Loe raamatut: «Mind the Gap», lehekülg 2

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Das Entsetzen in den Augen Bedrohter wahrnehmen!
Peter Steinbach

Vor fast vier Jahrzehnten forderte der Berliner Theologe Helmut Gollwitzer seine Zuhörer in einem Vortrag auf zunächst verstörende Weise heraus. Dieser seit den sechziger Jahren von Studierenden verehrte, von einem großen Teil der konservativ geprägten Öffentlichkeit abgelehnte Berliner Theologe, einst einer der Wortführer im Kampf der Bekennenden Kirche gegen den nationalsozialistischen weltanschaulichen Führungsanspruch, akzentuierte ein Grundproblem des menschlichen Zusammenlebens, indem er fragte: Welche Weltverantwortung resultiert aus der Menschenverantwortung. Dieses Problem führte uns am 25. Januar 2018 nach Mainkofen, unter dem beeindruckenden Wandspruch „Allen zur Freude/Niemand zu Leide“ und zugleich in den Raum, in dem die mobilen Gutachter über Schicksale Hilfsbedürftiger entschieden, zusammen.

„Alle Menschen“ seien, so zitierte Gollwitzer die Bill of Rights von Virginia aus dem Jahre 1776, „von Natur aus in gleicher Weise frei und unabhängig“ und besäßen „bestimmte angeborene Rechte.“ Was verstörte angesichts dieser Betonung von Naturrechten und Menschenwürde die Zuhörer? Die lapidare Infragestellung dieses Axioms, das in der Regel als eine „indikative Tatsachenfeststellung“ begriffen und dadurch in seiner Radikalität entschärft wird. Denn Gollwitzer stellte fest:

„An diesem schönen Satz ist jedes Wort falsch. Kein Mensch sei frei, weder als Baby noch später, noch wir; wir sind vielfältig determiniert, unter vielfältigen Befehlen und Zwängen, und deshalb, weil wir vielfältig abhängig sind, keineswegs ‚unabhängig‘, und wir besitzen nicht im geringsten ‚angeborene Rechte‘.“17

Gollwitzer begriff die Erklärung aus dem Jahre 1776 so wenig wie die Feststellung des Grundgesetzes, die Würde des Menschen sei unantastbar, als Indikativsatz, sondern erblickte darin vor allem einen „Vorsatz“, gleichsam das Konzentrat einer „Selbstdefinition“: „Wir wollen ein Staat sein, in dem die Würde Menschen unantastbar ist.“18 Weil beide Aussagen ein Versprechen sind, bleiben sie eine Herausforderung und zugleich eine Verpflichtung, sich selbst kritisch im Umgang mit anderen Menschen zu prüfen.

Naturrechtliche Erklärungen sind in der Regel das Ergebnis späterer „kultureller Errungenschaft“, in der sich historische Erfahrungen niederschlagen. Sie werden im Zeitverlauf gemacht, nach Nachlebenden gedeutet und bilden dann heraus, was die einen „Erfahrungsschatz“, die anderen vielleicht geronnene Substanz der normativen Grundlagen menschlichen Zusammenlebens oder auch politischen Grundkonsens nennen. Die Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus hat immer wieder abstrakte Normen durch historische Beispiele konkretisiert. Dabei standen die Nachlebenden immer wieder vor der Aufgabe, von den Nationalsozialisten geprägte Begriffe, die die Wirklichkeit verzeichnen wollten oder Inhumanität legitimieren sollten, als Ausdruck einer inhumanen Orientierung bewusst zu machen und den Zusammenhang zwischen verrohender Sprache und Gewaltbereitschaft deutlich zu machen.

Das gilt auch für die Bereitschaft, sich mit der Problematik und Praxis auseinander zu setzen, die uns in Mainkofen zusammenführt. Wir wissen: Es gab keinen „schönen Tod“. Genau dies suggerierte aber der Begriff „Euthanasie“. Zusammengesetzt aus den griechischen Wörtern „Thanatos“ (Tod) und „eu“ (schön), wurde er zu den verlogenen Begriffen19, mit denen die Realität des nationalsozialistischen Unrechtsstaates kaschiert, verstellt oder verklärt, auf jeden Fall unkenntlich gemacht werden sollte. Der Tod derjenigen, deren Tod verfügt worden war, markierte den letzten Schritt eines „Menschheitsverbrechens“, das die „Selektion in der Heilanstalt“ zur Voraussetzung hatte. „Euthanasie“ gehört als politischer „Kampfbegriff“ wie „Sonderbehandlung“, „Endlösung“ oder auch „Schutzhaft“ zu den kontaminierten Wörtern, die die Wirklichkeit verzeichneten und denen, die an den Gewaltverbrechen und „Krankenmorden“ beteiligt waren, vielleicht kein gutes Gewissen machen, ganz sicher aber die Ausflucht erleichtern sollte, sich zu ihrer Verantwortung nicht mehr bekennen zu müssen. Viele Jahrzehnte waren nationalsozialistische Kampfbegriffe tabuisiert. Erst in jüngster Zeit schleichen sie sich zunehmend wieder in unsere politische Sprache ein, die Begriffe wie Volksgemeinschaft und Volk werden benutzt, um Menschen auszugrenzen, ihre Gleichwertigkeit zu bezweifeln und aus unterschiedlicher Herkunft, Gewohnheit und Sprache Wertigkeiten abzuleiten, die Inklusivität und Exklusivität begründen sollen. Deshalb gilt es vor allem diese Begriffe im Zusammenhang politischer Bildung kritisch zu beleuchten.

Gollwitzer war überzeugt, dass es in „allen historischen Urhorden“ kein „von Natur angeborenes Recht“ gebe. Die Horde sei lange Zeit die „Instanz“ gewesen, die über das Recht zum Leben entscheiden durfte:

„Kinder, die zuviel sind, werden ausgesetzt; krüpplige Kinder werden ausgesetzt oder getötet; erst recht die Mädchen, wenn sie zuviel sind, werden sie getötet; und die Alten werden ausgesetzt mit etwas Nahrung, und die Horde zieht weiter… Eine Horde entscheidet, wer leben darf und wer nicht. Recht auf Leben ist nicht biologisch gegeben, sondern ist Adoptionsrecht.“3

Im Zuge eines zivilisatorischen Prozesses wird die Orientierung auf die „Horde“ korrigiert, zunächst, indem andere menschlichen Horden wahrgenommen und dabei bewusst wird, dass sie aus anderen Menschen bestehen. Die Horde verliert so „die Kompetenz, zu entscheiden, wer leben darf und wer nicht“. Diese Ausweitung des Blicks auf alle Menschen ermöglicht die Vorstellung von der Gleichwertigkeit aller Menschen. Von der dunklen Ahnung dieser Gleichwertigkeit bis zur Respektierung der Menschen in ihrer Unterschiedlichkeit ist es nicht nur ein weiterer, sondern auch ein weiter, immer von Rückfällen begleiteter Schritt. In der Tat kann die Erkenntnis des anderen als Mensch durchaus in die Bestreitung seines Lebensrechts münden, unausweichlich dann, wenn die „emotionale Evidenz“ des Zusammenhangs von menschlicher Zusammengehörigkeit und Gleichwertigkeit in Frage gestellt wird. Gollwitzer illustrierte die zerstörende Wirkung dieser Auslösung eines naturrechtlichen gedachten Zusammenhangs mit dem Anliegen des nationalsozialistischen Ideologen Alfred Rosenberg, für den es nicht zweifelhaft war, dass Mensch eben nicht gleich Mensch sein wollte:

„Der Nationalsozialismus bricht mit dem Universalismus der Menschheitsidee und bekennt sich zum (…) Partikularismus der Verpflichtung nur gegenüber dem eigenen Volk.“20

Die Vorstellung von einer exklusiven, rassistisch definierten, sich an Wert und „Unwert“ von Menschen orientierenden „Volksgemeinschaft“ ist in zweifacher Hinsicht folgenreich. Denn dieser Begriff zielt vor allem auf Exklusion, weniger auf Inklusion. Wer über Zugehörigkeit entscheidet, schließt zugleich aus, fragmentiert universalistische Konzeptionen, gerät unausweichlich in einen Widerspruch, den das Grundgesetz mit dem Bekenntnis zur Würde des Menschen aus historischer Erfahrung auflösen wollte. Gerade die Auseinandersetzung mit den von den Nationalsozialisten benutzen Begriffe kann so dazu beitragen, Maßstäbe humaner Orientierung zu reflektieren, indem sie ganz prinzipiell auf ihren historischen, sozialen oder politischen Realitätsgehalt befragt werden. Die Konsequenzen verweigerter Zugehörigkeit oder Wertigkeit lassen sich historisch illustrieren. Historisch-politische Bildung thematisiert diese Probleme im Zusammenhang und versucht, aus der Beschäftigung mit der Vergangenheit Handlungsmaximen ableiten, die gegenwärtiges Verhalten und Handeln prägen, weil sie ethische Dimensionen mit historisch-zeitkritischen Konkretisierungen verbinden. Allerdings stellt sich dabei heraus, dass die Begriffe nicht nur als Elemente politischer Kultur kritisch analysiert werden müssen, dass sie ausnahmslos auch einer selbstkritisch-reflektierenden Rückbezug verlangen. Es geht immer auch um Selbstverortung und Selbstreflexion, nicht zuletzt um Selbstkritik im Sinne einer Aufklärung „über sich selbst“.

„Nichts von dem, was wir im anderen verachten, ist uns selbst ganz fremd“21, hatte Dietrich Bonhoeffer in einem Rundbrief an seine Gesinnungsfreunde 1942/43 geschrieben und auf diese Weise in radikalem Misstrauen gegen sich selbst ungeheuer Selbstkritisches formuliert. Denn er hatte sich mit dieser Formulierung gerade nicht von den Nationalsozialisten und ihren politischen Fehlurteilen abgegrenzt, sondern aufgefordert, sich gerade schonungslos daraufhin zu befragen, inwieweit die in der nationalsozialistischen Gesamtgesellschaft verbreiteten Vorstellungen die eigenen Maßstäbe humaner Orientierung überformend belasteten.

Diesem sich selbst gegenüber selbstkritischen und dabei unbestechlichen Zugang fühle ich mich auch in diesem Saal in Mainkofen verbunden, in dem Hilflose und Wehrlose vor einigen Jahrzehnten von Gutachtern, den „Kreuzelschreibern“, selektiert wurden. Dabei ging es nicht wie im Märchen von Aschenputtel darum, die Guten ins Töpfchen, die schlechten in Kröpfchen zu selektieren, was laut Duden bedeutet: aus einer vorhandenen Anzahl von Individuen oder Menge von Dingen diejenigen heraussuchen, deren [positive] Eigenschaften sie für einen bestimmten Zweck, etwa für die Zucht, besonders geeignet machen. Vielmehr ging es um das Gegenteil, um Sterilisierung und um Mord, um, wie wir heute wissen, hunderttausendfachen Mord.

Negative Selektion setzt voraus, dass Vorstellungen von Normalität und damit Kriterien für Abweichungen entwickelt und innerhalb einer Gesellschaft durchgesetzt werden, die die Vorstellungen des „Anderen“, des „Abweichlers“ und der „Verwerflichen“, des „Schlechtgearteten“ und schließlich des „Unwerten“ und dann letztlich „Lebensunwerten“ teilt. Die Konsequenzen dieser Kategorisierung sind von vornherein mitbedacht: Für kranke, schwache, hilfsbedürftige Menschen soll kein Raum gewährt werden. Das Menschenbild der Nationalsozialisten war zudem rassistisch geprägt. Die Rassentheorie bezog sich auf den Wert und Unwert des Einzelnen für Rasse und Volk. Die Bedeutung eines Menschen wurde nicht aus seinen Fähigkeiten und geistigen Leistungen abgeleitet, sie wurde schon gar nicht an seiner Sozialität und Humanität gemessen. Sie wurde auf sein angeblich „heldenhaftes“ Verhalten im Sinne einer verteidigungsbereiten, wehrhaften Volksgemeinschaft ermessen. Hinzu kamen ästhetische Ideale und Maßstäbe, die ihn aus seiner Umgebung heraushoben und bewiesen, wie wichtig seine Regenerationskraft für Volk und „nordische Rasse“ war.

Volk und Rasse sollten zunächst durch eugenische Maßnahmen, die seit der Jahrhundertwende auch in Skandinavien und in den USA propagiert wurden, allerdings sich niemals bis zur Rechtfertigung von systematischen Mordaktionen steigerten, geschützt und gestärkt werden. In diesen eugenischen Konzepten schlug sich eine biologische Vorstellung des Sozialdarwinismus nieder, die sich durch die Weiterentwicklung des auf Anpassung der auf die Lebensverhältnisse zielenden Evolutionstheorie Darwins durch den Sozialphilosophen Spencer zur Vorstellung vom Überlebenskampf der Rassen entwickelt hatte. Arthur de Gobineau begründete die pseudowissenschaftliche Behauptung von der Ungleichheit und Ungleichwertigkeit der Rassen, an die Houston Stewart Chamberlain anknüpfte.

Unter dem Einfluss von Jean-Baptist de Lamarck, Charles Darwin, Herbert Spencer und Chamberlain politisierte sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Evolutionstheorie, nicht zuletzt unter dem Einfluss der Vererbungslehre Gregor Mendels, verband sich mit imperialistischen und rassistischen Rechtfertigungsmustern der „weißen Herrschaft“ und bezog den Anspruch ein, die „Volkskörper“ von schädigenden Elementen freizuhalten. Hinzu kamen durch Francis Galton eugenische Visionen. Immer häufiger sprach man von „Aufnordung“ und „Aufartung“ und propagierte „rassenhygienische“ Maßnahmen, bereitete also durch politische Weichenstellungen die Gestaltung der menschlichen Sexualität und damit der Bedingungen von Fortpflanzung vor.

Im Nationalsozialismus steigerten sich diese Vorstellungen zur Rechtfertigung von Massenverbrechen, die im Völkermord an den Juden, den „Euthanasie“-Verbrechen und der Ausrottung von Sinti und Roma, aber auch in der Vorstellung von Slaven als Untermenschen, die als Zwangsarbeiter ausgebeutet werden könnten. Dieser Zusammenhang zwischen Rassenvorstellungen und Massenverbrechen realisierte sich stufenweise. Zunächst richtete sich der „Arierparagraph“ gegen Juden; am 14. Juli 1933 wurde das auf Vorarbeiten aus der Weimarer Zeit zurückgehende Sterilisationsgesetz in Kraft gesetzt. Mit dem Begriff der „Erbgesundheit“ wurde nicht nur Ärzten, sondern auch Anstaltsleitungen ein Instrument in die Hand gegeben, Maßnahmen einzuleiten, die ohne die Möglichkeit eines Widerspruchs von einem „Erbgesundheitsgericht“ veranlasst werden konnten.

Eine weitere Steigerung fand dieses Denken in den Nürnberger Rassegesetzen vom September 1935. Stufenweise wurden Juden aus dem Wirtschaftsleben verdrängt. Gleichzeitig intensivierte sich die Sterilisationspraxis, die sich gegen sogenannte, aufgrund einer neuen Initiative des Bundestags inzwischen als NS-Opfer respektierte Asoziale, Alkoholiker, Behinderte und unheilbar Kranke richtete. Nachdem im Sommer 1933 mit dem Gesetz zur Verhütung des erbkranken Nachwuchses die Sterilisierung legalisiert worden war, wurde die Grundlage für eine Praxis gelegt, deren Umfang und Dynamik „in der neueren Geschichte der zivilisierten Welt erstmalig und einmalig war.“22. Bereits im ersten Jahr wurden 85.000 Anträge gestellt. Von ihnen wurden etwa 56.000 durch Erbgesundheitsberichte bestätigt. Etwa 100 Menschen überlebten den Eingriff nicht. Bis 1945 wurden zwischen 320.000 und 350.000 Sterilisationen vorgenommen.

Die Propagierung rassenpolitischer Ziele war Aufgabe des 1934 gegründeten „Rassenpolitischen Amtes der NSDAP“. Es publizierte eine rassenideologische Zeitschrift „Ziel und Weg“, wirkte auf die Ärzteschaft ein und beeinflusste durch Pressemeldungen breite Bevölkerungskreise. Ärzte sollten sich als „erbbiologische Gesundheitsführer“ verstehen und bei ihren Entscheidungen „Härte gegen den Einzelnen“ zeigen. Im Unterricht sollte den Schülern in völliger Übereinstimmung mit Hitlers Parteitagsrede von 1929 nahegebracht werden, „daß Völker zugrunde gehen, wenn in ihnen der Wille zum Nachwuchs erlischt, wenn hochwertige Erblinien zugunsten minderwertiger oder erbkranker zurückgedrängt werden.“23 Aus einem vieldeutigen Begriff entwickelte sich ein umfassendes Konzept der Ausrottung, ging es langfristig um die „Ausmerzung“ von aus rassischen Gründen als minderwertig eingestuften Menschen, die auch wegen der Pflege- und Betreuungskosten als Belastung galten. Die Nationalsozialisten verwandten Begriffe, die sich im Zeitklima der Weimarer Republik, nicht zuletzt unter dem Eindruck des Ersten Weltkrieges auch in rechtspolitischen, medizinischen und psychiatrischen Publikationen niederschlugen.

Diese oben genannten Begriffe orientierten sich an einer kollektiv hingenommenen Vorstellung des „Volks- und Rassewerts“ und sahen völlig vom Eigenwert des Individuums ab. Diese überraschend rasch kollektiv akzeptierte Vorstellung eines „gesunden Rassen- und Volkskörpers“ richtete sich gegen ein christliches, ein liberales und ein humanistisches Menschenbild. Es war nur eine Frage kurzer Zeit, bis diese Vorstellung eines angeblich minderen Lebensrechtes sich zu den Überzeugung von der gefährlichen, die Volksgemeinschaft durch Zersetzung gefährdenden Vorstellung steigerte, es gehe nicht mehr darum, alles zu schützen, was menschliches Antlitz trüge, sondern „Untermenschen“ zu liquidieren. Bereits früh war erkennbar, dass es nicht um Genetik, sondern um Beseitigung von angeblichen „Volksschädlingen“ ging. Zunächst reichte ein vorzeitiger Abbruch des Schulbesuchs oder abweichendes Sozialverhalten, um Untersuchungen einzuleiten. Bald aber rückten rassenpolitische Überlegungen in den Vordergrund. Vor allem im Zusammenhang der bald veränderten und ausgeweiteten Definition eines „Volksschädlings“ wurden weitere Kriterien eingeführt. Ein Ergänzungsgesetz vom 26. 6. 1935 (drei Monate vor den Nürnberger Rassegesetzen vom 15. 9. 1935) wurden auch Schwangerschaftsabbrüche ermöglicht, wenn der Verdacht einer Erbkrankheit geäußert wurde.

Wie aber war es dazu gekommen, das Lebensrecht einzelner Hilfsbedürftiger mit Zweckmäßigkeits- und Nützlichkeitserwägungen in Frage zu stellen und schließlich zu verneinen? Unmittelbar nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erschien eine Arbeit, die der Freiburger Strafrechtler Binding mit dem ebenfalls in Freiburg lehrenden Psychiater Hoche verfasst hat, um Bedingungen für die „Freigabe der Vernichtung lebensunwerten Lebens“24 zu erörtern. Die Verfasser standen offensichtlich unter dem Eindruck der Millionen Kriegstoten, als sie fragten, ob es „Menschleben“ gäbe, „die so stark die Eigenschaft des Rechtsgutes eingebüßt“ hätten, dass ihre Fortdauer für die Lebensträger wie für die Gesellschaft dauernd allen Wert verloren habe. Die Antwort verknüpfte sich mit einem Postulat: „Unrettbar Verlorene, die Willensfreiheit und Entscheidungsfähigkeit verloren hätten“, „unheilbar Blödsinnige ohne „erkennbaren Lebens- und Sterbewillen“, schließlich „geistig gesunde Persönlichkeiten“, die ihr Bewusstsein durch ein Ereignis wie eine Verwundung verloren hätten oder „zu einem namenlosen Elend erwachen“ müssten, seien unter bestimmten Voraussetzungen zu töten.25

Diese „von außen herangetragene Bewertung des Lebenswertes eines Individuums“26 markierte einen Dammbruch, denn nun ging es nicht mehr um eugenische Utopien, sondern um die Bewertung von Pflegekosten und gesellschaftlichen Belastungen. So festigte sich eine Überzeugung, dass Menschen ihre Existenzberechtigung durch Arbeitsfähigkeit nachzuweisen hätten. Aufgrund dieser Überzeugung konnten nun „unproduktive“ Schwache, Kranke, Hilfsbedürftige und Unheilbare in die Anhängigkeit fremder Hände geraten. Sie waren nun von willkürlichem Wohlwollen abhängig, besaßen aber kein Lebensrecht sui generis mehr.

Die Nationalsozialisten griffen diese Vorstellungen früh auf. Bereits in seiner Kampfschrift hatte Hitler 1925 gefordert, der Staat möge dafür sorgen, dass nur der „Gesunde“ Kinder zeugen dürfe. Alles, war „irgendwie ersichtlich krank und erblich belastet und damit weiter belastend sei“, solle als „zeugungsunfähig“ gelten. Hitler konnte sich auf das Parteiprogramm berufen, dass die „Hebung der Volksgesundheit“ forderte.27 Vier Jahre nach der Publikation seines Buches griff er diesen Gedanken erneut auf:

„Würde Deutschland jährlich eine Million Kinder bekommen und 700.000 oder 800.000 der Schwächsten beseitigen, dann würde am Ende das Ergebnis vielleicht sogar eine Kräftesteigerung sein. Das Gefährlichste ist, daß wir selbst den natürlichen Ausleseprozess abschneiden und dadurch uns langsam der Möglichkeit, Köpfe zu bekommen, berauben… Durch unsere moderne Humanitätsduselei bemühen wir uns, das Schwache zu bewahren auf Kosten des gesünderen. Das geht so weit, daß sich eine sich sozial nennende Nächstenliebe um Einrichtungen bemüht, selbst Kretins die Fortpflanzungsmöglichkeit zu verschaffen, während Gesündere darauf Verzicht leisten, und das alles wird als selbstverständlich angesehen. Verbrecher haben die Möglichkeit ihrer Fortpflanzung, Degenerierte werden künstlich mühsam aufgepäppelt. So züchten wir langsam die Schwachen und bringen den Starken um.“28

Hitler Rede enthielt fast alle wichtigen Elemente späterer Vernichtungspraxis und auch deren Rechtfertigung. Die Nationalsozialisten benutzten einen Begriff, der bis heute verwendet wird und eine positiv aufgenommene Maxime zu sein schien. Im Kern ermöglichte diese Vorstellung von „Volksgesundheit“ eine erbarmungslose kollektivistische Auffassung“, nach der nur das Volk „gesund“ sei, das all seine schwächeren Glieder beseitigt und vernichtet habe, während es sich gleichzeitig durch seine stärkeren Glieder ohne Begrenzung fortpflanzt.29

Wer den Lebenswert eines Menschen nach dem Nutzen für die Gemeinschaft, für Volk oder Rasse misst und dabei den fiktiven Kostenaufwand einkalkuliert, folgt wirtschaftlichen Motiven. Die Orientierung an der „Volksgesundheit“ verbrämt ökonomische Gesichtspunkte. Auch die Nationalsozialisten benutzten Begriffe, um Sachverhalte zu verschleiern. Die Öffentlichkeit war offenbar bereit, die verklausulierten Erklärungen zur Rassenhygiene hinzunehmen und noch nicht ausdrücklich auf die geplante Vernichtung von Leben zu beziehen. Der Kommentator des Sterilisationsgesetzes Arthur Gütt machte sich keine besonderen Gedanken wegen der Folgen von Sterilisationen, sondern erklärte den Eingriff schlicht als „Ergebnis“ einer ärztlichen „Ermessens- und Zweckmäßigkeitsfrage“.30

Mainkofen gehörte wie andere Heil- und Pflegeanstalten dieser Zeit zu den Heilanstalten, in denen sterilisiert und selektiert wurde. Auch hier drangen wie in fast allen anderen ähnlichen Einrichtungen die Verbrechen erst mit Verzögerung in das Bewusstsein der Öffentlichkeit. Dazu bedurfte es wichtiger Anstöße der Psychiatrie- und Medizinhistoriker. Bahnbrechend wurden in den achtziger Jahren die Studien von Ehrhardt und Dörner31. Zwar sprach man hinter vorgehaltener Hand vielfach über diese Ärzte, über Gesundheitsämter und deren Ärzte, über Angehörige. Die lange Verdrängung spiegelte die gesellschaftliche Neigung zur Amnesie, denn bereits der Münchener Ärzteprozess hatte Licht in ein dann zunehmend verdrängtes Dunkel bringen wollen. Zu lange aber wirkte die Beeinflussung der Öffentlichkeit nach, bis weit in die fünfziger und noch in die sechziger Jahre. Bezeichnend ist, dass erst heute wieder bewusst wird, dass der inzwischen hochgeehrte hessische Generalstaatsanwalt Fritz Bauer zwar die Auschwitz-Prozesse 1963–1965 möglich gemacht hatte, dass aber die Durchführung eines von ihm vorbereiteten, ähnlich umfassenden Verfahrens zur „Euthanasie“ scheiterte.

Die Motive der beteiligten Ärzte und Pfleger, der Amtsärzte und der Behörden wurden in den siebziger Jahren erstmals umfassend erforscht, allerdings im Zusammenhang mit einem Forschungsinteresse, das nicht selten die angebliche Modernisierungswirkung des NS-Staates, auch im Bereich der Psychiatrie, zum Thema hatte. Die dynamische Steigerung von der erzwungenen Sterilisierung angeblich „Minderwertiger“ bis zur Ermordung angeblicher „Ballastexistenzen“ wurde erst im Zusammenhang mit der Erforschung der Vorgeschichte des Völkermords an Juden, Sinti und Roma erhellt. Untersuchungen, die etwa die Haltung der Kirchen kritisch untersuchten, waren rar, medizinhistorische Arbeiten waren in der Regel Ausdruck des Engagements einzelner Ärzte. Die Erforschung der Tötungsanstalten selbst schritt erst in den achtziger und neunziger Jahren voran, und die Errichtung von Gedenkstätten zur Erinnerung an die „Geisteskrankenmorde“, wie man sagte, brauchten eine noch längere Zeit.

Dabei zeigte sich, dass Anlässe und Motive der Initiatoren sehr unterschiedlich waren. Nicht zuletzt trug auch die verhaltene Diskussion der Kirchen dazu bei, die ethische Problematik undeutlicher zu machen.32 Entscheidend war zweifellos das staatliche Handeln. Sie war bereits vor 1939 eines der Ziele Hitlers. „Wenn ein Krieg sein soll“, so hatte Hitler 1935 dem Reichsärzteführer Wagner angekündigt, würde er „diese Euthanasiefrage aufgreifen und durchführen.“33 Hitler war der Meinung, im Kriegsverlauf sei „ein solches Problem (…) zunächst glatter und leichter durchzuführen“, vor allem, weil kirchlichen Proteste im „allgemeinen Kriegsgeschehen“ keine Rolle spielen würden.“ So ist es nicht überraschend, dass der Überfall auf Polen und damit der Beginn des 2. Weltkrieges den Weltanschauungs- zielstrebig zum Rassenkrieg machte.

Entschiedene Abwehrreaktionen von Medizinern, Geistlichen und Juristen lassen sich differenzieren. Später werden vor allem der Bischof von Münster von Galen und Lothar Kreyssig genannt. Galen protestierte öffentlich mit Predigten gegen die Morde, Kreyssig forderte sogar vom Reichsjustizminister Gürtner heraus und gab sich nicht mit dem Hinweis auf einen „Führerbefehl“ zufrieden. Ihre Beispiele zeigen, dass Widerstand gegen die Mordaktionen möglich war. Galen beschwor das Naturrecht, Kreyssig bestand auf dem Nachweis der Rechtmäßigkeit und brachte so seine Vorgesetzten in Erklärungsnot, die das Unrecht unwiderleglich machte. Auch Angehörige nahmen wiederholt die Nachricht vom plötzlichen Tod der Kranken nicht hin. Sie akzeptierten nicht der Anspruch des NS-Staates, „den Volkskörper zu reinigen und die krankhaften Erbanlagen auszumerzen“, stellten das Recht auf Leben und die besondere Bedeutung der Funktion von Ehe und Familie höher und ordneten sich nicht dem Primat staatlicher Autorität unter.

Die auf den Kriegsbeginn zurückdatierten Anweisungen zum Mord im Rahmen der Kindereuthanasie und die sich anschließende „Aktion“, die unter dem Geschäftszeichen „14f13“ des Amtes T4 der Gestapo durchgeführt wurde, machte auch Pflegern und Ärzten deutlich, dass aufgrund der Befehle der NS-Führung Sterbehilfe Lebensverkürzung bedeutete. Die Methoden variierten und erstreckten sich vom „Sterbenlassen“ bis zur aktiv betriebenen, gezielten Lebensverkürzung. Vor allem setzte eine Intensivierung der Propaganda ein, um den Wandel von der sogenannten „positiven“ zur „negativen Rassenhygiene“ zu unterstützen und zu forcieren. Spielfilme und Romane trugen zum Verlust humaner Orientierung und damit zur Relativierung ethischer Normen bei, die sich auf das Recht des Menschen auf Leben stützten. In sogenannten Fachkreisen festigte sich die Überzeugung, durch eine „positive Rassenpflege“ lasse sich das Ziel der „Selbstausmerze“ der angeblich „Gemeinschaftsunfähigen“ nicht erreichen.

In der Zeitschrift „NS-Volksdienst“ war zu lesen, dass die „Unfruchtbarmachung“ so wenig wie die „Bewahrung“ zum Ziel führen würde34. Das öffentliche Gesundheitswesen wurde zwar weiterhin auf rassenpolitische Ziele verpflichtet, zugleich wurde aber immer offensichtlicher, dass mit dem seit 1938 erwarteten Kriegsbeginn der „Krieg gegen die psychisch Kranken“ intensiviert werden sollte. Zunächst wurde die Jugendwohlfahrtspflege weiterhin auf erbbiologische Kriterien eingeschworen. Die Sorge für „Minderwertige“ wurde auf ein Minimum beschränkt, schließlich aufgehoben. Zum alleinigen Maßstab für die Fürsorge sollte der „Wert der Hilfsbedürftigen für die Volksgemeinschaft sein.“35 Ganz offensichtlich wurden Vernichtungsaktionen durch wirtschaftliche Überlegungen begleitet. So verglich man die Pflegekosten psychisch Kranker mit Arbeitslöhnen. Sonderschulen sollten sich am Kriterium der „Brauchbarkeit innerhalb der Volksgemeinschaft“ orientieren. Für eine als „nutzlos“ bezeichnete Erziehung sollten keine Mittel verschwendet werden36 Eine wichtige Rolle bei der Vorbereitung des im Laufe des Krieges durchgeführten „Vernichtungsfeldzuges“ gegen Behinderte und angeblich rassisch „Minderwertige“ kam Hochrechnungen zu, die nach 300 Jahren prognostizierten, dann seien nur 2 Promille „Hochwertige“ im „Volkskörper“ vorhanden. Neben Nützlichkeitsberechnungen traten bewusst geschürte Zukunftsängste. Im Jahre 1936 hatte man in Deutschland etwa 165.000 psychisch Kranke.

Mitte September 1939 datierte Hitler eine Ermächtigung seiner Euthanasie-Beauftragten Karl Brandt und Philipp Bouhler auf den 1. 9. 1939 zurück. Ein „Reichsausschuss zur wissenschaftlichen Erfassung erb- und anlagebedingter schwerer Leiden“ sollte Missgeburten und missgebildete Kinder registrieren, zunächst im Alter bis zu drei Jahren, dann bis zu 16 Jahren. Die gemeldeten Kinder wurden von einer Ärztekommission „begutachtet“. Ein Plus- oder Minuszeichen fasste das Ergebnis zusammen. Die Kinder wurden in eine angebliche „Obhut“ genommen, in Anstalten verlegt und in „Kinderfachabteilungen“ in ausgewählten Heil- und Pflegeanstalten schließlich getötet. Den Beteiligten waren die Unrechtmäßigkeit und Strafbarkeit bewusst. Noch 1935 hatte der Justizminister Franz Gürtner sich gegen die „Freigabe der Vernichtung sog. lebensunwerten Lebens“ ausgesprochen und betont, dass die „Kraft der sittlichen Norm des Tötungsverbotes (…) nicht dadurch geschwächt werden“ dürfe, „daß aus bloßen Zweckmäßigkeiten Ausnahmen gemacht werden.“37 Diese Überzeugung wurde sogar noch einmal zehn Jahre später, also nach dem Tod Hunderttausender, bekräftigt worden:

„ein Recht auf Sterbehilfe (Euthanasie) ist nach geltendem Gesetz weder dem Arzt noch sonst einer Person zuzubilligen(…). Andere Arten von Vernichtung lebensunwerten Lebens, z. B. die Tötung unheilbar Blödsinniger, könnten erst recht nur durch eine Änderung der Gesetzgebung straffrei werden.“38

Die Vielfalt der Verhaltens- und Handlungsspielräume von Anstaltsleitungen und Ärzten erschwerte nach 1945 die Aufklärung dieser Verbrechen und bot den verantwortlichen Heimleitungen die Möglichkeit, das Fehlverhalten zu kaschieren. Das Ergebnis der Selektion war in fast allen Fällen eindeutig: Die Gutachter und Ärzte, die ihre Kranken in die Tötungsanstalten schickten, endschieden endgültig über Tod und Leben von Menschen, die Institutionen anvertraut worden waren, die helfen, pflegen, heilen und die Last des Lebens lindern sollten.

Der „Euthanasieerlass“ vom September 1939 richtete sich zunächst gegen Kinder. Die meisten Morde betrafen allerdings psychisch kranke Erwachsene. Er diente im weiteren Verlauf der Ermordungsaktionen als „Führerbefehl“. Weiterhin wurde Fragebögen verschickt und Gutachtern zugeleitet, allerdings wurden nunmehr Arbeitsleistungen und „rassische“ Merkmale erhoben. Durchgangsanstalten wurden zum Ziel der „grauen“ Busse der „Gemeinnützigen Krankentransportgesellschaften“. Finanziert wurden diese Aktivitäten von einer „Gemeinnützigen Stiftung für Anstaltspflege“. In der Erfindung von Tarnbegriffen zeigt sich nicht nur der Wille zur Verheimlichung, sondern die Organisation belegen auch die systematische Vorbereitung der Vernichtungsaktion „T4“ (benannt nach dem Sitz der Dienststelle in der Berliner Tiergartenstraße 4). Gesichert sind ca. 72.000 Morde. Hinzu kamen noch die Opfer der „wilden Euthanasie“ einzelner Anstaltsärzte und die Mordaktionen „14f13“ in den besetzten Gebieten und den Konzentrationslagern. Diese Aktion erhielt ihren Namen nach dem Aktenzeichen des „Inspekteurs der Konzentrationslager“ und richtete sich gegen KZ-Häftlinge, die als „geistesschwach“, körperlich schwach oder arbeitsunfähig galten. Selbst hier wurden Listen für die Kommissionen der Ärzte zusammengestellt. Allerdings wurden diese Listen von den Lagerkommandanten zusammengestellt. Die Ärzte zeichneten sie ab, ohne die Häftlinge gesehen zu haben. Dachauer Invalidentransporte, denen Juden und Sinti und Roma „beigestellt“ wurden, wurden nach Hartheim überführt, im Jahre 1942 etwa 3.000 Häftlinge. Der selektierende Arzt berichtete seiner Frau, er werde „bald fertig sein, da sie am laufenden Band angesehen“ würden.39

Tasuta katkend on lõppenud.