kunst zuliebe sogar ein akademisches Ausbildungsmonopol in Erwägung ziehen.16 Der Staatsrat genehmigte nun zwar die Gründung der Académie, bestätigte aber zugleich die Rechte der Zunft, was dazu führte, daß die Hofkünstler auch weiterhin den heißen Atem der Konkurrenz im Nacken spürten. 1649 rief die Maîtrise demonstrativ eine eigene Kunstschule ins Leben, die Académie de Saint-Luc; »zwei Jahre später erzwang sie den Zusammenschluß mit der Académie, also die Vereinigung von zünftiger und höfischer Künstlerschaft. Da den Akademikern die Kraft zu einem offenen Bruch mit den Handwerkern fehlte, suchten sie sich der Vereinnahmung der Maîtrise durch die nochmalige Akzentuierung des intellektuellen Charakters ihrer Arbeit zu entziehen. Im Jahre 1653 schlug Testelin vor, die zünftischen Konkurrenten durch regelmäßige Treffen zu vertreiben, in denen theoretische Aspekte von Malerei und Bildhauerei erörtert werden sollten.«17

Bei der Einrichtung von Theorieveranstaltungen ging es zunächst also keineswegs um Inhalte, sondern um deren Distinktionspotential sowie um ihre abschreckende Wirkung auf die Praktiker. Realiter scheint sich der Bildungseifer der Professoren in engen Grenzen gehalten zu haben. Kaum einer der Académiciens zeigte ein gesteigertes Interesse an einer systematischen Aufarbeitung der aus Italien übernommenen Lehrsätze. Bis auf ein paar vorbereitende Beschlüsse und eine Auftaktsitzung blieb der Vorstoß von 1653 deshalb auch folgenlos. Erst zehn Jahre später, mit der Reorganisation der Académie durch Colbert, der, neben seinen vielen anderen Ämtern (als Surintendant des Bâtiments) auch oberster Kultusbeamter des Königs war, wurde die Idee wiederaufgenommen. Die Sitzungen wurden institutionalisiert und ab 1667 zumindest für einige Jahre dann auch einigermaßen regelmäßig abgehalten18, wobei eigens ein angesehenes Mitglied der Académie Française als sogenannter conseiller honoraire für die Niederschrift der Diskussionen und ihre spätere Veröffentlichung bestallt wurde.19

Die bewußt angestrebte Nähe der Académie zum Zentrum der politischen Macht bot deren Mitgliedern also nicht nur besondere Karrierechancen. Indem die exponierte Stellung der Institution die akademische Lehre nobilitierte und monopolisierte, erzeugte sie zugleich den Druck, diese Lehre systematisch formulieren und öffentlich rechtfertigen zu müssen. Félibien, der erste der conseillers honoraires, richtete den 1669 von ihm herausgegebenen Sammelband der Sitzungsprotokolle ausdrücklich an alle Liebhaber der Künste. Kritik war damit keine reine Insiderveranstaltung mehr, bei der die Profis des Metiers gegenseitig ihre künstlerischen Küchenrezepte abgleichen, sondern ein öffentlicher Diskurs, der »erstmalig auch Nicht-Künstlern die Möglichkeit eröffnete, sich an der Diskussion über das Künstlerische zu beteiligen«.20

Die Künstler selbst waren davon nicht sonderlich begeistert und reagierten reichlich dünnhäutig, als Félibien die conférences veröffentlichte, ohne ihnen den Text zuvor vorgelegt zu haben. Es folgten jahrelange Reibereien zwischen der Académie und ihrem conseiller honoraire. Der sah sich zunehmend isoliert, steckte inhaltlich aber nicht zurück. 1679 formulierte Félibien scharf, was uns heute selbstverständlich ist: daß nämlich Künstler keineswegs grundsätzlich mehr von Kunst verstehen als Laien. Man könne zwar »nicht bestreiten, daß die Maler und Bildhauer besser als diejenigen, die nicht arbeiten, wissen, wie lästig es ist, alle Farben zu finden, und wie viel Mühe es macht, den Marmor gut zu schneiden. Aber man muß ebenfalls festhalten, daß es sehr wohl Maler und Bildhauer gibt, die genausowenig in der Lage sind, über ein Werk zu urteilen, als eines zu machen, welches Achtung verdient. Und im Gegenteil sieht man sehr viele Personen, die den rechten und klaren Geist besitzen, um darüber genausogut wie die Maler selbst zu urteilen, und die häufig besser unterscheiden, was es an Gutem und Schlechtem gibt, da sie nicht von einem partikulären Geschmack erfüllt werden.«21

Die Akademiker hatten das diskursive Feld, dessen bittere Früchte sie 1747 so entschieden ablehnen sollten, also unbeabsichtigt selbst bestellt. Mit der Durchführung der conférences lösten sie ein, was sie zuvor vor allem aus taktischen Gründen behauptet hatten: daß Kunst tatsächlich theoriefähig ist. War dies aber erst einmal zugestanden, konnte auch das kunstkritische Urteil kein esoterisches Hexenwerk mehr sein, sondern nur eine Veranstaltung, die ihrerseits der Eigengesetzlichkeit der theoretisch diskursiven Sphäre folgt, sprich: eine öffentliche Verhandlung, in der ausschließlich Argumente und Beweise zugelassen sind, die die Kunst als Kunst betreffen. Für die Entstehung einer entsprechenden Nachfrage nach derartigen kunstkritischen Diskursen fehlte zu diesem Zeitpunkt allerdings noch ein regelmäßiger öffentlicher Ausstellungsbetrieb, der einen Überblick über die zeitgenössische Produktion ermöglicht hätte. Zwar gab es schon zu Colberts Zeiten Ausstellungen, bei denen die Akademiker dem (zunächst noch überwiegend höfischen) Publikum ihre neuesten Werke vorstellen konnten.22 Diese Gelegenheitsschauen waren allerdings in ein übergeordnetes Rahmenprogramm für die Huldigungen an den König eingebunden, fanden jahrzehntelang nur äußerst unregelmäßig statt und wurden überdies von den Künstlern ebenso unregelmäßig beschickt.

Das änderte sich erst 1737, als der damalige Leiter der Kunstverwaltung (Directeur-général des Bâtiments), der Finanzminister Phillibert Orry, die Salonausstellungen wiederbelebte. Die Bekanntmachung im Mercure de France zeigte, daß Félibiens allgemeines Publikum mittlerweile zur höchsten kritischen Instanz geworden war: »Die Akademie tut gut daran, dem Publikum eine Art Übersicht über ihre Arbeit zu geben und den Fortschritt in den Künsten, die sie pflegt, dadurch bekanntzumachen, daß sie die Werke ihrer ausgezeichnetsten Mitglieder in den unterschiedlichen von ihr vertretenen Gattungen ans Licht bringt. Auf diese Weise stellt sich jeder dem Urteil der informierten Besucher, die in größtmöglicher Zahl zusammenkommen, und empfängt so das Lob bzw. den Tadel, der ihm zusteht.«23 Orrys Initiative hatte nachhaltigen Erfolg. Von 1737 an fand der Salon mit wenigen Unterbrechungen zuerst jährlich, dann in zweijährigem Turnus statt. Er war für alle Bürger ohne Ansehen der Klasse, des Einkommens, des Berufs oder des Geschlechts zugänglich und dauerte zwischen drei und sechs Wochen. Während dieser Zeit war er unangefochten das gesellschaftliche Ereignis in Paris.24

Hatte die publizistische Begleitung früherer Ausstellungen lediglich aus den Programmheften und Zeitungsberichten bestanden, so kamen mit dem Salon von 1737 immer mehr kritische Pamphlete heraus, die, in ganz Paris preiswert zu erstehen, ein breites Publikum mit kontroversen Meinungen konfrontierten. 1747 erschien dann La Font de Saint-Yennes anfangs erwähnte Kritik des Salons des Vorjahres. Der Autor war ein unbeschriebenes Blatt im Pariser Kulturleben, ohne Verbindungen zur Akademie und ohne Protektion. Kenner der Verhältnisse hatten ihm von der Veröffentlichung seines Manuskripts abgeraten.25 La Font de Saint-Yenne ließ sich jedoch nicht beirren. Er war der Ansicht, daß die Malerei seiner Zeit einen Niedergang erlebe, und er fühlte sich mit dieser Einschätzung unbedingt im Recht. Sein missionarischer Eifer verdankte sich der Überzeugung, bei seiner Kritik einzig und allein seinem unvoreingenommenen und somit natürlichen Geschmack zu folgen. Sein Urteil gründete also seiner Ansicht nach nicht auf partikulären, sondern auf allgemeinen Interessen, nicht auf heteronomen, sondern nur auf kunstspezifischen Kriterien. In diesem Bewußtsein ergriff er, stellvertretend für das singularische Kollektivsubjekt »Publikum«, sprich: im Namen von jedermann das Wort.

Wie aber sah La Font de Saint-Yennes Auftritt als kritischer Jedermann nun tatsächlich aus? Angesichts der feindseligen Reaktionen sollte man annehmen, daß er die Künstler bzw. ihre Werke in Grund und Boden geschrieben hätte. Doch das ist keineswegs der Fall. Er vertrat zwar die für die Betroffenen schmerzliche Ansicht, daß sich die Historienmalerei, die Königsdisziplin der akademischen Genrehierarchie, in einer schweren Krise befinde. Aber damit stand er nicht allein, denn diese Diskussion wurde innerhalb des Metiers selbst schon seit geraumer Zeit geführt.26 Zudem teilte er an keiner Stelle seiner zum Teil quälend detailreichen Ausführungen maßlos aus, seine kritischen Anmerkungen waren häufig sogar ausgesprochen wohlwollend formuliert. Blickt man zur Kontrollpeilung in vergleichbare Schriften aus dem inneren Kreis der Académie, so finden sich dort weit weniger schmeichelhafte Passagen zum Leistungsniveau der königlichen Künstlertruppe.27 So wenig La Font de Saint-Yenne als kunstkritischer Scharfrichter auftrat, so wenig taugt er auch als abschreckendes Beispiel für bornierte Laienkritik. Der Wertekanon, für den er eintrat, deckte sich vielmehr im wesentlichen mit der offiziellen Lehrmeinung der Académie. Sein zentraler Vorwurf lautete deshalb auch nicht, daß die Künstler der Gegenwart weniger Fleiß, Geschick oder Begabung zeigten als ihre Vorgänger unter Ludwig XIV., sondern daß sie deren hehre künstlerische und ethische Prinzipen verraten hätten. Zugleich analysierte er sehr scharfsichtig, daß diese veränderte Haltung Folge einer Veränderung der gesellschaftlichen und damit auch der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen war.

Deshalb tadelte er auch nicht so sehr die Produzenten, die schließlich nur auf die Nachfrage reagierten, er haderte vielmehr mit der Anspruchslosigkeit des zeitgenössischen Publikums. Statt nach »Schönheiten aus dem Reich des Geistes« zu verlangen, »die Reflexionsfähigkeit und eine gewisse Kennerschaft erfordern«, sprich: nach erhabenen Stoffen, die nicht nur die Sinne, sondern auch »die Seele« erfreuen, pflege es einen »exzessiven Hang zum Dekorativen (un goût excessif pour un embellissement)«, der der Kunst mehr schade als jeder noch so talentlose Maler. In den Salons der betuchten Kundschaft, stellt er naserümpfend fest, finde man Wandflächen nur noch im Kleinstformat über Türen und Kaminen, während der große Rest von rocaillegerahmten Spiegeln überzogen sei. Auf diese Weise sei die Malerei, »bedrängt durch mangelnden Platz und durch kleinliche Sujets, die auch noch außerhalb des Blickfelds angebracht wurden, in diesen repräsentativen Innenräumen schließlich zu kalten, mutlosen (insipides), ganz und gar uninteressanten Repräsentationsstücken verkommen: die vier Elemente, die Jahreszeiten, die Sinne, die Künste, die Musen und andere Gemeinplätze, Triumphe für epigonale Fleißmaler, die weder Genie noch Vorstellungsgabe erfordern und die beklagenswerterweise seit 20 Jahren auf hunderttausend Arten hin- und hergewendet werden.« Er sei, so schreibt La Font de Saint-Yenne, »überzeugt davon, daß aus diesem Grund schon einige junge Künstler, denen das Genie zur großen Malerei gegeben gewesen wäre, ihrem Talent abgeschworen und sich (…) auf die nutzlosen Sujets geworfen haben, die die Mode des Tages fordert.«28

Das muß man sich auf der Zunge zergehen lassen: Der autonome Kunstkritiker, der im Namen des Publikums programmatisch für jedermann spricht, macht als erste Amtshandlung den zu diesem Publikum versammelten Jedermännern dezidierte Vorschriften darüber, welchen Geschmack sie gefälligst zu haben hätten, und er begründet dies, indem er ohne weitere Rücksprache darüber befindet, welche Werke ihnen geistig-seelisch am bekömmlichsten seien. Die Absage an die Sklaverei der alten Regeln führt somit geradewegs in die Despotie neuer Regeln. Was zunächst reichlich bizarr erscheint, liegt aber, wie ich fürchte, in der Natur der Sache: La Font de Saint-Yenne geht es schließlich vorrangig um die Vertretbarkeit künstlerischer Zwecke und nicht so sehr um die Angemessenheit der Mittel, er fragt nach dem Wozu der Anstrengung und nicht nach dem Wie. Ob ein Kunstwerk bestimmte Leistungsstandards erfüllt, die sich historisch als Norm etabliert haben, läßt sich womöglich kunstimmanent beantworten. Ob man aber den Salon des Hauses um des effektvollen embellissement willen großflächig mit Wandspiegeln ausstatten und sich im atmosphärischen Zauber unendlicher Reflexionen dem geselligen Vergnügen und dem »Augenschmaus« der kleinen dekorativen Allegorien und Schäferszenen hingeben darf, die in dem Ensemble als Supraporten noch Platz gefunden haben, oder ob man statt dessen »Geist« zu beweisen hat, indem man auf den optischen Reiz der Spiegel verzichtet und statt dessen einem großformatigen Gemälde mit einer menschlich erhebenden Episode aus der Ilias den Vorzug gibt, ist anhand kunstspezifischer Kriterien schlichtweg nicht zu entscheiden. Ja, es läßt sich innerhalb des Systems Kunst noch nicht einmal entscheiden, was eigentlich »kunstspezifische« Kriterien sind und was nicht.

Schließlich geht es bei dieser Frage nicht darum, welche ästhetischen Präferenzen jemand, aus welchen Gründen auch immer, tatsächlich hat, sondern darum, welche er haben sollte und wie er sich deshalb den vielfältigen Angeboten der Kunst gegenüber angemessenerweise zu verhalten habe. Auf Fragen nach dem rechten Handeln aber antwortet man nicht mit kunsttheoretischen, sondern mit ethischen Begründungen. Kunstkritik ist deshalb grundsätzlich und wesentlich auf den Abgleich mit anderen gesellschaftlichen Wertsystemen angewiesen, und das wohlgemerkt auch dort, wo Kunst als autonom betrachtet wird. Das trifft auch auf das anfangs angeführte Beispiel aus Moskau zu. Schließlich dürfte die Argumentation Samodurows und seiner Sympathisanten ja wohl kaum lauten, daß im Schutzraum des Kunstmuseums nur deshalb alles erlaubt sei, weil sich hier nun einmal ein autonomes gesellschaftliches System gebildet habe. Weder ist Autonomie ein Wert an sich, noch versteht sich von selbst, wann ein soziales System als autonom zu bewerten ist bzw. wo genau die Grenzen verlaufen, die es vom nächsten autonomen Teilsystem trennen. Samodurows vollständige Argumentation müßte also plausibel machen, weshalb die Freiheit der Kunst eigentlich über den Werten rangiert, für die sich der orthodoxe Klerus mit seiner Anzeige bei der Staatsanwaltschaft eingesetzt hat. Dafür kann man in der Tat einige Gründe anführen, aber auch diese Gründe können nicht etwa ästhetischer, sondern müssen ethisch-politischer Natur sein.

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