Loe raamatut: «Improvisationstheater»
IMPROVISATIONSTHEATER
Band 1: Die Grundlagen
DAN RICHTER
Impressum
Dan Richter
2. Auflage, 2022
Vertrieb: Verlag Theater der Zeit
Winsstraße 72,
10405 Berlin, Deutschland
Druckerei: PRINT GROUP Sp. z o.o.
ul. Księcia Witolda 7
71-063 Szczecin (Polen)
Cover-Gestaltung: Laura Kötter
Foto des Autors: Matthias Fluhrer
ISBN: 978-3-95749-419-1
eISBN: 978-3-95749-420-7
Dan Richter spielt und unterrichtet beim Berliner Improvisationstheater Foxy Freestyle. Für die Lesebühnen Chaussee der Enthusiasten und Kantinenlesen verfasste er zahlreiche Kurzgeschichten, Lieder, Gedichte und Hörspiele. Er ist Autor des Impro-Vademekums Vierzehn Weisheiten für Improspieler.
Vorwort
Dies ist das erste Buch der auf zwölf Bände angelegten Reihe Improvisationstheater. Es richtet sich an Anfänger, an fortgeschrittene Impro-Spieler und Improvisations-Lehrer. Wir werden die Grundlagen des gemeinsamen theatralen Improvisierens erkunden: Wie erlangen wir beim spontanen Erschaffen von Szenen Freiheit, Freude und Eleganz? Obwohl ich hier einige Spiele, Übungen und Formate beschreibe, ist dieses Buch keine Trick-Kiste. Um Improtheater zu lernen, braucht man ein offenes Herz, aber auch Geduld und Übung. Mit dem Titel „Die Grundlagen“ ist also nicht allein die Anfängerpraxis des Improvisierens gemeint, sondern die grundlegenden Haltungen, auf die sich Improtheater-Spieler immer wieder besinnen müssen, wenn sie nicht steckenbleiben, sondern sich stetig weiterentwickeln wollen.
Ich wünsche mir, dass dieses Buch die Leser inspiriert, Neues zu wagen, Ängste hinter sich zu lassen, sich dem Moment hinzugeben, die eigenen Fähigkeiten zu erweitern und dem Verstand und künstlerischen Instinkt zu vertrauen, so dass Improvisationstheater das werden kann, was in ihm schlummert: Eine Kunst.
Die Namen von Spielern aus Shows und Workshops habe ich – mit Ausnahme meines eigenen Impro-Ensembles Foxy Freestyle – anonymisiert.
INHALTSVERZEICHNIS
1WARUM SPIELEN WIR IMPROTHEATER?
2SEI MUTIG
3HÖR ZU
4AKZEPTIERE
5FÜGE HINZU
6BEHAUPTE
7SPIELE!
8SEI IM MOMENT
9LIEBE DAS UNBEKANNTE
10GIB VOLLEN EINSATZ
11LASS DICH VERÄNDERN
12SEI SPEZIFISCH
13MITEINANDER
14URTEILEN
15FLOW
16KOMIK, ERNST UND HUMOR
17DILETTANTISMUS UND ELEGANZ
18DIE BÜHNE GEHÖRT UNS
19ALLES IST INSPIRATION
20REGELN
21TRAINING
22PLANEN
23VERZEICHNIS DER SPIELE UND FORMATE
IMPROVISATIONSTHEATER. ALLE BÄNDE
LITERATURVERZEICHNIS
DANK
AUSFÜHRLICHES INHALTSVERZEICHNIS
1WARUM SPIELEN WIR IMPROTHEATER?
1.1Der Genuss des Publikums
1.2Freiheit und Bildung des Spielers
1.3Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation
1.4Synchronisierte Kreativität
1.5Interaktion mit dem Publikum
1.1Der Genuss des Publikums
Impro-Spieler machen sich oft Gedanken darüber, was „das“ Publikum sehen will, was es braucht oder was es fordert. Vielleicht ist hier mal ein Perspektivwechsel fällig: Was bereitet denn uns Impro-Spielern Freude, wenn wir im Publikum sitzen? Was hat uns begeistert, als wir das erste Mal Improtheater gesehen haben, als wir noch nichts von den Impro-Techniken wussten, die dahinter stecken, nichts vom feinen Miteinander, das das lockere Impro-Spielen erfordert?
Wenn wir Zuschauern, die zum ersten Mal Improtheater sehen, nach der Show zuhören, werden wir erkennen, dass die primäre Begeisterung immer wieder die Faszination des Spontanen ist:
„Ihr wart so unglaublich schnell!“
„Wo nehmt ihr nur so rasch die Ideen her?“
„Ihr geht so unglaublich gut aufeinander ein.“
„Man hat gesehen, dass ihr euch selber amüsiert habt, wenn ihr von der Antwort eurer Mitspieler überrascht wart.“
Obwohl Improtheater nicht unbedingt komisch sein muss, hat es doch einen Hang zum Komischen, der nicht unbedingt durch die Inhalte des Gesagten zu erklären ist, sondern durch das Spontane selbst. Diese impro-immanente Komik wirkt vor allem dann, wenn der Mechanismus offengelegt wird, das heißt wenn für die Zuschauer die Spielregel sichtbar ist. Aber auch in freien Szenen ist dieser Effekt noch zu beobachten: Ich liefere dir einen Satz, und du musst etwas Sinnvolles darauf erwidern. So entfaltet sich Situations-Komik. Dem Zuschauer wird rasch klar, dass das, was auf der Bühne entsteht, keiner der einzelnen Spieler alleine hätte erfinden können.
Doch auch unabhängig von der impro-spezifischen Komik ist Improtheater für den Zuschauer interessant. Man empfindet Freude, anderen beim Kreativsein zuschauen zu können. Als Zuschauer tauchen wir in den Prozess mit ein, und das können uns nicht-improvisierte Künste nur selten bieten. Bildende Künstler lassen sich in der Regel ungern über die Schulter schauen. Und Schriftsteller reagieren pikiert, wenn man ihnen beim Schreiben auf das Blatt Papier oder auf den Monitor starrt.
Wenn wir ins Kino gehen, ist der Film komplett, das Drehbuch wurde vor Jahren geschrieben, die Darsteller haben ihre Szenen zum Teil zig Mal gespielt. Ganze Szenen sind der Schere zum Opfer gefallen. Das ist alles wunderbar, und wir lieben die großen Filmkunstwerke. Aber Theater oder auch Live-Musik entfalten dann eben doch noch eine andere Art von Magie. Man ist direkt dabei, wie die Schauspieler oder Musiker die Werke des Dramatikers oder Komponisten umsetzen. Rock-Konzerte lösen eine so stark sichtbare und regelrecht spürbare Begeisterung aus, weil es hier weniger um die saubere Performance der Lieder geht, sondern um die gemeinsame Erfahrung.
Auch Regie-Theater lebt von einem gewissen Maß an Improvisation. Gute Schauspieler sind nie allein Text-Aufsager, die ihren Körper dem Regisseur zur Verfügung stellen. Vielmehr müssen sie in der Lage sein, zuzuhören und die Empfindungen der Figur unmittelbar aufleben zu lassen, was dann bedeutet: Sie müssen sie spontan in sich selbst zum Leben erwecken. Dem lebendigen Entstehen des Stücks auf der Bühne als Zuschauer beizuwohnen, kann ein großartiges ästhetisches Erlebnis sein. Schauspiel ist also, trotz allen Probens, auch im Regie-Theater immer wieder ein Stück weit improvisiert. Aber an dem Stück hat der Autor oft monatelang gefeilt. Der Regisseur des Stücks bestimmt letztlich seinen Charakter, er gibt dem Stück den Dreh und legt fest, wie die Schauspieler ihre Rollen aufzufassen haben. Vielleicht hat er den Schauspielern in den Proben Raum zum Improvisieren gegeben oder improvisatorische Elemente genutzt, aber zum Zeitpunkt der Premiere steht das Stück und wird kaum noch mehr verändert. Die Aufgaben des Dramaturgen, des Lichttechnikers, des Bühnenbildners, der Musiker – all das ist festgelegt, und am Tag der Aufführung wird nicht mehr daran gerüttelt.
Im Improtheater entstehen alle diese Parts im Moment. Der Entstehung einer Szene zuzuschauen, kann ungeheure Freude bereiten, denn sie wird nicht von einem Spieler allein, sondern vom Team „geschrieben“, ohne dass ein Schreibprozess überhaupt stattfindet. Vielmehr hätte das Stück kein einzelner Spieler so schreiben können, wie wir es am Ende erlebt haben. Ich reagiere auf dein Angebot, du auf mein Angebot, ein dritter Spieler etabliert eine neue Sequenz, und so fort. Im Idealfall, wenn die Spieler formsicher und sensibel aufeinander eingehen, hat man einerseits fast den Eindruck, die Spieler hätten ein bereits existierendes Stück aufgeführt, andererseits bestaunt man während des Spiels das Geben und Nehmen, das Entstehen einer neuen Form.
Der wesentliche Genuss des Zuschauers besteht also in der Gleichzeitigkeit zweier Genüsse: Erstens dem Genuss von Inhalt und Form einerseits und zweitens dem Genuss, Zuschauer des komplexen Schaffensprozesses zu sein.1
1.2Freiheit und Bildung des Spielers
Wenn die Zuschauer es genießen, dem fließend-synchronen Entstehen von Text, Schauspiel und Inszenierung zuzusehen, so gilt dasselbe für die Spieler selbst, nur eben auf der Seite des Schaffens.
Ein Schriftsteller kann während des Schreibens oder danach Wörter austauschen, Sätze oder ganze Absätze streichen oder am Ende gar alles wegwerfen und von vorne anfangen. Wie anders ist da doch das Improvisieren auf der Bühne! Alles gilt in diesem Augenblick. Korrekturen sind nicht mehr möglich. Natürlich freuen wir uns, wenn wir eine Story auf die Bühne bringen, die die Zuschauer bewegt, die uns vielleicht selbst mitreißt und uns nachdenken lässt. Aber was das Improtheater vom geschriebenen Drama, vom Drehbuch oder der Kurzgeschichte unterscheidet, ist der Fokus auf den Flow, das Entstehen der Story. Als Improvisierer lieben wir das Werkeln oft mehr als das Werk, den Prozess mehr als das Produkt.
So sehr ich meine Arbeit als Schriftsteller mag – sie bleibt eine einsame Tätigkeit. Die überraschenden Wendungen einer Geschichte sind Produkte meiner Phantasie. Im Improtheater hingegen muss ich praktisch permanent mit den Angeboten meiner Mitspieler umgehen. Muss? Nein, ich darf! Was für Außenstehende wie totaler Stress erscheint („Wie kann dir denn dazu andauernd etwas einfallen, wenn der andere etwas sagt, was du nicht erwartet hast?“), ist für den Improvisierer ein Genuss. In Wahrheit sind diese Überraschungen, das Unerwartete ein Geschenk. Ich muss mich nicht selber überraschen, diese Arbeit leistet mein Mitspieler für mich. Und ich muss nur noch mit etwas reagieren, was mir als naheliegend erscheint, für meinen Mitspieler aber wieder sehr überraschend sein wird. Es gibt Szenen, in denen dieses gegenseitige Überraschen ein Ausmaß annimmt, dass es sich anfühlt, als würde man abgekitzelt.
Für die meisten Impro-Spieler ist Improtheater mit innerer Befreiung verknüpft. Dabei sind viele Impro-Spiele bei genauerer Betrachtung formal ziemlich restriktiv. Aber sie gewähren uns gerade dadurch inhaltliche Freiheit. Beim Improvisieren entstehen unglaubliche, manchmal geradezu absurde Inhalte, auf die man als Einzelner kaum kommen würde. Auch dass das Bewertende während des Spielens im Prinzip wegfällt, wird als Befreiung empfunden: Wo sonst, wenn nicht im Improtheater, erleben wir eine solche Atmosphäre des Nicht-Beurteiltwerdens? Improtheater hebt sich so für die meisten Spieler markant von ihrer Alltagserfahrung ab. Vor allem bei Neulingen ist dieser Kontrast enorm spürbar. Sie wirken auf Außenstehende oft wie Verzückte, die gerade ein Erweckungserlebnis hatten. Man sieht die Welt geradezu mit anderen Augen: Was passiert, wenn ich ja sage zu den „Angeboten“ der Umwelt und Mitmenschen? Was, wenn ich die kritische Skepsis fallen lasse? Wie erscheint die Welt der sozialen Interaktion, wenn ich sie durch den Filter des theatralen Status beobachte? Diese befreiende Erfahrung können sich auch erfahrene Spieler erhalten, wenn sie den Prozess des Impro-Lernens nie als abgeschlossen betrachten und gleichzeitig nachsichtig mit den eigenen Fehlern umgehen, wenn sie neue Formen und Inhalte suchen, ohne Gelerntes zu vergessen.
Ein Aspekt, der für Impro-Spieler von großer Bedeutung ist, aber mit dem eigentlichen künstlerischen Schaffensprozess nur indirekt zu tun hat, ist die Persönlichkeits-Bildung, denn die Tugenden, die wir im Improvisationstheater lernen und praktizieren, übertragen sich nach einer gewissen Zeit der Impro-Praxis unweigerlich auf die Persönlichkeit des Impro-Spielers.
Das Erste, was bei den meisten Impro-Schülern (egal wie alt sie sind) nachlässt, ist die Schüchternheit. Improtheater lebt vom kreativen Umgang mit Fehlern. Man feiert das Scheitern geradezu. Für manche ist das Impro-Spielen in einem Workshop das erste von Kritik befreite Handeln seit Jahren. Man erlebt hier Vertrauen, hat Spaß, wird für das, was man tut, geschätzt. Viele entdecken so nach langer Zeit, dass sie über eine kräftige Stimme verfügen, dass sie etwas zu sagen haben, dass es nicht schlimm ist, wenn man sich verspricht oder mal Unsinn verzapft. Dieses Selbstvertrauen wirkt natürlich zurück auf den Alltag.
Ein weiteres Beispiel: Für Impro-Spieler ist es unerlässlich, gut zuzuhören, denn sonst könnten sie ja nicht auf ihre Mitspieler eingehen. Zuhören zu können ist aber auch im Alltag eine wichtige Eigenschaft. Ob zuhörende Ärztinnen, Chefs, Eltern, Lehrerinnen, Ehepartner – praktisch in jedem Lebensbereich werden Menschen geschätzt, von denen man merkt, dass sie einem ihre Aufmerksamkeit widmen.
Drittens: Schauspieler brauchen eine hohe emotionale Flexibilität. Egal, wie es ihnen am Tag des Auftritts geht – sie müssen in der Lage sein, verschiedene Emotionen glaubwürdig zu verkörpern. Improvisierende Schauspieler müssen diese Emotionen aus dem Moment, aus der Notwendigkeit der Szene abrufen. Diese Flexibilität, wenn sie nur häufig genug im Alltag praktiziert wird, hat zur Folge, dass man eher in der Lage ist, sich in andere hineinzuversetzen, man entwickelt ein sensibleres Mitgefühl für seine Mitmenschen. Außerdem wird man nicht so leicht Opfer seiner eigenen Emotionen, das heißt, man wird sich eher über die Bedingtheit der Emotion im klaren: Wenn ich auf der Bühne in der Lage bin, meine Emotionalität blitzschnell zu ändern, warum soll das dann nicht auch im alltäglichen Leben geschehen?
Diese sozial und psychisch wertvollen Charaktereigenschaften – Zuhören, emotionale Flexibilität, Achtsamkeit für den Moment, Mut zum Unbekannten, spielerischer Umgang mit Fehlern, Großzügigkeit gegenüber anderen – werden durchs Impro-Spielen verstärkt. Improtheater hat eine quasi-therapeutische Wirkung.2 Diese Art von Selbsterfahrung sollte man nicht geringschätzen. Sie ist ein Grund, warum selbst Impro-Spieler, die wissen, dass ihr schauspielerisches Talent beschränkt ist, oft trotzdem dabei bleiben und ohne Publikum – lediglich in der Gruppe – improvisieren.
1.3Die Mitspieler – Inspiration und Kooperation
Die Freude an der gemeinsamen Kreativität finden wir zwar auch in vielen anderen Bereichen der Kunst.3 Aber im Improvisationstheater brauchen wir unsere Mitspieler nicht nur, sie sind Quelle unserer Inspirationen, sie transformieren das scheinbar Banale, das wir anbieten, zu magischer Größe.
Das Miteinander von Improtheater-Spielern ähnelt dem Spiel einer frei improvisierenden Jazz-Band. Auch hier unterstützen sich die Spieler, geben einander Halt und erschaffen gemeinsam Neues. Ein improvisiertes Stück ist nicht nur die Summe der einzelnen Teile, die jeder beiträgt. Jeder Mitspieler inspiriert mich auf eine andere Weise. Als guter Impro-Spieler stellt man sich auf jeden Mitspieler neu ein. Selbst wenn Paul dasselbe sagt wie Isabel, löst die Art, wie er es sagt, andere Assoziationen aus. Was und wie ich Paul antworte, ist hoffentlich überraschend genug für ihn, um mich wieder mit einer weiteren Überraschung zu beschenken.
Mit guten Impro-Spielern zusammenzuarbeiten, fühlt sich an, als würde man andauernd Liebes-Geständnisse bekommen und erwidern; denn was tun wir denn sonst, wenn wir die Angebote unseres Mitspielers akzeptieren, fortführen und ihnen Bedeutung geben – wir sagen ihm indirekt: „Danke für diese wunderbare Inspiration.“
1.4Synchronisierte Kreativität
Improtheater ist nicht die einzige Form der improvisierten Künste. Letztlich liegt jeder Kunst ein Stück Improvisation zugrunde. Jeder Künstler steht erst einmal vor dem Nichts – dem unbehauenen Stein, der leeren Leinwand, dem weißen Blatt, der Stille im Studio. Die Unterschiede zur „reinen“ Improvisation sind graduell: Wieviel Vorbereitung lasse ich zu? Wieviel Nachbearbeitung ist möglich?
Die prominenteste Schwester des improvisierten Theaters ist wohl die Musik, insbesondere der Jazz und – in Verbindung mit improvisierter Dichtung – der Freestyle Rap. Ähnlich wie im Improtheater arbeitet der improvisierende Musiker selten allein, sondern mit einer Band. Es existieren ähnliche Regeln: Höre zu, arbeite am Gesamtwerk mit, gehe kreativ mit Fehlern um usw.
Eines aber unterscheidet die Improtheater-Künstler von anderen improvisierenden Kollegen: Sie improvisieren auf mehreren künstlerischen Feldern gleichzeitig. Sie sind Schauspieler, Geschichten-Erfinder, Regisseure, Text-Autoren, abhängig vom Format oder improvisierten Stück oft auch Sänger, Komponisten, Tänzer, Choreographen, Lyriker. Im besten Fall entsteht so mit leichter Hand ein improvisiertes Stück, das die Zuschauer und die Künstler gleichermaßen fasziniert.
Ein großer Teil dieser Faszination liegt darin, dass Improtheater eigentlich die ungeheure Anmaßung der Künstler ist, all diese Ebenen tatsächlich zu beherrschen. „Wie ist das überhaupt möglich?“, fragt man sich manchmal nach einer Improtheater-Show, sowohl als Zuschauer aber auch als Spieler.
Wir entwickeln schauspielerisch Figuren, die es noch nie gegeben hat und nie wieder geben wird. Die Vorbereitungszeit für diese Figur beträgt nicht, wie bei unseren nicht-improvisierenden Schauspiel-Kollegen, mehrere Wochen oder Monate, sondern eine halbe Sekunde. Wenn wir anfangen nachzudenken, haben wir den Moment schon verloren. Jedes nachträgliche Anpassen oder Korrigieren würde für den Zuschauer zerstören, was er bereits gesehen hat.
Wir erschaffen gemeinsam mit unseren Bühnenpartnern Storys, die ebenfalls einmalig sind. Das geschieht nicht, indem wir diese Storys vorher skizzieren und verabreden, sondern dadurch, dass wir durch unsere Kenntnis und unser Gefühl von Story-Strukturen die Geschichten einladen, sich zu entfalten.
Die Szenenwechsel, die Auf- und Abgänge, die Bewegungen der Figuren auf der Bühne, sind ebenfalls nicht einstudiert, sondern entstehen organisch. Als geübter Impro-Spieler spürt man den Rhythmus einer Szene, erkennt ihren Bogen, nimmt ihre Dynamik wahr.
1.5Interaktion mit dem Publikum
Improvisationstheater ist heute fast immer interaktiv. Offensichtlich wird dies, wenn die Schauspieler das Publikum nach Vorschlägen oder Vorgaben für eine Szene fragen: Die „vierte Wand“ wird gebrochen. In dieser Situation spielen die Schauspieler keine Rolle, sie sind einfach nur die Schauspieler, die sich mit dem Publikum auf die Improvisation vorbereiten. Der Kunst wird hier der Heiligenschein genommen, die Schauspieler rücken den Zuschauern näher. Sie sind diejenigen, die (stellvertretend für die Zuschauer) das Wagnis der Improvisation eingehen.
Das Publikum wird durch die Vorschläge auch konditioniert, genauer gesagt, das Zuschauen des Publikums wird konditioniert. Als Zuschauer fragen wir uns, ob es den Schauspielern gelingen wird, die Eifersuchts-Szene, wie vorgegeben, komplett gereimt vorzutragen, und dann auch noch an einem Königshof. Umso größer die Freude, wenn es tatsächlich funktioniert. Die Freude verdoppelt sich zudem für diejenigen Zuschauer, die die Vorschläge abgegeben haben, denn ihnen wird ein persönlicher Wunsch erfüllt. Alle Zuschauer sind mit der vorschlagenden Person verbunden. Man wünscht auch diesem einzelnen Zuschauer, dass die Szene gelingen möge. Und wenn die Szene schließlich vorbei ist, gibt es ein kollektives Gefühl, dass sich etwas erfüllt hat, der Kreis hat sich geschlossen.
Nun gibt es aber durchaus Improvisations-Formate, die ganz ohne Publikums-Vorschläge auskommen oder in denen die Interaktion nur eine sehr geringe Rolle spielt: Stell dir vor, du kommst in eine Theatervorstellung und bist eine halbe Minute zu spät. Das Stück ist großartig. Ist es nun am Ende für dich von Bedeutung, ob es improvisiert war oder nicht? Diese Frage, der man manchmal als in Diskussionen über Improvisation begegnet, führt in die Sackgasse, denn entscheidend im Improtheater (wie auch in anderen improvisierten Künsten) betrachten wir nicht das Produkt vom Ende her, sondern immer als Prozess. Insofern spielt das Wissen, dass dieses Stück improvisiert ist ganz sicher während der Performance eine Rolle. Denn das Improvisieren selbst schafft die bereits erwähnte Doppelbindung, die dem gescripteten Theater nur in Ausnahmefällen gelingt. In einem geschriebenen Stück sind wir viel tiefer in die Handlung involviert, die Schauspieler verschwinden hinter ihren Rollen. Und da, wo die Regie das zu konterkarieren versucht, etwa durch den Brechtschen Verfremdungseffekt, sehen wir dann eben den Regisseur oder den Autor hervortreten. Im Improvisationstheater hingegen sind wir sowohl an die Figur und die Handlung als auch an die Improvisierer und den Improvisationsprozess gebunden. Wir fragen uns als Zuschauer nicht nur: „Wird der Kleptomane seiner Frau die Wahrheit sagen?“, sondern wir wollen auch wissen: „Welche Entscheidungen treffen die Improvisierer jetzt?“ Diese zusätzliche Denkspur läuft (mal mehr, mal weniger bewusst) immer mit. Man ist daher als Zuschauer in einem improvisierten Stück oder einer improvisierten Szene nicht nur am Fortgang der Handlung oder der Dichte der Dialoge interessiert, sondern man genießt obendrein den Flow, in dem das Spiel improvisiert wird. Insofern ist Improtheater selbst ohne Publikumsvorgaben deutlich interaktiver als das konventionelle Regie-Theater.
1 Bertolt Brecht kritisierte das Theater seiner Zeit als zu rauschhaft, es wolle die Zuschauer nur in ein emotionales Auf und Ab stürzen; der Zuschauer würde zu sentimental in die Erlebniswelt der Charaktere eingesogen. Bei Brecht sollten die Zuschauer nie vergessen, im Theater zu sein. In gewisser Weise hat Improtheater diesen Ansatz radikalisiert. Der Zuschauer ist hier in einer permanenten Doppelbindung: Man geht mit den Figuren und der Story mit, und auf der anderen Seite beobachtet man gleichzeitig den Prozess des Erschaffens dieser Figuren und der Story.
2 Zum Thema Improtheater als Therapie siehe Improvisationstheater. Band 11: Impro überall
3 Man denke nur daran, wie lange heutzutage im Abspann eines Kinofilms über nahezu sämtliche Berufszweige des Film-Business informiert wird. Die wichtigsten kreativen Künstler – der Drehbuch-Autor, der Regisseur und die Schauspieler arbeiten nicht gleichberechtigt und nicht synchron an dem Werk. Manchmal ist für den Schauspieler nicht einmal die Anwesenheit des Dialogpartners nötig.