Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten

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Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten
Šrift:Väiksem АаSuurem Aa

Christopher Germer Kristin Neff
Achtsames Selbstmitgefühl unterrichten
Das Handbuch für die professionelle Arbeit
Aus dem amerikanischen Englisch von Christine Bender


Impressum

Die Originalausgabe erschien 2019 unter dem Titel: Teaching the Mindful Self-Compassion Program. A Guide for Professionals bei The Guilford Press, a division of Guilford Publications, Inc., New York, USA.

Deutsche Erstausgabe

1. Auflage 2021

Copyright der deutschen Ausgabe © 2021 Arbor Verlag GmbH, Freiburg

Copyright der Originalausgabe © 2019 The Guilford Press

All rights reserved including the right of reproduction in whole or in part in any form.

Published by arrangement with The Guilford Press

Lektorat: Ralf Lay. Fachlektorat: Hilde Steinhauser

Titelfoto: © Rob Pumphrey/unsplash.com

Umschlaggestaltung und Satz: mediengenossen.de

Druck und Bindung: Kösel, Krugzell

Alle Rechte vorbehalten


www.arbor-verlag.de

ISBN E-Book: 978-3-86781-324-2

Wichtiger Hinweis

Die Ratschläge und Übungen in diesem Buch sind von der Autorin sowie dem Verlag sorgfältig geprüft worden. Dennoch kann eine Garantie nicht übernommen werden. Bei Beschwerden sollten Sie auf jeden Fall eine Ärztin, Psychotherapeutin, Psychologin oder Heilpraktikerin Ihres Vertrauens zu Rate ziehen. Eine Haftung der Autorin oder des Verlages für Personen-, Sach- und Vermögensschäden ist ausgeschlossen.

Im Bemühen um einen Beitrag zu achtsamer Gendergerechtigkeit wechseln generisches Maskulinum und generisches Femininum im folgenden Text ab, stets beginnend mit dem Femininum. Ist dies sprachlich nicht möglich oder inhaltlich nicht präzise, werden auch bloßes Femininum, Alternativauszeichnungen oder ein Binnen-I verwendet. Ist nicht inhaltlich explizit auf eine Geschlechtsidentität hingewiesen, stehen beide Formen stets für Personen beliebiger, im jeweiligen Kontext irrelevanter Geschlechtsidentität.

Inhalt

Impressum

Vorbemerkung der Autoren

Vorwort: Unser Weg zum Selbstmitgefühl

Teil 1: Selbstmitgefühl: Theorie, Forschung, Training

1 Eine Einführung in Achtsames Selbstmitgefühl

2 Was ist Selbstmitgefühl?

3 Die Wissenschaft vom Selbstmitgefühl

4 Selbstmitgefühl lehren

Teil II: Wie man Achtsames Selbstmitgefühl lehrt

5 Das Curriculum verstehen

6 Themen vermitteln und Übungen anleiten

7 Als Lehrende mitfühlend sein

8 Den Gruppenprozess fördern

9 Der Inquiry-Prozess

Teil III: Sitzung für Sitzung

10 Sitzung 1

Achtsames Selbstmitgefühl entdecken

11 Sitzung 2

Achtsamkeit praktizieren

12 Sitzung 3

Liebevolle Güte praktizieren

13 Sitzung 4

Die eigene mitfühlende Stimme entdecken

14 Sitzung 5 Innig leben

15 Sitzung R

Retreat

16 Sitzung 6

Umgang mit schwierigen Gefühlen

17 Sitzung 7

Herausfordernde Beziehungen erforschen

18 Sitzung 8

Das eigene Leben annehmen

Teil IV: Selbstmitgefühl in die Psychotherapie integrieren

19 Achtsames Selbstmitgefühl und Psychotherapie

20 Spezielle Fragestellungen in der Psychotherapie

Anhang

Dank

Ethische Leitlinien

Begleitliteratur

Ressourcen – Literatur, Links, Quellen

Die Übungen und Meditationen

Das Audio-Begleitmaterial

Zu den Autoren

Vorbemerkung der Autoren

Dieses Buch beschreibt die Theorie, Didaktik und das Curriculum des Mindful-Self-Compassion-Programms (MSC) sowie die Forschung zu diesem Thema. Es möchte den Leserinnen und Lesern die Grundprinzipien und Praktiken von MSC vermitteln und sie befähigen, diese im Rahmen ihrer beruflichen Tätigkeit anzuwenden. Bevor Sie jedoch anderen Selbstmitgefühl vermitteln, in welcher Form auch immer, ist es unbedingt erforderlich, selbst Achtsamkeit und Selbstmitgefühl praktiziert und an einem MSC-Kurs teilgenommen zu haben, um auf einer tieferen Ebene zu verstehen, wie man Selbstmitgefühl lernt. Alle, die das in diesem Buch beschriebene achtwöchige MSC-Programm lehren möchten, müssen das formale MSC-Teachertraining erfolgreich abgeschlossen haben. Weitere Informationen finden Sie dazu auf: www.arbor-seminare.de/msc-teacher-training.

Vorwort

Unser Weg zum Selbstmitgefühl

Das Mindful-Self-Compassion-Programm (MSC) war in Arbeit, als wir uns 2008 in der Insight Meditation Society in Barre, Massachusetts, beim ersten Meditations-Retreat für Wissenschaftler*innen begegnet sind, das unter anderem vom Mind and Life Institute gesponsert wurde. Kristin ist Entwicklungspsychologin, die Anfang der 2000er-Jahre im Rahmen ihrer Arbeit erstmals Selbstmitgefühl definierte (Neff, 2003b). Sie entwickelte die Selbstmitgefühlsskala (Neff, 2003a), die heute bei den meisten Forschungsprojekten auf diesem Gebiet verwendet wird. Chris ist klinischer Psychologe und integriert seit Mitte der 1980er-Jahre Achtsamkeit in seine psychotherapeutische Arbeit.

Als wir damals vom Retreat zurück zum Flughafen fuhren, schlug ich (Chris) Kristin vor, sie solle ein Programm entwickeln, mithilfe dessen man Selbstmitgefühl lehren könne. »Was, ich?«, erwiderte sie. »Ich habe in meinem ganzen Leben noch nie einen Workshop geleitet. Du hast schon überall auf der Welt Seminare gehalten und lehrst seit Jahren Achtsamkeit. Du solltest das tun.« In diesem Moment machte es klick: Wir würden es gemeinsam machen!

Ich (Kristin) kam erstmals im Jahre 1997 mit der Vorstellung von Selbstmitgefühl in Berührung, und zwar während meines letzten Studienjahres im Graduiertenprogramm für Human Development an der University of California in Berkeley. Ich strengte mich an, um meinen Doktorgrad zu erlangen, und erlebte den ganzen Stress, der gewöhnlich mit dem Dissertationsprozess einhergeht. Zudem war kurz zuvor meine erste Ehe gescheitert; und obwohl ich in einer neuen Beziehung lebte, kämpfte ich weiterhin gegen Scham und Selbstzweifel an. Schon als kleines Kind hatte ich begonnen, mich für östliche Spiritualität zu interessieren, was sicher auch damit zu tun hatte, dass ich bei einer sehr aufgeschlossenen Mutter nahe Los Angeles aufgewachsen war. Aber ich hatte Meditation nie wirklich ernst genommen und mich auch nicht näher mit der buddhistischen Philosophie beschäftigt.

 

Wie dem auch sei, in diesem letzten Studienjahr begann ich amerikanische buddhistische Klassiker zu lesen, beispielsweise Sharon Salzbergs Buch Metta-Meditation – Buddhas revolutionärer Weg zum Glück und von Jack Kornfield Frag den Buddha – und geh den Weg des Herzens. Damit nahm mein Leben eine neue Wendung und war nie mehr dasselbe wie früher.

Obwohl mir bekannt war, dass Buddhisten viel über die Bedeutung von Mitgefühl sprachen, kam ich nie auf die Idee, dass es genauso wichtig sein könnte, Mitgefühl mit sich selbst zu haben. Bei meinem ersten Abend in einer örtlichen Meditationsgruppe sprach die Meditationsleiterin darüber, wie wesentlich es sei, mit sich selbst und anderen Mitgefühl zu haben – dass wir uns selbst genauso viel Freundlichkeit und Verständnis entgegenbringen müssten wie den Menschen, die uns am Herzen liegen. Meine erste Reaktion war: »Wie bitte? Soll das etwa heißen, es ist uns erlaubt, nett zu uns selbst zu sein? Ist das nicht egoistisch?« Doch schon bald wurde mir klar, dass man sich selbst lieben muss, um wirklich mit anderen verbunden zu sein. Wenn man sich ständig verurteilt und kritisiert, während man versucht, liebevoll mit anderen umzugehen, zieht man künstliche Grenzen und macht Unterschiede, die letztendlich nur zu Gefühlen des Getrenntseins und der Isolation führen. Das ist das Gegenteil von Einssein, Verbundenheit, universaler Liebe – den höchsten Zielen der meisten spirituellen Wege, ganz gleich, welcher Tradition sie entspringen. Also versuchte ich es, und meine neu entdeckte Praxis des Selbstmitgefühls half mir, den Widrigkeiten meines Lebens kraftvoller und anmutiger zu begegnen.

Im Anschluss an meine Promotion arbeitete ich zwei Jahre als Postdoktorandin bei Susan Harter, einer herausragenden Wissenschaftlerin, die an der University of Denver über Selbstwertgefühl forschte. Ich wollte mehr darüber wissen, wie Menschen ihr Selbstbild und ein Selbstwertgefühl entwickeln. Bald erfuhr ich, dass die Psychologie allmählich davon abkam, ein hohes Selbstwertgefühl als ultimatives Merkmal für geistige Gesundheit zu betrachten. Obwohl Tausende von Artikeln über die große Bedeutung des Selbstwertgefühls geschrieben worden waren, begannen die Forscher nun auf die Fallen hinzuweisen, in die Menschen tappen können, wenn sie versuchen, ein hohes Selbstwertgefühl zu erreichen und aufrechtzuerhalten: Narzissmus, ständige Vergleiche mit anderen, Wut als Abwehrhaltung des Egos, Vorurteile und so weiter. Ich erkannte, dass Selbstmitgefühl die perfekte Alternative zum gnadenlosen Streben nach einem hohen Selbstwertgefühl ist. Warum? Weil Selbstmitgefühl denselben Schutz gegen Selbsthass bietet wie ein hohes Selbstwertgefühl – aber ohne das Bedürfnis, sich selbst als perfekt oder überlegen zu betrachten.

Im Jahr 1999 bekam ich eine Stelle als Assistenzprofessorin für Entwicklungspsychologie an der University of Texas in Austin und traf bald die Entscheidung, über Selbstmitgefühl zu forschen. Zu diesem Zeitpunkt hatte noch niemand einen wissenschaftlichen Artikel veröffentlicht, in dem Selbstmitgefühl definiert wurde, geschweige denn darüber geforscht. Also entschloss ich mich, unbekanntes Gebiet zu betreten, und begann mit der Arbeit, die inzwischen zu meiner Lebensaufgabe geworden ist.

Welche Kraft im Selbstmitgefühl steckt, dämmerte mir allerdings erst einige Jahre später, als mein Sohn Rowan 2007 die Diagnose Autismus bekam; und ich glaube, es ist der Praxis des Selbstmitgefühls zu ­verdanken, dass ich während Rowans früher Kindheit geistig gesund blieb. Aufgrund ihrer intensiven sensorischen Erfahrungen neigen autistische Kinder zu heftigen Wutanfällen. Das Einzige, was die Eltern eines solchen Kindes in diesen Momenten tun können, ist, dafür zu sorgen, dass das Kind sicher ist, und ansonsten abzuwarten, bis der Sturm vorüber ist. Wenn mein Sohn im Supermarkt ohne ersichtlichen Grund anfing, zu schreien und um sich zu schlagen, und fremde Menschen mir unweigerlich vorwurfsvolle Blicke zuwarfen, blieb mir nichts anderes mehr übrig, als Selbstmitgefühl zu praktizieren.

Inmitten meiner Verwirrung, Scham und Hilflosigkeit konnte ich nichts anderes tun, als mich selbst zu beruhigen und zu trösten und mir selbst die emotionale Unterstützung zu geben, die ich so dringend brauchte. Selbstmitgefühl half mir allmählich, über Selbstmitleid und Wut hinauszugehen, und es ermöglichte mir auch, einigermaßen ruhig zu bleiben und weiterhin liebevoll mit Rowan umzugehen – trotz des intensiven Stresses und der Verzweiflung, die unweigerlich immer wieder aufkamen. Natürlich war ich manchmal trotzdem frustriert oder überfordert, aber ich stellte fest, dass Rowan jedes Mal, wenn ich mich über ihn aufregte, unweigerlich selbst noch aufgeregter wurde. Andererseits beruhigte er sich jedes Mal, wenn ich präsent und bewusst genug war, mir für das, was ich durchmachte, Selbstmitgefühl entgegenzubringen. Ich stellte außerdem fest, dass ich, wenn ich freundlich mit mir umging, mehr emotionale Ressourcen zu Verfügung hatte, um geduldig und mitfühlend mit Rowan umzugehen. Schnell entdeckte ich, dass das Praktizieren von Selbstmitgefühl eine der effektivsten Möglichkeiten war, meinem Sohn und mir selbst in stressigen und belastenden Situationen zu helfen.

Auf dem Gebiet der Psychologie ist es nicht ungewöhnlich, dass sich neues Wissen auftut, wenn Psychologen Lösungen für ihre eigenen Probleme finden. Auf diese Weise kam auch Chris mit Selbstmitgefühl in Berührung.

Ich (Chris) hatte bereits seit den späten 1970er-Jahren Meditation praktiziert, als ich beschloss, mir eine einjährige Auszeit zu nehmen, um kreuz und quer durch Indien zu reisen, Heilige, Weise, eingeborene Heiler und Meditationsmeister zu besuchen. Ich erlernte auch die Achtsamkeitsmeditation in einer Einsiedelei in Sri Lanka. Danach besuchte ich die Graduate School, promovierte in klinischer Psychologie und schloss mich einer Studiengruppe über Achtsamkeit und Psychotherapie in Cambridge, Massachusetts, an. Aus dieser Studiengruppe ging das Institute for Meditation and Psychotherapy hervor, und wir veröffentlichten schließlich ein populärwissenschaftliches Buch Achtsamkeit in der Psychotherapie (Germer, Siegel und Fulton, 2013), in dem dieses neue Therapiemodell vorgestellt wurde.

Die Veröffentlichung des Buches und das große allgemeine Interesse an Achtsamkeit in der Psychotherapie führten dazu, dass man mich öfter aufforderte, öffentliche Vorträge zu halten – seit jeher eine Quelle der Angst und Panik für mich. Obwohl ich als Erwachsener seit Langem regelmäßig meditierte und hin und wieder in Therapie war, wurde ich weiterhin durch meine lähmende Angst vor öffentlichen Auftritten als Redner beeinträchtigt. Kurz vor jedem Vortrag begann mein Herz zu rasen, meine Hände wurden feucht, und es fiel mir zunehmend schwer, klar zu denken. Ich versuchte wirklich alles, um dieser Angst Herr zu werden: Exposition, Meditation, achtsamkeits- und akzeptanzbasierte Strategien, Zwerchfellatmung, anstrengende sportliche Betätigung, Betablocker – was Sie wollen –, aber nichts funktionierte.

Als ich einmal bei einem Vortrag in Santa Fe ein paar einleitende Worte sagen wollte, steigerten sich meine Angst und Anspannung derart, dass ein wohlmeinender Zuhörer von einer hinteren Reihe im Vortragssaal rief: »Atmen Sie mal tief durch!« Ich sollte über die positiven Auswirkungen von Achtsamkeit sprechen und brachte kaum ein Wort heraus.

Kurze Zeit später stand ich auf der Liste der Vortragsredner bei einer Konferenz an der Harvard Medical School. Jahrelang hatte ich mich als klinischer Ausbilder in der Fakultät der Medical School im Hintergrund halten können, aber diese Konferenz bedeutete, dass ich vor einer Gruppe von Kollegen stehen und mein peinliches Geheimnis einmal mehr ­offenbaren musste. Vier Monate vor der Konferenz nahm ich an einem Schweige-­Meditationsretreat teil, in dem es keine Möglichkeit gab, meinen Ängsten zu entfliehen. Immer wenn meine Gedanken zu der bevorstehenden Konferenz wanderten, konnte ich spüren, wie mich bei der Vorstellung, mich dort zum Narren zu machen, eine Welle der Angst erfasste. Wie sehr ich mich auch bemühte, die Angst in der Weite des Gewahrseins zu halten – Achtsamkeit –, es half nichts gegen meine inneren Qualen.

Schließlich hatte ich ein Gespräch mit einer sehr erfahrenen Medi­tationslehrerin, die dieses Retreat gemeinsam mit anderen leitete. Verlegen berichtete ich ihr von meiner Unfähigkeit zu meditieren, aber es war mir immer noch zu peinlich, die ganze Wahrheit über meine innere Not zu offenbaren. Ein freundliches, wissendes Lächeln huschte über ihr Gesicht, und dann machte sie mir einen Vorschlag, der so simpel war, dass es mich fast kränkte, noch nicht selbst darauf gekommen zu sein. Ich erinnere mich nicht mehr genau an ihre Worte, aber sie sagte in etwa Folgendes: »Liebe dich einfach selbst. Wiederhole einfach Sätze der liebe­vollen Güte wie: ›Möge ich sicher sein. Möge ich glücklich sein. Möge ich gesund sein. Möge ich gelassen sein.‹« Das war’s.

Inzwischen bereit, alles zu versuchen, kehrte ich auf mein Kissen im Meditationsraum zurück und fing sofort an, die Sätze zu wiederholen. Obwohl ich schon so viele Jahre meditierte und als Psychologe über mein Innenleben reflektierte, hatte ich noch nie auf eine so liebevolle, tröstliche Weise mit mir selbst gesprochen. Sofort fühlte ich mich beruhigt. Ich fragte mich sogar, ob ich vielleicht schummelte – Retreats müssen doch hart sein, oder? –, bis ich merkte, dass sich etwas in mir gelöst hatte und ich meinen Atem wieder spüren konnte. Während der Pausen wurde die Welt auf eine ganz neue Weise lebendig. Ich konnte tatsächlich die Menschen um mich herum wahrnehmen und die schöne Umgebung des Retreat-Centers genießen. Es war, als hätte jemand die Tür zu einer anderen Art des Seins geöffnet.

Wieder zu Hause, machte ich liebevolle Güte zu meiner hauptsächlichen Meditationspraxis. Jedes Mal, wenn Angst über die bevorstehende Konferenz aufkam, sagte ich mir einfach diese Sätze der liebevollen Güte – Tag für Tag, Woche für Woche. Ich tat das nicht vorrangig, um mich zu beruhigen, sondern weil ich etwas Trost brauchte (ich hatte schon vor langer Zeit festgestellt, dass der Versuch, mich zu beruhigen, mich nur noch angespannter werden ließ).

Irgendwann aber kam der Tag der Konferenz. Als ich aufs Podium gerufen wurde, um zu sprechen, kam die vertraute Angst in der üblichen Weise hoch. Aber diesmal gab es etwas Neues: ein leises Flüstern im Hintergrund, das sagte: »Mögest du sicher sein, mögest du glücklich sein …« Und als mein Blick über die Menge schweifte, dachte ich: »Oh, mögen alle sicher sein. Mögen alle glücklich sein …« In diesem Moment traten zum ersten Mal Freude und Begeisterung an die Stelle der Angst.

Was geschah in diesem bedeutsamen Augenblick? Vielleicht konnte ich meine Angst vorher nicht akzeptieren und durch mich fließen lassen, weil in Wahrheit ein tieferes Problem dahintersteckte. Vielleicht war meine Angst, vor Publikum zu sprechen, doch keine Angststörung, sondern eine Schamstörung – und die Scham war einfach zu überwältigend, um sie zu ertragen. Immer wenn ich mich in meiner Vorstellung auf dem Podium sah, zitternd und unfähig zu sprechen, war ich grundsätzlich nicht bereit, die Erfahrung der Angst zu akzeptieren, weil die Möglichkeit, von meinen geschätzten Kollegen und Kolleginnen als inkompetent oder als Hochstapler wahrgenommen zu werden, für mich einfach unerträglich war: »Natürlich bin ich ein Schwindler, wenn ich über Achtsamkeit spreche, denn ich habe zu viel Angst zu sprechen!« Aber als ich weiterhin die Liebevolle-Güte-Meditation (LKM; Loving-Kindness Meditation) praktizierte, war es, als sei nun ein guter Freund an meiner Seite, um mich in diesen dunklen Momenten zu unterstützen, ein Freund, der mich auch noch unterstützen würde, wenn alle im Publikum dachten, ich sei ein Narr. Ich hatte angefangen, Selbstmitgefühl zu lernen.

Ich erkannte, dass wir alle manchmal zuerst uns selbst in liebevollem Gewahrsein halten müssen, bevor wir unsere Erfahrung mit der gleichen Einstellung halten können. Hier kommt Mitgefühl in die ­Achtsamkeitspraxis hinein. Wenn wir von intensiven und verwirrenden Gefühlen überwältigt werden, brauchen wir zusätzliche Unterstützung, um klarsehen und positiv handeln zu können. Als Therapeut wusste ich außerdem intuitiv, wie wichtig Mitgefühl ist. Wenn ein neuer Klient oder eine Klientin zu uns kommt, bieten wir Therapeuten instinktiv Mitgefühl als Basis für das Erforschen des Lebens dieser Person an, und zwar insbesondere der schambesetzten Bereiche. Es ist jedoch eine ganz andere Sache, uns selbst gegenüber mitfühlend zu sein, wenn wir es am dringendsten brauchen. Irgendwie geht diese Einsicht und Fähigkeit oft sogar höchst introspektiven Menschen wie Praktizierenden der Achtsamkeitsmeditation oder Psychotherapeuten und anderen Fachleuten ab.

 

Nach meiner erhellenden Erkenntnis begann ich das Potenzial eines Selbstmitgefühlstrainings für meine Klienten und Klientinnen auszuloten, insbesondere für diejenigen, die unter Störungen litten, bei denen Scham eine Rolle spielt (»Mit mir stimmt etwas nicht«, »Ich bin ein schlechter Mensch«), wie beispielsweise Sozialphobie, komplexen Traumata, Süchten und Depressionen. Ich schrieb das Buch Der achtsame Weg zum Selbstmitgefühl (Germer, 2009), um das, was ich gelernt hatte, mit anderen zu teilen – vor allem im Hinblick darauf, wie Selbstmitgefühl Klientinnen und Klienten half, die zu mir in die Psychotherapie kamen. Bald darauf veröffentlichte Kristin ihr Buch Selbstmitgefühl (Neff, 2011a), in dem sie die Theorie und Forschung über Selbstmitgefühl beleuchtete, viele Techniken zur Stärkung des Selbstmitgefühls präsentierte und beschrieb, wie sich Selbstmitgefühl in ihrem eigenen Leben auswirkte.

Im Jahr 2010 starteten wir mit unserem ersten MSC-Programm im Fritz-Perls-Haus des Esalen-Instituts in Big Sur, Kalifornien. Wir erinnern uns schmunzelnd daran, dass von den zwölf Gruppenmitgliedern bereits drei am zweiten Tag unseres »Jungfernkurses« abreisten. Vielleicht konnten sie unsere Unsicherheit spüren, vielleicht hatte der Kurs ihnen aber auch emotional zu viel abverlangt. Aber wir blieben dran. Nach einem holprigen Start investierten wir eine Menge Zeit und Energie, um unseren Acht-Wochen-MSC-Kurs zu entwickeln und für ein breite Teilnehmerschaft aus unterschiedlichen Kulturkreisen sicher, angenehm und effektiv zu gestalten. Wir führten eine kontrollierte randomisierte MSC-Studie durch (Germer und Neff, 2013; Neff und Germer, 2013), gründeten im selben Jahr eine gemeinnützige Organisation namens Center for Mindful Self-Compassion, um der Nachfrage nach der Verbreitung des Programms gerecht zu werden, und initiierten im Jahr 2014 ein MSC-Lehrerausbildungsprogramm am Center for Mindfulness der University of California, San Diego, unter der fachkundigen Leitung von Steve Hickman und Michelle Becker.

Inzwischen haben über 50 000 Menschen das MSC-Programm absolviert, das von über tausend Lehrern und Lehrerinnen in aller Welt gelehrt wurde. Da MSC-Lehrer und -Lehrerinnen während ihres ersten MSC-Kurses Online-Beratung erhalten, konnten wir das MSC-Curriculum auf der Basis ihrer Rückmeldungen noch weiter verfeinern. Das Buch, das Sie nun in den Händen halten, könnte man wohl am besten als Gemeinschaftsprojekt der gesamten MSC-Lehrer-Community beschreiben; und wir hoffen, dass es ein lebendiges Dokument bleibt und sich im Rahmen unseres weiteren gemeinsamen Praktizierens und Lernens immer weiterentwickelt.