Loe raamatut: «Abelia und die Mönchsrobbe»

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Cordula Hamann

Abelia und die Mönchsrobbe

Die gefährliche Reise zum Palast unter den Meeren

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Die Mönchsrobbe

Die böse Fee Tomma

Der Aufbruch

Die Gefangenschaft

Der betrogene Bauer

Die Suche

Der alte Mann

Der Student und das Mädchen

Die Frau und das Meer

Die Vollmondnacht

Die Rede

Die Heimkehr

Ein Neuanfang

Impressum neobooks

Die Mönchsrobbe

„Lauf!“ schrie Abelia in den Sturm und stapfte ganz und gar nicht jungmädchenhaft durch die Dünen in Richtung Wasser. Wieder einmal hatte ihr die Mutter Vorwürfe gemacht, wie wenig Beachtung sie ihrem Äußeren schenkte. Hier am Strand konnte sie sein, wie sie wollte. Jeans und Pulli oder T-Shirt, die langen Haare mit einem einfachen Gummiband zusammengebunden und fertig. Andere Dinge waren schließlich wesentlich spannender.

Ihr Hund Lazarro ließ keinen Blick von dem roten Gummiball, den sein Frauchen in diesem Moment in Richtung Strand warf. Augenblicklich stürmte er los. Hier am Meer, wo Abelia jeden Abend mindestens eine Stunde spazieren ging, gab sie die Sorgen des Tages an den Wind ab und teilte die fröhlichen Ereignisse mit den tanzenden Wellen. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass ihre Mutter sie schon ein einziges Mal auf ihren täglichen Spaziergängen begleitet hatte. Wie auch? Im Rock oder Kleid konnte man schlecht vor Übermut die Sanddünen herunterkugeln und Lederschuhe würden Salzflecken bekommen, wenn man nicht aufpasste und die Wellen einmal schneller kamen, als man beiseite springen konnte. Dafür begleitete sie Lazarro, ein braun-weißer Münsterländer. Er war bei ihr vom ersten wachen Moment am Morgen bis zum Einkuscheln an ihrem Fußende am Abend. Selbst auf dem Weg zur Schule in der nahen Stadt ließ er sie nicht allein. Geduldig vertrieb er sich dort die Zeit, bis Abelia das Schulgebäude am Nachmittag verließ.

Jetzt brachte er stolz den Ball zurück und ließ ihn vor Abelias Füße fallen. Als sie das Spielzeug erneut hochhob und zum Wurf ansetzte, hielt Abelia abrupt in der Bewegung inne. Ungefähr einhundert Meter vor ihr am Strand, unmittelbar an der Wasserkante, lag ein glatter, rundlicher und riesengroßer Stein. Sie kannte jeden Zentimeter des Strandes. Dieser dunkelgraue Stein gehörte definitiv nicht hierher und er konnte unmöglich vom Wasser angespült worden sein.

„Lazarro komm! Das gucken wir uns an.“

Der Hund streckte vorsichtig den Kopf vor und nahm den Duft des grauen Etwas auf, während Abelia ohne Zögern den nassen Stein prüfend betastete. Mit einem Mal wedelte Lazarro heftig mit dem Schwanz, stupste mit der Nase den Stein an, sprang etwas zurück, wagte sofort einen neuen Vorstoß und bellte dabei.

„Was hast du nur?“ Die Aufregung des Hundes lenkte Abelias Aufmerksamkeit auf ihn und so erschrak sie umso heftiger, als ihre noch immer auf dem Stein ruhende Hand eine Bewegung wahrnahm. Sofort zog sie die Hand zurück und sprang, wie zuvor Lazarro, mehrere Schritte zurück. Ungläubig beobachtete sie den großen Stein. Der riesige Berg wurde flacher und länger und der Kopf und Schwanz einer ausgewachsenen Mittelmeer-Mönchsrobbe wurde sichtbar. Wie ein Hund schüttelte sich die Robbe und unzählige Sandkörner wurden vom Kopf in alle Richtungen geschleudert. Dann sahen runde schwarze Knopfaugen über einer weichen Schnauze mit langen Barthaaren prüfend hoch. Nach dem ersten Schrecken durch die unerwartete Bewegung, verspürte Abelia keine Angst mehr. Denn sie liebte diese selten gewordenen Bewohner des Meeres ebenso wie die Delfine, deren elegante Schwimmbewegungen sie schon oft bewundert hatte. Aber eine Mönchsrobbe hatte sie noch niemals beobachten können und alles, was sie über sie wusste, war aus ihren Büchern.

Sie setzte sich in gebührendem Abstand, um das Tier nicht zu ängstigen, in den Sand und befahl Lazarro in den Platz neben sich. Er bellte nicht mehr, wedelte aber noch immer heftig mit dem Schwanz, den Hals weit nach vorn gestreckt und die Ohren zurückgelegt. Sie kannte diese Reaktion bisher nur aus Begegnungen mit den Hündinnen der Nachbarschaft. Sie streichelte ihm über den Kopf. „Dummer Hund“, sagte sie zärtlich.

„Er ist nicht dumm“, ertönte eine leise Stimme. Erschrocken drehte Abelia den Oberkörper herum und erwartete, dass ein weiterer einsamer Strandspaziergänger sich zu ihr gesellt hatte. Aber sie konnte niemanden sehen und auch Lazarro, der keinen Fremden unbemerkt an sein Frauchen lassen würde, sah unverwandt auf die Robbe. Wieder sprach jemand: „Du hast schon richtig gehört. Ich bin es. Die Robbe. Also eigentlich bin ich gar keine Robbe.“ Abelia schüttelte den Kopf, stand auf und sah in alle Richtungen den Strand entlang.

„Das kann doch nicht sein. Das gibt es doch gar nicht!“, stammelte sie und rieb sich die Augen.

„Ach, dass ihr Menschen so ungläubig seid, erschwert immer alles“, seufzte die Stimme, „vertrau einfach deinen Sinnen, Abelia.“

Jetzt sprach sie die Robbe direkt an: „Woher – woher weißt du meinen Namen?“

„Lazarro hat sich und dich vorgestellt.“ Mit aufgerissenen Augen starrte Abelia ihren Hund an.

„Wie? Du kannst auch sprechen? Spinnt ihr jetzt alle?“ Sie drehte sich in Richtung des Wassers, stemmte die Arme in die Hüften und sprach zu sich selbst: „Nein, jetzt mal langsam. Es ist der Sturm und ich bin es, die jetzt gerade spinnt. Oder doch nicht?“ Entschlossenen drehte sie sich zurück und ließ sich in den Schneidersitz herunter. „Also gut. Du, Robbe, kannst sprechen und du, Lazarro, hast mich die ganze Zeit gefoppt, weil du auch sprechen kannst. Warum hast du das die ganzen Jahre vor mir verheimlicht? Nicht sehr nett von dir.“ Der Hund rutschte näher an sie heran und leckte mit der Zunge über ihre Hände.

„Du tust ihm Unrecht. Er kann wirklich nur die Hundesprache sprechen“, ertönte es wieder aus dem Robbenmaul. Jetzt sah Abelia ganz genau hin und tatsächlich: Sie konnte die kleinen Schnauzenbewegungen der Robbe sehen, als diese sprach.

„Aber wieso kann er dann offenbar mit dir sprechen? Du bist kein Hund.“

„Ja und nein“, antwortete die Robbe. „Es ist Ebbe. Ich muss ein wenig weiter rutschen. Entschuldigt mich einen Moment.“

Während sich auch Abelia und Lazarro näher an die Wasserkante setzten, erklärte die Robbe: „Ich war ein Hund. Genauer eine Deutsche Dogge. Ich heiße übrigens Almut. Blöder Name, oder?“

Lazarro gab einen kurzen Knurrlaut von sich, wedelte dabei aber freundlich mit dem Schwanz. Abelia kam es so vor, als verstünde er jedes Wort, das Almut von sich gab. Und als ob die Robbe ihre Gedanken hören konnte, sagte sie: „Lazarro kann mich ebenso wie dich verstehen. Dummerweise ist uns Hunden nicht die Möglichkeit gegeben, die Menschensprache zu lernen.“

„Aber im Moment bist du doch nun eine Robbe? Eine Robbe, die sprechen kann. Erzählst du uns, was passiert ist?“

„Musst du nicht nach Hause?“

Erschrocken stellte Abelia mit einem Blick auf ihre Armbanduhr fest, dass es bereits weit über die Zeit hinaus war, zu der sie normalerweise am Strand umkehrte, um noch im Hellen zu Hause sein zu können. Ihre Mutter würde wütend werden und ihr Vater würde sich Sorgen machen. „Es ist eine lange Geschichte“, fügte Almut bekräftigend hinzu. „Ich werde sie euch morgen erzählen.“

„Wo finden wir dich?“, fragte Abelia.

„Siehst du den größeren Felsen dort?“

„Natürlich. Das ist der Delfinkopf“ Sie hatte allen Felsformationen in der Gegend hier Namen gegeben. Almut verzog ihre Schnauzenwinkel weit nach oben und gab glucksende Geräusche von sich.

„Gut, also der Delfinkopf dort. Schafft ihr das, dort hinauf und wieder hinunter zum Wasser zu klettern?“ Lazarro bellte zustimmend und Abelia nickte. „Für mich ist es geschützter dort. Also bis morgen. Seid ein bisschen früher da als heute“, sprach Almut und mit einer Schnelligkeit, die Abelia ihren Rutschbewegungen gar nicht zugetraut hatte, war sie im tiefen Wasser. Sofort verwandelte sich die Plumpheit ihrer Fortbewegung in elegante und schwungvolle Schwimmbewegungen in Richtung offenes Meer.

In dieser Nacht konnte Abelia nur schwer in den Schlaf finden. Immer wieder schrak sie hoch und fragte sich, ob ihre Erlebnisse mit der Mönchsrobbe wohl nur in die Welt der Träume gehörten. Durch diese seltsame Begegnung hatte sich auch ihr Verhältnis zu Lazarro verändert. Bisher hatte sie mit ihm gesprochen, wie es ihr gerade in den Sinn kam, wie eine Mutter zu ihrem Baby sprach, das noch nichts verstand. Nun musste sie bei jedem Wort daran denken, was er wohl antworten würde, wenn er nur könnte. Sie nahm sich fest vor, morgen die Robbe zu bitten, ein langes Gespräch zwischen ihr und Lazarro zu übersetzen. Hoffentlich würde sie es nicht vergessen, grübelte sie, denn sie brannte inzwischen vor Neugierde auf die Abenteuer der Dogge Almut, die zur Mönchsrobbe geworden war.

Die böse Fee Tomma

Zweimal ermahnte sie der Lehrer, nicht zu träumen, sondern zuzuhören. Es störte Abelia nicht, denn ab übermorgen würden Ferien sein, die Zeugnisse waren geschrieben und sie war in die neunte Klasse versetzt. Wozu da noch aufpassen? Sie lief als erste aus dem Gebäude und nicht einmal Carlos, der Schuld daran war, dass sie ihre langen Haare in letzter Zeit ab und zu offen trug, anstatt sie mit einem einfachen Gummiband zusammenzubinden, konnte sie bewegen, noch länger auf dem Schulhof zu bleiben. Lazarro sprang ihr freudig entgegen. Sein Blick schien ihr verschwörerisch. „Ich sag nie wieder dummer Hund zu dir“, versprach sie lächelnd im Dauerlauf.

Der Nachmittag zog sich zäh in die Länge, aber endlich war es Zeit, sich auf den Weg zu machen. Leichtfüßig erklomm sie die zerklüftete Steinformation des Delfinkopfes und spähte aufgeregt in das bewegte und leicht schäumende Wasser unter ihr. Die Felsen hatten eine Minibucht ausgebildet, in der Sand angespült worden war. Sie kletterten hinunter und Abelia setzte sich auf einen der Steine und überließ den Ministrand ihrem Hund. Aufgeregt starrten beide ins Wasser. Sie mussten nicht lange warten, dann sahen sie Almuts Kopf aus dem Wasser auftauchen und Sekunden später robbte sie auf den Sand. Bellend machte Lazarro Platz. Ganz kurz berührten sich die Schnauzen der beiden Tiere. „Wie ein Kuss“, dachte Abelia gerührt.

„Hallo Almut. Nun erzähl schon. Ich konnte die Nacht kaum schlafen“, forderte sie die Robbe auf.

„Nun also hört meine Geschichte: Mein Herr und ich lebten in Marokko, an der Nordwestküste. Er heißt Eneas und ist ein Edelmann. Er hat mich vor dem Ertränken gerettet und groß gezogen und ich bin ihm dafür eine treue Gefährtin und Wächterin geworden. Ihr müsst wissen, Eneas ist jung, sieht gut aus und ist reich dazu. Und ich … naja … eine Deutsche Dogge ist schon ziemlich ungewöhnlich in Marokko. Wir waren ein stolzes Paar.“

„Du scheinst Eneas sehr zu lieben, nicht wahr?“, fragte Abelia. Die Robbe sah Lazarro an und antwortete dann: „Ebenso wie er dich liebt. So sind wir Hunde eben.“

„Aber wieso bist du jetzt keiner mehr. Was ist passiert?“

„Nicht so ungeduldig.“

Es schien Abelia, als ob die Robbe grinste, als sie weiter erzählte: „Alle Menschen lieben Eneas. Nicht wegen seines Aussehens oder seines Geldes, sondern weil er ein wirklich gutes Herz hat. Er gibt viel von seinem Reichtum an andere ab und hat immer ein offenes Ohr für jeden, der seine Hilfe erbittet. Er ist so gut, dass Tomma sich für ihn interessierte.“ Die Robbe stockte bei dem Ausspruch des Namens.

„Wer ist das?“, fragte Abelia, doch die Robbe schwieg.

Lazarro stand auf und legte sich dichter an Almut heran. Er leckte ihr über die Schnauze und dann über das ganze Gesicht. Als er an den winzigen Ohren angelangt war, rief sie plötzlich: „Hör auf, das kitzelt!“ Und es hörte sich an, als kichere sie.

„Ich erzähl ja schon weiter. Ihr müsst wissen, Tomma ist kein Mensch. Sie ist eine böse Fee. Die böse Fee schlechthin. Jeder fürchtet sich vor ihr. Immer, wenn die Menschen glücklich sind, dann lässt Tomma etwas Schreckliches passieren. Ich hasse sie!“

Lazarro knurrte zustimmend und Abelia fragte ungläubig: „Und die hat sich in Eneas verliebt?“

„Nein! Sie ist zu keiner wahren Liebe fähig. Verliebt sein heißt bei ihr nichts weiter, als besitzen zu wollen. – Sie wollte Eneas und sie holte sich ihn“, presste die Robbe hervor.

„Was meinst du damit?“

„Tomma lebt in ihrem Palast. Wen sie mit sich nimmt, der kommt allein nicht mehr zurück. Denn der Palast liegt in der Welt unterhalb der Meere.“

„Und dorthin hat sie deinen Eneas verschleppt?“, fragte Abelia erschrocken. Sie konnte Almuts Trauer förmlich spüren.

„Ich habe die Gefahr geahnt und da habe ich meinen Herrn noch aufmerksamer als sonst bewacht. Ich wusste: Solange ich bei ihm war, konnte ihm nichts passieren, denn Tomma hat panische Angst vor Hunden, vor so großen wie mir allemal.“

„Und trotzdem ist es ihr gelungen?“, fragte Abelia mitfühlend, denn sie hörte die Selbstvorwürfe in Almuts Worten.

„Sie hat einen ihrer menschlichen Diener heimlich in das Haus meines Herrn geschickt, der hat ein Zauberpulver unter mein Fressen gemischt hat. Es hat nicht anders als sonst geschmeckt und ich habe es gefressen.“

„Und dann?“ Abelias Blick hing an der Schnauze der Robbe, um ja kein Wort zu verpassen.

„Ich fiel in einen tiefen Schlaf und am Morgen hatte ich die Gestalt einer Mönchsrobbe. Eneas erschrak fürchterlich, als er erwachte. Ich nicht minder. Ich war völlig verwirrt. Doch dann merkte ich, dass ich die Menschensprache beherrschte. Ich sagte Eneas, dass ich Almut, seine Dogge sei und er glaubte mir. Wir wussten beide, wer dahinter steckte.“

Abelia beugte sich weiter vor. Hatte sie da wirklich Tränen in Almuts Augen gesehen? Nein, Robben konnten nicht weinen. Es mussten Wasserspritzer von der Gischt sein. Aber vielleicht … was war an dieser Robbe schon normal?

„Eneas brachte mich zum Meer und bestand darauf, dass ich mich zur Sicherheit einer vor der Küste lebenden Gruppe der Mönchsrobben anschließen sollte, bis es ihm gelungen sein würde, ein Gegenmittel des Zauberpulvers zu finden. Auf dem Weg zum Strand rief ich allen Hunden, die wir trafen zu, sie sollten an meiner Stelle über Eneas wachen. Doch in der Nacht holte sie ihn.“ Almut schwieg und legte ihren Kopf erschöpft auf den Sand. Abelia stand auf und drängelte sich zwischen Lazarro und die Robbe, um sie zum Trost ausgiebig zu streicheln.

„Du Arme. Haben die anderen Hunde es dir erzählt?“

„Ja“, antwortete Almut nur und ihre Stimme schien unendlich müde.

„Was hast du nun vor, liebe Almut?“

„Zuerst schwamm ich wie wild vor Trauer wochenlang hinaus ins weite Meer, weg von der Gruppe und außer Sichtweite der Küste. Doch dann merkte ich, dass es meinem Herrn am wenigsten half, wenn ich verhungern oder von Fischernetzen gefangen würde. Ich musste wenigstens irgendetwas tun. Ich begann, allen Meeresbewohnern meine Geschichte zu erzählen und sie zu fragen, ob sie eine Lösung wüssten. Ich traute mich sogar, einen einsamen Fischer in einem kleinen Boot zu fragen. Er sah mich zwar erst erstaunt an. Aber dann erzählte er mir seine Geschichte, die nicht minder traurig war wie Eneas’ und meine. Er sei mit seinem erwachsenen Sohn in einer absolut windstillen und klaren Vollmondnacht zum Fischen hinausgefahren. Sie hätten geredet und gelacht und dann wären sie, auf den Morgen und ein hoffentlich volles Netz wartend, eingeschlafen. Als er aufgewacht sei, sei der Sohn verschwunden gewesen. Voller Verzweiflung wäre er in das Wasser gesprungen und hätte überall nach ihm getaucht. Doch vergebens. Seitdem sei er nie wieder bei windstiller Vollmondnacht hinausgefahren. Auch an Land suchte er seinen Sohn, in der irrsinnigen Hoffnung, er hätte es vielleicht schwimmend an Land geschafft. Alte Fischer hätten ihm erzählt, dass nur in einer solchen Nacht die Türen des Palastes der bösen Fee für Tier und Menschen offen stünden und es deshalb sehr gefährlich sei, auf Meer hinauszufahren.“ Abelia hatte während der Erzählung zum Himmel geschaut. Die Sonne stand kurz vor ihrem Untergang und am anderen Ende des Horizontes konnte sie klar die Mondsichel erkennen. Es war heute also kein Vollmond.

„War eine solche Nacht auch, als sie deinen Herrn holte?“, fragte sie und die Robbe nickte. Lazarro bellte mit einem Mal fordernd Almut und sein Frauchen an.

„Was will er?“, fragte Abelia.

Doch die Robbe hörte offenbar erst aufmerksam dem Hund zu, bevor sie antwortete: „Lazarro meint, dass wir nur warten müssten bis zur nächsten windstillen Vollmondnacht und dann würde er mich begleiten und wir könnten meinen Herrn befreien.“

„Tapferer Lazarro“, lobte Abelia und pflichtete ihm bei: „Das ist eine gute Idee und ich komme auch mit. Gemeinsam schaffen wir das.“

„Ihr seid sehr mutig. Aber es geht nicht. Ihr wärt allein. Ich könnte als Robbe nicht in den Palast. Ich muss erst das Zaubergegenmittel finden. Dann, wenn ich wieder eine große Dogge wäre, hätten wir vielleicht eine Chance.“ Almut tauchte kurz unter Wasser, um sich den Sand aus dem Gesicht zu waschen. Als sie wieder auftauchte, wirkte sie entschlossener und zuversichtlicher.

„Ein Delfin erzählte mir, dass es in Huera eine gute Fee gebe, deren Zauberkraft um ein Vielfaches stärker sei als die Tommas’. Nur, Huera liegt nicht am Meer. Wie soll ich dorthin kommen?“

Dieses Mal brauchte Abelia keinen Dolmetscher. Sie sah ihren Hund an und eine feste Erwiderung ihres Blickes aus seinen großen braunen Augen überzeugte sie, dass sie beide das Gleiche dachten. „Wir werden es für dich holen.“

„Es könnte gefährlich sein. Und wie willst du allein dorthin gelangen? Und …“

Abelia unterbrach die Robbe. „Ab morgen habe ich große Ferien. Ich werde mir etwas einfallen lassen. Keine Sorge. Und jetzt erzähl alles ganz genau, was du über diese gute Fee weißt.“

Der Aufbruch

„Was heißt das: Du fährst nicht mit uns in die Ferien?“, brauste die Mutter auf.

„Was willst du denn nur machen, Kind?“, fragte der Vater besorgt.

„Onkel Pete passt auf mich auf. Ich könnte im Garten spielen, mich mit meinen Freundinnen treffen. Wisst ihr eigentlich, dass Marie und Susanne auch nicht verreisen. Ich könnte sie besuchen oder …“

„Ich versteh dich nicht. Bei der Tante in den Bergen hat es dir doch immer gefallen“, unterbrach sie die Mutter und Abelia spürte, dass sie auch ein wenig beleidigt war, dass ihre Tochter das Alleinsein vorzog.

„Hat es doch auch, Mutter“, besänftigte Abelia sie. „Aber diese Ferien möchte ich einmal hier zu Hause verleben.“

„Aber so allein. Kind, ich mache mir Sorgen“, gab der Vater zu bedenken.

„Onkel Pete ist doch da. Vater, vertraust du mir?“

Onkel Pete arbeitete schon seit Abelias Geburt auf dem Hof der Eltern. Er war so lieb, dass er für Abelia wie einen zweiter Vater geworden war. Ihm erzählte sie alle Geheimnisse, die sie den Eltern besser verschwieg. Der Vater zögerte nur kurz und nickte dann.

„Dann ist alles gut. Ich wünsche Euch schöne Ferien. Grüßt mir die Tante schön, ja“, nutzte Abelia fröhlich das kurzfristige Schweigen der Eltern und schon war sie aus dem Zimmer.

Sichtlich schweren Herzens fuhren die Eltern sehr früh am nächsten Morgen allein in die Ferien. Abelia schlief noch. Als sie wach wurde, fand sie einen Zettel ihrer Mutter vor: „Meine liebe Abelia, noch ist genug Essen und Trinken im Haus. Pete wird, solange wir weg sind, im Haus Gästezimmer schlafen. Er wird dir auch Geld geben, wenn du neues brauchst. Geh sorgsam damit um und verliere es nicht. Und geh auf gar keinen Fall in der Dunkelheit allein hinaus. Onkel Pete wird dich abholen, wenn du länger bei deinen Freundinnen bleibst. Ich habe mit Susannes und Maries Mutter gesprochen. Die Mädchen dürfen auch mal hier bei dir schlafen. Bis bald. Pass gut auf dich auf. Deine Mama.“

Abelia erschrak. Sie hatte gehofft, die Mutter würde das Geld zum Einkaufen dort lassen, wo sie es immer hatte: in der alten unansehnlichen Schachtel im Küchenschrank. Woher sollte sie nun das Fahrgeld für den Zug nach Huera nehmen? Sie hatte etwas Taschengeld gespart, aber bei weitem nicht genug. Huera lag fünfhundert Kilometer entfernt und entsprechend teuer war die Fahrkarte. Trotzdem. Es musste sich irgendein Weg finden, um der armen Almut zu helfen. Schnell, bevor Onkel Pete zum Frühstück herunterkam, griff Abelia nach Zettel und Stift: „Lieber Onkel Pete. Bitte vertrau mir und verrate mich nicht. Ich muss etwas sehr wichtiges erledigen. In spätestens drei Tagen bin ich wieder da. Bitte, bitte, sag meinen Eltern nichts und mach dir keine Sorgen. Ich nehme Lazarro mit. Ich hab dich lieb. Deine Abelia“

Sie rief ihren Hund. „Komm, lass uns packen; mir wird schon etwas einfallen.“

Nachdem sie auch das Gartentor hinter sich zugezogen hatte, lief sie zielstrebig in Richtung Hauptstraße. Lazarro bellte hinter ihr und blieb immer wieder stehen. Sie spürte, dass er mit ihrem Aufbruch nicht einverstanden war. Doch sie ging festen Schrittes weiter. Es blieb ihm nichts weiter übrig, als hinter seinem Frauchen herzutrotten. „Es wird sich schon eine Möglichkeit finden. Du wirst schon sehen“, ermutigte sie Lazarro, sein Ohren nicht so hängen zu lassen.

Nach zwanzig Minuten hatten sie die Hauptstraße erreicht, die im großen Bogen um ihr Dorf herumführte. Sie stellte sich direkt an die Bordsteinkante, hob den Arm mit einem ausgestreckten Daumen in die Höhe und blickte fröhlich dem mäßig fließenden Verkehr entgegen. Sie musste nicht lange warten, bis der Fahrer eines kleinen Lastwagens anhielt. Er hatte auf der offenen Ladefläche Obstkisten geladen. Ein gewohntes Bild, denn es gab viele Bauern in der Gegend. Ein freundlicher junger Mann hieß sie willkommen, doch als er den Hund sah, sagte er: „Nein, mein Fräulein, der Hund muss nach hinten. Hier vorne kommt mir kein Viech herein.“ Abelia warf Lazarro einen entschuldigenden Blick zu, aber der sprang bereits verständnisvoll auf die Ladefläche und suchte einen geschützten Platz zwischen den Kisten. „Mein Hund ist kein Viech“, murmelte sie, als sie in die Fahrerkabine auf den Beifahrersitz kletterte. Sie durfte nicht zu unfreundlich sein, denn schließlich sollte der Fahrer sie möglichst weit ihrem Ziel entgegenbringen. Also grinste sie ihn gleich nach ihrem Widerspruch freundlich an. Der junge Mann schüttelte nur lachend den Kopf und fuhr los.

Er war auf dem Weg, einen Teil seiner Ernte auf dem großen Markt der nächsten Stadt an Händler verkaufen, die die Ware dann weiter in andere große Städte oder außer Landes brachten.

„Warum verkaufst du nicht das Obst auf unserem Markt?“, fragte sie erstaunt. „Warum fährst du hundert Kilometer dafür?“

Er lachte wieder. „Weißt du, wie viele Bauern es hier in der Gegend gibt? Und wie wenig Menschen in den Dörfern und kleinen Städten um uns herum wohnen? Auf unserem Markt könnte ich nicht ein Zehntel meiner Ernte verkaufen. Nein, das ganze Land isst unser Obst. Sogar die Menschen in fernen Ländern.“

Sie nickte und ärgerte sich über ihre dumme Frage. Sie unterhielten sich angeregt und so verging die Zeit wie im Flug.

„Ich lass dich am großen Markt heraus. Vielleicht findest du einen Bauern, der aus der entgegengesetzten Richtung zum Markt gekommen ist und nun wieder nach Hause fährt“, schlug der junge Bauer vor.

Abelia schenkte ihm zum Abschied und zum Dank ein großes Stück selbstgebackenen Kuchen ihrer Mutter.

Ermutigt durch den problemlosen Beginn ihrer Reise, sah sich Abelia neugierig auf dem Parkplatz vor den Marktgebäuden um. Aufmerksam studierte sie die Nummernschilder der Fahrzeuge. Ein Mann mittleren Alters ging auf einen der Laster zu, der ein Kennzeichen trug, das Abelia nicht kannte. „Komm Lazarro! Den fragen wir.“

Ihre Vermutung war richtig. Der Bauer kam aus einer Stadt, die ungefähr 150 km entfernt lag. Sie nahm allen Mut zusammen, denn er sah keineswegs so freundlich aus wie der Fahrer aus ihrem Heimatort.

„Von mir aus kannst du mitfahren“, brummte der Mann, nachdem er sowohl Abelia als auch Lazarro eingehend gemustert hatte. „Aber der Hund muss nach hinten.“

Oh je, schon wieder ein Hundehasser, dachte sie und tätschelte kurz Lazarros Kopf, bevor er auf die Ladefläche sprang, wo außer leeren Obstkisten nur ein paar Holzscheite und alte Jutesäcke lagen.

Es kam kein Gespräch zustande. Auf jede ihrer fröhlichen Fragen brummte der Bauer nur knappe Antworten oder schwieg einfach. Ihr war unwohl zumute, denn ab und zu sah der Mann zu ihr herüber, als prüfe er etwas. Unwillkürlich schob sie die Schultern nach vorn, um ihre kleinen Brüste, auf die sie eigentlich doch so stolz war, möglichst unsichtbar zu machen. Gut, dass sie ihre langen blonden Haare für die Reise fest zu einem Pferdeschwanz gebunden hatte. Nachdem ein Junge aus der Neunten ihr gesagt hatte, sie sehe mit offenen Haaren viel hübscher aus. Wenn doch nur Lazarro neben mir säße. Sie drehte sich zu dem kleinen Fenster um, durch das man auf die Ladefläche blicken konnte. Lazarro hatte sich dicht an das Fenster gesetzt und seinen Kopf auf die in der Ecke gestapelten Holzscheite gelegt, so dass er in das Innere der Fahrerkabine sehen konnte.

„Du hast kein Geld für eine Fahrkarte, oder?“, fragte der Bauer mit einem Mal.

„Nein, also ich habe schon Geld. Meine Eltern. Aber im Moment habe ich keines bei mir. Deshalb musste ich jemand bitten, mich mitzunehmen.“

„Aber du wohnst nicht in der Richtung, in der wir fahren, nicht wahr?“ Wieder musterte er sie vom Kopf bis Fuß.

„Ich, ähm, ich fahre zu meiner Tante. Die wohnt da.“ Sie sah aus dem Fenster. Sie fuhren gerade über einsame Landstraßen, links und rechts der Straße waren steile Berghänge ohne Bewuchs; von Wegen oder Häusern war weit und breit nichts zu sehen. In dieser Gegend konnte sie ihn unmöglich bitten, sie aussteigen zu lassen. Zur Beruhigung summte sie eine erfundene Melodie vor sich her. An der nächsten Tankstelle würde sie aussteigen. Soviel war gewiss.

Tasuta katkend on lõppenud.