Loe raamatut: «Als hätten sie Land betreten»
Claudia Sammer
Als hätten sie Land betreten
Roman
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1. Auflage 2020
© 2020 by Braumüller GmbH
Servitengasse 5, A-1090 Wien
Coverillustration: Shutterstock | © DODOMO
Coverhintergrund: Shutterstock | © Abstractor
ISBN 978-3-99200-285-6
eISBN 978-3-99200-286-3
Anmerkung der Autorin
Umwelt- und Artenschutz sind mir ein zentrales Anliegen. Aus diesem Grund werde ich die Hälfte der Einnahmen aus dem Verkauf meiner Bücher als Spende an die Organisation Vier Pfoten und an den WWF Österreich überweisen.
C. S.
Inhalt
Die eine Beziehung
Und immer war es genug
Aber nicht die Nähe
Flatternde Angst
Die Ärmste von uns
Eine unerwartete Betonung
Dass sie es war
Ins Netz gegangen
Die Unschuld der Schuld
Eine Begabung für das Schöne und das Gute
Traumsequenz
Sie dachte größer
Das Springen wird denkbar
Ein unscheinbares Ende
Paralleluniversum
Wir sind kein Augenzwinkern
Wie feinstes Glas
Verzeichnis der Zitate
Die eine Beziehung
Dorothea
[…] achtens du sollst nicht denken, denn es wird für dich gedacht, neuntens du sollst nicht fälschlich schreien! Gib nur, gib immerzu, nimm niemals nichts!
Der Tod war gestern unerwartet gekommen. Aus dem Hinterhalt hatte er sie angefallen, als er das Fischfleisch in Schwester Agnes Hals verkeilte, die nicht schluckend, sondern würgend Brotstück um Brotstück dem Fremdkörper hinterher schob, auf dass dieser sich löse, doch es geriet dort unten nichts in Bewegung, nicht mundwärts und nicht abwärts ließen die Brocken sich treiben, alles steckte. Die ins Leere arbeitende Peristaltik gab auf und Schwester Agnes ergab sich dem unergründlichen Willen des Herrn.
Die Mitschwestern waren in Hilflosigkeit erstarrt, es kam erst Bewegung in sie, als diese aus Schwester Agnes gewichen war. Auch für sie war es schwer zu ertragen, dass eine der ihren so unerwartet und schnell in die Ewigkeit beordert worden war. Man hielt an seiner menschlichen Hülle fest, an diesem Körper, den sie so sorglos behandelten und dennoch sorgsam einhüllten und wegsperrten.
Schwester Agnes Ende war anders gewesen. Sie kannten den einsamen Tod in der Zelle, das geräuschlose Davongleiten, das vom beruhigenden Ritual des letzten Sakraments begleitet wurde. Den Tod, auf den man sich vorbereiten konnte, mit dem man spekulierte und manchmal verhandelte, um sich schließlich seufzend in seine Arme gleiten zu lassen. Die Angst vor dem Sterben jedoch, vor diesem allerletzten Schritt, machte vor den Klostertoren nicht Halt.
Eine seltene Unruhe befiel sie, ihre tägliche Routine drohte zu zerfallen. Sie hasteten durch die Gänge, begannen mit den Vorbereitungen für das Begräbnis und hielten auf halbem Weg inne, als hätten sie den Faden verloren. Als hätte der Todeskampf, der vor aller Augen so banal zwischen Fisch und Brot dahergekommen war, Erinnerungen geweckt, die sich nicht wegsperren ließen.
Schwester Dorothea machte sich Vorwürfe, sie fühlte sich schuldig. Schuldig des Unterlassens einer hilfreichen Handlung, einer rettenden Geste. Wie versteinert war sie neben Schwester Agnes gesessen. Sie hätte sie hochreißen und ihr einen Stoß gegen die Rippen versetzen müssen. Sie hatte nichts unternommen, keine Angst und kein Leid verringert, keine Hand gehalten, keinen Trost gespendet. Nicht einmal Zeit für ein Gebet.
Damals hatte sie gebetet. Hatte das genügt? Sie hatte viele betrauert, Vater und Mutter, ihren Bruder. In Gedanken hatte sie sich mit ihnen verbunden, den Moment des Abschieds teilten sie nicht. Sie wusste nicht, ob ihre Gebete den sterbenden Angehörigen Trost gespendet hatten, sie hatte darauf vertraut, und auf einmal waren da Zweifel. Sie wäre gerne am Sterbebett der Eltern gesessen, hätte ihnen die Hand gehalten und sie teilhaben lassen am Glauben in die unerschütterliche Liebe Gottes. Sie hätte mit ihnen gesprochen und ihnen die Angst genommen. Einzig ihr Beten konnte sie ihren Lieben entgegenschicken oder besser nachschicken, ohne zu wissen, ob es sie erreichte. Darüber durfte man nicht sprechen, über die Fragen wurde das Schweigen gebreitet.
Die Unsicherheit der Mutter hatte sie erst in den letzten Jahren verstanden. Langsam hatten sich Antworten geformt, sie fand sie entlang des Weges in die Innerlichkeit, den sie vor so vielen Jahren angetreten war. Sie hatte begonnen, die Tragödie dieser Frau zu verstehen, die alle Erwartungen in ihre Familie gesetzt hatte und sich dabei versagen sah. Sie war an ihren Ansprüchen gescheitert. Hier die ins Kloster geflüchtete Tochter, deren Lebensentwurf so konträr zu den in sie gesetzten Erwartungen war, dort der schwierige Sohn, der sich mit seinen Aggressionen um Frau und Kind gebracht hatte. Und der Ehemann, der sich ihr, oder sie sich ihm, unwiderruflich entfremdet hatte. Sie hatten nicht mehr zueinander gefunden und nahmen Abschied in gegenseitigem Unverständnis und stillem Vorwurf. Unscheinbare Worte hatten die Liebe zerstört und das Selbstverständnis infrage gestellt. Es war immer die Summe der kleinen Teile, die das große Ganze formte.
Die Liebe zwischen Mann und Frau war Dorothea fremd geblieben, das hatte sie sich eingeredet, daran wollte sie glauben. Als sie jünger gewesen war, hatte sie ihren Körper betrachtet und ihm ihre Aufmerksamkeit geschenkt. Sie hatte davon geträumt, dass zwei Körper zu einem verschmelzen, zu einer Einheit, aber sie hatte den Verlust dieser Erfahrung nicht ernsthaft bedauert. Sie schien ihr unwirklich, hauchdünn und zerbrechlich wie feinstes Glas oder wie Seifenblasen, im Entstehen schon dem Ende geweiht.
Manchmal überkam sie eine leise Sehnsucht, in unbedachten Momenten wurde sie laut. Sie dachte an die unwiederbringlich vergangenen Möglichkeiten, dachte an das Kind, das sie nie empfangen und gestillt hatte, und das sich nie in ihre Arme flüchten würde. Sie wäre wohl eine jener Ehefrauen und Mütter gewesen, die sich im ständigen Bemühen, es den anderen recht zu machen, aufrieben, die zwischen Pflicht und Verantwortung verglühten. Sie machte sich nichts vor, zeichnete nicht das Bild einer trügerischen Harmonie, die scheinbar nur Halt gab. Sie wusste, dass ein Riss genügte, um der Idylle den Boden zu entziehen. Dann musste man alles von sich schieben und sich durchlavieren, dann hatte man sich nichts mehr zu sagen.
Vergangenes und Gegenwärtiges schoben sich übereinander und überblendeten einander. Am Anfang hatte der Raum zwischen Küche, Bett und Bad genügt, klar umrissene Grenzen. Der Anfang lag im Trüben, die Augen suchten vergeblich Halt, bloß ein diffuses Gefühl war greifbar. Sie hatte das normale Leben, jenes Leben, das die Eltern ihr zugedacht hatten, gegen die eine Beziehung getauscht, gegen eine Beziehung, in der das Gebet alle Zweifel niederrang.
Und immer war es genug
Lotti und Veza
[…] als sich ihre Bahnen berührten, aus nächster Nähe aufeinandertrafen, wie zwei gespannte Bogen erklangen, sich krümmten, einander anglichen und dann wieder in ihre ursprüngliche Spannung zurückschwangen.
Es war keine Freundschaft auf den ersten Blick gewesen. Vezas Fleiß hatte Lotti zu allerlei Streichen angestachelt, Tinte war rein zufällig neben Veza aus ihrer Feder getropft, sie hatte ihr Ameisen, Gras und sogar einen Regenwurm in die Schultasche gesteckt. Als sie in die Bankreihe vor Veza gesetzt wurde und diese ihr geschickt die richtigen Antworten von hinten einsagte, verwandelte sich der Spott nach und nach in aufrichtigen Dank.
Der Anfang ihrer Freundschaft war schön. Wie ein sorgsam verpacktes Geschenk lag sie vor ihnen. Sie öffneten die verknoteten Schnüre, das Papier hob sich, sprang auf und sie erhaschten einen Blick ins Innere, sahen Farbe aufblitzen und Form. Langsam kamen die Mädchen einander näher. Sie teilten ihre Füllfedern, Pausenbrote und Bürsten, ihre Gedanken, Wünsche und Träume. Sie waren albern, bewarfen sich mit Satzbällen und Kügelchen, die sie aus dem Inneren ihrer Brote schälten, und konterten mit federleichten Returns. Die Scherze flogen hin und zurück, ein beständiges Kichern und Kudern, das sich in Lachsalven entlud, an denen sie fast erstickten. Es summte und zwitscherte zwischen ihnen und um sie herum, ein Wort ergab das andere, eine Bewegung die nächste. Manches, was sie von sich preisgaben, war so geheim, dass sie meinten, sich nie mehr trennen zu können, sie vertrauten einander blind. Dass man sich einem anderen Menschen so vollständig und freiwillig ausliefern konnte. Der gemeinsame Blick war ein Filter der Wahrnehmung, er blendete das Schwere aus, bloß das Lichte und Gute blieb sichtbar. Doch hinter ihnen grollte die Welt und alles stand auf dem Spiel.
Lotti hasste ihre Familie, sie hasste die Selbstverständlichkeit, mit der diese sich anmaßte, über sie zu bestimmen. Es war vorhersehbar, dass ihre Eltern, die sich geschickt arrangiert hatten, ihr jeden weiteren Kontakt zu Veza untersagen wollten. Für echtes Interesse an der eigenen Tochter war kein Platz, alle waren zu sehr und ausschließlich mit sich selbst beschäftigt, die Mutter mit Einladungen und der Auswahl der Kanapees für die Gäste, der Vater mit der Produktionsleitung in einem Zulieferbetrieb der Rüstungsindustrie und ihr Bruder, mit dem sie, als sie klein waren, quer durch Haus und Garten gespielt hatte, war ein unangenehm von sich selbst eingenommener Wichtigtuer geworden. Lotti hatte sich nie für Politik interessiert, erst seit an der Schule die Stimmung umgeschlagen war, scheinbar von einem Tag auf den anderen, war sie hellhörig geworden. Die politische Weltanschauung drängte gewaltsam in den Vordergrund, sie drängte sich zwischen Lotti und Veza, keilte und drängelte, und Veza driftete ab und verlor ihren Halt.
In den selten gewordenen Stunden zu zweit erschufen sie eine gemeinsame Zukunft. Sie flochten ein engmaschiges Netz, in das sie sich fallen ließen, ihr Sicherheitsnetz, ihren doppelten Boden. Sie lehnten Stirn an Stirn und erforschten das andere Gesicht, die mehrfach geschwungene Form des Ohres und die Zartheit des Lids, von den Wimpern wie mit Stacheln bewehrt. Die Haut darüber war vergleichsweise rau, fast gelblich, die unregelmäßig wachsenden Brauen schienen, aus der Nähe betrachtet, fehl am Platz, Schutzwälle in einer hügeligen Landschaft. Ihre Fingerkuppen folgten Erhebungen und Tälern, sie ertasteten Unebenheit und brüchige Ränder, Scherben strebten aufeinander zu, fügten sich zu einem Ganzen, zu Anerkennung und uneingeschränktem Sein. Lotti fühlte Vezas Unsicherheit, fühlte den Wunsch, das Aufstehen am Morgen brächte nichts als die Routine eines neuen Tages, kein Anderssein, kein Verstecken und keine Angst.
Im unmittelbaren Spüren war die innere Ordnung intakt, sie hatten festen Boden unter den Füßen, es war, als hätten sie Land betreten. Sie würden im Gleichschritt gehen, sie würden studieren, lesen und lernen, sie würden arbeiten und ihr eigenes Geld verdienen. Sie würden heiraten und Familien gründen, sie hätten je drei Kinder desselben Alters. Sie würden Tür an Tür wohnen, die rechte Wand des einen Hauses wäre die linke des anderen. Durch die Wand würde das gedämpfte Anbrechen des Tages herüberdringen, die Kleinen quengelten, immer waren sie spät dran, Wasserrauschen, treppauf und treppab hastende Füße, klappernde Töpfe, das erlösende Geräusch der ins Schloss fallenden Tür. Sie waren allein. Mit Klopfzeichen verabredeten sie sich im Garten. Sie deckten ein zweites Mal, nun für sie beide, die eine brachte Kaffee und Marmelade, die andere Brot und Gebäck. Sie schoben das Tischchen aus dem Schatten und genossen die Stille, an der Hauswand war es angenehm warm. Schläfrig blätterten sie in der Zeitung, sie erkundigten sich, wie die zahnenden Jüngsten geschlafen hätten und bemitleideten einander für die schlaflose Nacht. Wenn die Sonne wanderte, rafften sie sich auf, Geschirr und Stimmen, Lachen und Schelte, das alltägliche Lärmen, begleitete den restlichen Tag. Am Abend würde die anbrechende Nacht durch die Mauern sickern, leise Stimmen, Wasserrauschen, das Schließen der Balken. Mit Klopfzeichen wünschten sie sich eine ruhige Nacht.
Es war Veza, die den Gedankenspielen eines Tages ein unerwartetes Ende setzte. Sie war fahrig gewesen, nervös. Mehrmals fragte Lotti sie, was los sei, doch Veza blieb abweisend, sie biss auf ihren Lippen herum, mit den Fingern zupfte sie an ihrem Haarband aus rotem Samt, das sie so liebte. Wenn sie nicht mir ihr sprechen wolle, solle sie gehen, fuhr Lotti sie schließlich ärgerlich an, und da öffnete Veza den Mund. Sie müsse ab kommender Woche die jüdische Schule besuchen. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, fügte sie hinzu.
Lotti blieb alleine zurück. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf, hallte es in ihrem Kopf nach. Als die Starre wich, kamen die Tränen. Das Neue war zu groß. Es brodelte und schwappte über, flutete Gleichmaß und Ruhe und spülte sie fort. Veza war überall. Lotti verknotete ihre Finger, sie fühlten sich fremd an, sie blickte in den Spiegel und sah Veza, sie schloss die Augen und Veza starrte zurück.
Die Abwesenheit der Freundin in der Schule war gegenwärtiger als ihre Anwesenheit zuvor. Ihr Platz blieb leer, im staubigen Bankfach lag nur ein angebissener Bleistift. Lotti strich mit der Hand über das Pult. In der linken, oberen Ecke hatten sie ihre Namen eingeritzt, ihr Finger fuhr die feinen Linien entlang, bis er taub war. Lottis Haut wurde überempfindlich, sie wartete auf die Berührung, das Streifen des Armes beim Schreiben, das Greifen nach der Hand, das absichtslose Herabfallen des Haares, wenn sie sich zueinander beugten. Tiefer und tiefer versuchte sie, ihre Sehnsucht in sich hineinzustopfen, bis zur Unkenntlichkeit wollte sie sie zerkleinern, zusammenlegen und ordnen. Um Platz zu schaffen für mehr. Nach fünf Tagen kam es zum Ausbruch, Lotti konnte nicht mehr, sie war am Anschlag, sie platzte. Es war das erste Mal, dass sie ihre Eltern anschrie, das erste Mal, dass sie die Dinge beim Namen nannte und die bequeme Rolle der verwöhnten Tochter verweigerte. Sie tobte, bis sie vom Vater auf ihr Zimmer geschickt wurde. Er bebte vor Wut, er hielt es nicht für nötig, sich vor seiner Tochter zu rechtfertigen, ein dummes, ahnungsloses Kind. Sie waren rechtschaffen, sie hielten sich an die geltenden Gesetze. Sie hatten sich nichts vorzuwerfen.
Seit sie verschiedene Schulen besuchten, waren Lottis und Vezas Tage von Heimlichkeiten geprägt. Ihre Freundschaft mussten sie wegpacken und vor neugierigen, missbilligenden Blicken verbergen. Die langen Stunden, in denen sie auf die nächste Begegnung warteten, füllten sie mit ihren Träumereien. Mussten sie das Wachsein nicht vortäuschen, überließen sie sich mit geschlossenen Augen einer anderen Welt, einer Welt ohne Verbote, in der sie frei waren und unbehelligt von Vorschriften und Gesetzen. In diesem Raum mussten sie sich nicht ducken, sie konnten sich strecken und wachsen. Wie in einem Prisma brachen sie die Zeit und schoben die verschiedenen Ebenen übereinander. Sie reisten vor und zurück und träumten parallel. Sie waren bloß Lotti und Veza, und das war so vieles und so wenig zugleich. Sie drehten und wendeten sich, marschierten auf Händen und hingen kopfüber. Und immer war es genug, von oben und von unten, von vorne und von hinten betrachtet, immer war es mehr als genug, es war ihnen alles.
Und immer war es Sommer, wie damals, als sie den Mutigen zugesehen hatten, die mehrfach verknotete Seile in die Erle geknüpft hatten, deren Äste weit über das Ufer hinausragten. Oft waren sie mit ihren Rädern zur Seewiese gefahren, sie hatten den gewagten Klettereien zugesehen und sich die Sonne auf den Bauch scheinen lassen. Gleichzeitig ahnten sie, dass die Gegenwart schon morgen eine bessere Vergangenheit wäre, in diesem ewigen Herbst, in dem selbst die Jahreszeiten die Orientierung verloren hatten, denn es wurde nicht Winter. Die braunen, vertrockneten Blätter hingen an den Ästen, klammerten sich trotzig an den Baum, als fürchteten auch sie den Fall ins Nichts und den Anfang von allem.
Lotti und Veza trafen sich zweimal pro Woche. Einmal vor Lottis Tanzstunde, einmal nach ihrem Klavierunterricht. Je dreißig Minuten waren alles, was sie dem Alltag abringen, was sie heimlich in ihre Tage zwängen konnten. Manchmal wurden sie aufgehalten oder mussten einen Umweg fahren, um nicht Dritte auf ihre Fährte zu locken. Mit aller Kraft traten sie in die Pedale. Ein Stück hinter dem Badestrand bog ein verwachsener Weg bergwärts ab. Folgte man dem Pfad, erreichte man eine vom Ufer nicht einsehbare Hütte. Im Hochsommer, wenn die Sonne im äußersten Westen unterging, erreichten ihre Strahlen diesen verborgenen Winkel. Der Berghang duftete nach Harz, die Wände verströmten einen leicht rauchigen Geruch. Sie saßen dann vor dem Häuschen und wärmten sich am Holz. Schmetterlinge tanzten über die Wiesen, ihre bunten Flügel leuchten kurz auf, wenn sie einen Lichtstrahl querten, das Leuchten erlosch, sobald sie in den Schatten zurückkehrten. Die Luft war erfüllt von Summen, von Flügelschlägen und dem Zirpen der Grillen. Sie malten sich aus, wie es wäre, hier einzuschlafen, hier aufzuwachen, sie würden dem Licht folgen, einschlafen, wenn es ging, aufwachen, wenn es kam. Sie würden die Türe öffnen und den Duft des Waldes und das Rascheln der Blätter empfangen, es gäbe kein Innen und kein Außen, bloß ein Teil-Sein, keine Absichten, nur beobachten, warten und schauen.
In der Hütte hatten sie eine fleckige Matratze gefunden, eine umgedrehte Obstkiste und alte Zeitungen. Die Luft war abgestanden und verbraucht. Sie malten sich aus, wer hier gehaust haben mochte, ein Flüchtiger vielleicht, suchten das Innere nach Zeichen ab. Sie fanden wenig, ein ungelenk geritztes A, eine Liste aus Strichen, je sechs in einer Reihe, ein siebter quer darüber gesetzt, als hätte jemand das Vergehen der Zeit ordnen wollen, Brandmale, zwei eingeschlagene Nägel. Sie trugen eine Decke herauf und Kerzen, Äpfel und Zwieback, nahmen den Raum in Beschlag. Ihr Versteck mussten sie mit zahllosen Spinnen teilen, die ihre Netze der Decke entlang webten. Wenn es hell war, konnten sie die feine Struktur erkennen, wie ein Schleier schwebten die Netze über ihnen, an lichtarmen Tagen verschatteten sie das Innere, und die Mädchen zogen unbewusst die Köpfe ein. Sie liebten ihren Unterschlupf auch in den dunkleren Stunden.
Wenn sie zusammen waren, erwachte das Leben. Sie konnten wieder staunen und erkundeten ihre Gedanken und Körper mit einer solchen Zartheit und Dringlichkeit, dass sie manchmal innehielten und sich wunderten, dass sie atmeten. Vielleicht hätten sie sich für einen Moment das Aussetzen des Atems gewünscht, gemeinsam in die Innigkeit zu entgleiten. Mit dem Rücken zur Wand saßen sie am Abgrund der Wirklichkeit, gegen die sie sich mit aller Macht stemmten und der sie nichts entgegenzusetzen hatten.
Sie verstanden, dass nicht nur das Tosen der Welt gegen sie war, sondern auch die Zeit. Sie verpackten in Minuten, was sie in Stunden auskosten wollten, verschnürten ihre Gefühle zu Päckchen, Happen gleich, die sie bloß vor dem Verhungern bewahrten.
Die Grenzen des Gewohnten hoben sie auf, sie nahmen es auseinander und setzten es neu zusammen. Schnittmengen genügten ihnen nicht, sie wollten Deckungsgleichheit, sich mit Stimmen und Gesten ununterscheidbar vermengen.
Sie mussten sich nicht erklären, es gab keine verborgenen Türen, und von den Abgründen wussten sie längst. Sie kannten den nächsten Schritt und den übernächsten, sie überschauten die komplizierte Abfolge, das Straucheln und Stolpern, das Tänzeln und Schweben.
Sie erschufen sich ihre Sprache und ein Wort war mehr als ein Wort, es barg Sätze und ganze Geschichten.
Sie konnten ein Beginnen denken, aber kein Enden.
Sie waren nicht namenlos, sie hatten eine Geschichte.