Loe raamatut: «Wenn die Nacht in Stücke fällt»

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Über dieses Buch

In einem persönlichen Brief an den ­großen Maler Ferdinand Hodler erzählt Daniel de Roulet von der Fas­­zination, die er für die Gemälde dieses Künstlers hat, insbesondere für die berühmten Bilder seiner sterbenden Geliebten ­Va­­len­tine.

Hodler war bereits ein erfolgreicher Künstler, als er der Pariserin Valentine Godé-Darel begegnete. Sie stand ihm Modell, sie verliebten sich, bekamen ein Kind. Dann erkrankte Valentine an Krebs. In mehreren hundert Bildern, Skizzen und Zeich­nungen hielt der Maler das Leiden und Sterben seiner Geliebten fest. Ein in der Kunstgeschichte einzigartiges Ereignis und ein berührendes Denkmal für Valen­tine.

Die Begegnung und die leidenschaftliche Liebe zu Valentine wurden entscheidend für Hodler. Sie war es, die ihn inspirierte und beeinflusste, durch sie fand er zu seiner späten ­Freiheit und schuf ein Werk, das uni­verselle Gültigkeit hat. In eleganten Sätzen verteidigt Daniel de Roulet diese ­Liebe ebenso, wie er für den Maler eintritt gegen politische Vereinnahmungen und plakative feministische Kritik.


Foto Yvonne Böhler

Daniel de Roulet, geboren 1944, war Architekt und arbeitete als Informatiker in Genf. Seit 1997 Schrift­steller. Autor zahlreicher Romane, für die er in Frankreich mit ver­­schiede­nen Preisen aus­gezeichnet wurde. Im Limmat Verlag sind elf Bücher in deutscher Übersetzung erschienen, zuletzt «Zehn un­be­­­küm­merte ­Anarchistinnen». Daniel de Roulet lebt in Genf.

Daniel de Roulet

Wenn die Nacht ­in Stücke fällt

Ein Brief an Ferdinand Hodler

Aus dem Französischen von Barbara Traber

Limmat Verlag

Zürich

Lieber Monsieur Hodler

Ich habe beschlossen, Ihnen einen langen Brief zu schreiben, und nehme Ihren hun­dertsten Todestag zum Anlass. Seit einem guten Vierteljahrhundert beschäftige ich mich mit Ihnen. Eine Freundin pflegt zu sagen: «Um kreativ zu sein, muss etwas den Sitz des Denkvermögens einnehmen.» Eines Tages habe ich in Basel das Gemälde entdeckt, das eine Frau, Ihre Geliebte, im Todeskampf zeigt. Valentine richtet ihren flehenden Blick auf Sie. Ihr Gesicht hat schon etwas Leichenhaftes, Sie haben diesem ein grau­sames Grün gegeben. Später habe ich erfahren, dass Sie sie mehrere Hundert Male gemalt und gezeichnet hatten. Sie haben über sie gewacht, sich um sie ge­sorgt, sie geliebt. Sie haben das Fortschreiten ihrer Krankheit auf ihrem Mund, an ihren Händen auf den zerknüllten Leintüchern genau beobachtet. Als das Ende nahte, sind Sie jeden Tag mit Ihrem Malzeug von Genf nach Vevey gefahren. Ich kenne keine ehrlichere Haltung für einen Künstler als diese Hart­nä­ckig­keit, sich einem Leben zu stellen, das aus­ge­löscht wird.

Indem ich mich an Sie wende, möchte ich anderen erklären, warum Guillaume Apol­linaire Sie als «ei­nen der größten Maler dieser Epoche» gewürdigt hat. Fasziniert von Ihrer Liebe zu Valentine, habe ich einige Fragen. Bisher habe ich gezögert, Ihnen diese öffentlich zu stellen. Ich finde sie zu intim, und Sie sind ohnehin nicht mehr da, darauf einzugehen. Ich werde deshalb die Antworten selber suchen müssen und dabei auch Ihre Bilder zurate ziehen. Ich lege ­zu­dem Wert darauf, Sie gegen gewisse Personen zu verteidigen, die behaupten, Sie hätten Valentine zu einem Objekt, nicht einem Subjekt gemacht.

Wie Sie liebe ich die Sonnenaufgänge über der Genfer Bucht, wenn der Mont-Blanc aus dem nächtlichen Nebel auftaucht. Auf Ihrem Balkon im zweiten Stock warteten Sie im Sessel, in dem Sie Ihre letzten Nächte verbrachten, auf den ersten Sonnenstrahl.

Von dort aus, stelle ich mir vor, werden Sie meine Fragen beantworten, nicht durch Reden, sondern mit einigen Pinselstrichen, die die Schönheit der Morgendämmerung und die Pracht der Berge, die sich im See widerspiegeln, einfangen.

Um meinen Freunden verständlich zu machen, warum meine Gedanken ständig um Sie kreisen, wer­de ich Ihnen Dinge über die Art, wie Sie der Welt durch die Malerei begegnen, schreiben, die Sie be­reits wissen. Wenn man sich sein Leben erzählt, bringt man es in eine Ordnung, auch wenn es in Wirklichkeit un­­ge­ordneter ist als die Biogra­fie. Ich werde also sagen, wie Sie gelebt haben, obwohl Sie nichts mehr berichtigen oder erklären können. Ich werde Ihnen Fragen stellen, die andere rhetorisch finden werden.

Nein, Monsieur Hodler, ich bin nicht verschroben. Nach so vielen Jahren an Ihrer Seite versuche ich das, was ich Ihnen verdanke, klarzustellen: Warum die Porträts einer Sterbenden mir geholfen haben zu leben. Porträts, die ich so oft angeschaut habe, dass mir meine Augen wehtaten, manchmal auch wegen zu vieler Tränen.

Sie sind am Pfingstsonntag, 19. Mai 1918, gestorben, als das Ende des Ersten Welt­kriegs noch nicht abzusehen war. Ich habe nachgeschaut, das Wetter war an je­nem Tag heiter. Zu dieser Zeit im Jahr be­­gin­­nen die morgendlichen Schwimmer, die glatte Oberfläche des Sees aufzuwühlen. Manchmal bin ich in der Morgen­dämme­rung der einzige Schwimmer in den Bains des Pâquis. Während ich ans Ufer zurück­kehre, schaue ich zu Ihrem Balkon hinauf. Es kommt mir vor, als seien Sie immer noch dort, in Decken ge­hüllt, aus denen nur Ihre müden Arme und ein Pinsel heraus­ragen.

Ich habe nicht vor, Sie über alle Maßen zu loben, bin nur ein Bewunderer, weder Kunstkritiker noch Biograf. Viele Einzelheiten in Ihrem Leben und Ihrem Werk sind für mich uninteressant. Ich überlasse sie dem exaltierten Patrioten, der die größte Sammlung besitzt, für seine Reden. Das Meiste, was ich über Ihren Alltag und Ihr Werk weiß, habe ich von einem jungen Schriftsteller erfahren, der Sie in Ihren letz­ten Jahren begleitet hat. Er hat sich vieles notiert, ich habe geglaubt, ihm vertrauen zu können. Dass er ein mutiger Mensch ist, hat er im Kampf gegen den spanischen Faschismus bewiesen. Dank diesem Hans Mühlestein, dem Sie einen Teil Ihrer Geheimnisse vor­enthalten haben, werde ich versuchen, Ihre Wutausbrüche zu verstehen und warum Sie das Leben malten, indem Sie den Tod zeichneten. Um herauszufinden, wie ich meines führen soll, werde ich mir einige peinliche Bemerkungen erlauben. Nehmen Sie mir das nicht übel, wenn alles gut geht zwischen uns, werde ich auf dem Friedhof Saint-Georges drei rote Rosen, das heimliche Zeichen Ihrer Liebe zu Valentine, auf Ihr Grab legen.

Vom Formen einer Büste

Valentine Godé-Darel ist für Sie weder ein Modell noch eine Geliebte wie jede ande­re gewesen. Sie war nach einer gescheiterten Ehe mit einem Professor an der Sorbon­ne, der sich mit seiner Spielsucht ruiniert hatte, nach Genf gezogen. Sie waren etwa so alt wie ihr Vater. Man hatte bei ihr eine Krankheit diagnostiziert, die sie dahinraffen würde. 1914 war sie die ers­ten sechs Monate in der Klinik von Riant Mont ans Bett gebunden. Hier besuchten Sie sie zunächst Tag für Tag und brachten Ihren Malkas­ten mit. Sie nahmen den Zug nach Lausanne, der um ein Uhr in Genf abfuhr.

Eines Abends im Februar 1914 war Sie der sechsundzwanzigjährige Hans Mühlestein wie immer am Bahnhof ab­holen gekommen. Er hat an Ihnen eine besondere Trauer, eine extreme Niedergeschlagenheit be­merkt. Sie waren nur sechzig Jahre alt.

Valentine sollte operiert werden. Sie ertrug es nicht mehr, Sie auch nicht. An die­sem Tag hatten Sie sich beim Arzt nach dem Gesundheitszustand von Madame Darel erkundigt. Er hatte Ihnen die Wahrheit gesagt, die keine Hoffnung übrig ließ. Valen­tine sollte nichts gesagt werden, selbst wenn Sie annahmen, dass sie ihr Los kannte.

In Ihrem Atelier im obersten Stock an der Rue du Rhône haben Sie die Mappe mit den täglich an ihrem Bett gemachten Zeichnungen geöffnet: Aquarelle und Dutzende von Skizzen für Bilder. Von heftiger Wut er­griffen, wollten sie diese zerreißen. Müh­lestein wird Ihre Worte überliefern: Das sei «alles nur Lüge und Dreck». – «Dieser schöne Kopf, diese ganze Figur, wie eine byzantinische Kaiserin auf den Mosaiken von Ravenna – und diese Nase, dieser Mund – und die Au­gen, auch sie, diese herrlichen Augen – all das werden die Würmer fressen! Und nichts davon wird übrigbleiben, nichts, rein nichts! Etwa dieses Zeug da –?» Das seien «Fetzen Papier», und all das Gemalte nichts als «beschmierte und verdreckte Hudeln und Lumpen!».

Sie setzten dem armen Hans zu: «Kann man sie denn da mit Händen greifen? – kann man diese Fetzen und Lumpen so in die Arme nehmen?» Sie breiteten die Arme aus, als würden Sie einen Körper umarmen, ihn an sich drücken. Sie gestikulierten, schrien laut: «Kann man sie so in die Arme nehmen?»

Pathetische Gesten, um den Verlust, der sich ab­zeichnete, zu beschwören. Sie ta­ten, als würden Sie Valentine an sich drücken, sie liebkosen, dann stießen Sie sie hef­tig weg. Das Verlangen, sie ganz nah zu haben, war übermächtig. Hans ist erschro­cken, Ihre Wut beeindruckte ihn. Er hat Ihnen vorgeschlagen: Und wenn Sie eine Büste machten, von ihr? Sie haben innegehalten, ein Lächeln angedeutet: Hans, glaubst du, ich wäre dazu fähig? Nach kurzem Überlegen: Sollte ich nicht zuerst Vi­bert fragen?

Da Hans fürchtete, Ihr Freund, der Bildhauer ­Ja­mes Vibert, könnte Sie umstim­men, hat er Sie überzeugt, dass Sie zu einer Skulptur fähig seien, auch wenn sie noch nie eine gemacht hatten.

Nur keine Zeit verlieren. Hans hat Anweisungen bekommen, zum Laden an der Rue du Mont-Blanc, wo Sie Ihr Material kauften, zu gehen, sobald er öffne, alles zu beschaffen, was für eine Skulptur nötig sei und es zum Ein-Uhr-Zug zu bringen.

So war alles vorbereitet. Sie waren bereit, Bildhauer zu werden. Geben Sie zu, am Morgen gingen Sie bei Ihrem Freund Vibert vorbei, um sich einige Ratschläge zu holen.

Eine Woche lang haben Sie unter Hochdruck ge­­arbeitet. Sie hatten die Erlaubnis, Valentine eine halbe Stunde posieren zu lassen, während eine Kranken­schwester sie stützte, damit ihr Torso wie auch ihr Kopf aufrecht blieben. Danach machten Sie aus dem Ge­­dächtnis weiter.

Jeden Abend erwartete Sie Hans am Bahnhof. Sie kamen erschöpft an. Selbst die größten Gemälde hatten Sie nie in einen solchen Zustand versetzt. Sie ­hatten gerade noch die Kraft, Seufzer auszustoßen, während Hans Sie bis zu Ihrer Wohnung am Quai du Mont-Blanc begleitete.

Am Tag, als Sie Ihre Arbeit für abgeschlossen hielten, hat Hans Sie am Bahnhof mit einem Pferdewagen abgeholt. Aus Angst vor der leichtesten Erschütterung des Fahr­zeugs hielten Sie das wertvolle Paket, in feuchte Tücher eingehüllt, auf Ihren Knien. Sie berührten die Oberfläche des Bündels so zärtlich, als handle es sich um Valenti­nes Haar.

In Ihrem Atelier unter dem Dach haben Sie die Skulptur vorsichtig ausgepackt, sie auf Augenhöhe auf ein Jutetuch gestellt. Hans war von der Ähnlichkeit mit Valentine überwältigt, Sie nicht minder.

Sie haben den Abend mit Ihrem jungen Bewunderer verbracht, der behaupten wird, mit Ihnen nie mehr solche Momente erlebt zu haben. Es war, als sei Valentine anwe­send. Sie riefen sich die Anatomiestunden bei Professor Carl Vogt ins Gedächtnis, die Art, wie er die Leichen öffnete, um Ihnen zu zeigen, wie sie gebaut waren. Sie beeindruckten Hans, in­dem Sie von den Würmern redeten, die die Leichen fressen, und von Ihrer absoluten Überzeugung: Nur die Körper und die Erinnerung an Umar­mungen exis­tieren, die Toten haben keine Seele mehr.

Am nächsten Morgen haben Sie einen Fotografen kommen lassen, da Sie fürchte­ten, die zerbrechliche Tonerde halte nicht lange. Selbst Materialist, fehlte Ihnen die Erfahrung, wie man die Materie und ihre Form konserviert. Sie warfen sich Ihre dop­pelte Un­fähigkeit vor: unfähig, Valentine unter den Lebenden zu halten, unfähig, ihre Büste zu bewahren.

Die zwei Fotos, einzige Zeugnisse der verliebten Geste, gaben Ihre Arbeit schlecht wieder. Danach ha­ben Sie einen Abdruck gemacht, zuerst aus Gips, dann in Bronze. Vergeblich. Die Skulptur hat sich bis zur Lächerlichkeit verformt. Der Kopf hatte sich ge­streckt, die Nase auch, die Stirn senkte sich, die Lippen verzo­gen sich mit fei­nen Rissen. Als Sie die Schäden reparieren wollten, haben Sie neue produziert.

Sie waren entmutigt, gezwungen, zu Ihren Zeich­nungen und Bildern zurückzukeh­ren. Sie hatten nur noch die glatten Oberflächen, um zu versuchen, das Leben zu­rückzuhalten, solange es in den Zügen Ihrer Liebsten weiter bestehen würde.

Hans Mühlestein berichtet die Szene so gut, dass ich nichts ändern muss. Lange habe ich geglaubt, dass Sie zur Zeit dieser misslungenen Skulptur Valentine erst seit Kurzem kannten. Ich habe nur mit Mühe Ihre erste Begegnung mit ihr rekonstruieren können, weil ich der Aussage dieses Zeitgenossen geglaubt habe.

Der frühe Tod

Sie werden sehr früh mit dem Tod konfrontiert. Bei der Beerdigung Ihres Vaters auf dem Friedhof in La Chaux-de-Fonds sind Sie fünf Jahre alt. Er war tu­ber­kulose­krank, Schreiner, hatte sich ein Jahr zuvor mit seiner Familie in den jurassischen Ber­gen nieder­gelassen. Sie hatten gerade knapp Zeit gehabt, Französisch zu lernen. Ihr Vater hinterlässt vier Knaben, ein Mädchen und kein Geld. Sie, der Älteste, sind in Bern geboren.

Margarete, Ihre mittellos gewordene Mutter, ­hei­­ratet drei Jahre später einen sieben­und­vier­zig­jährigen Witwer, der in Thun den Beruf eines Malerdekorateurs ausübt. Er ist Vater von vier Mädchen und einem Jungen. Das neue Ehepaar hat zusammen drei weitere Buben. Wenn ich richtig zähle, wart Ihr dreizehn Kinder. Sie verlassen diese Welt sehr früh. Jedes Jahr oder sogar mehrmals pro Jahr müssen Sie sich die Leiche eines Ihrer jüngeren Geschwister ansehen.

Ihr Schwiegervater kann die Überlebenden nicht ernähren, beginnt zu trinken. Mit dreizehn Jahren übernehmen Sie seine Malerwerkstatt, während Ihre am Leben ge­bliebenen Brüder und Schwestern durch das Sammeln von Holz in den Wäldern ein bisschen Geld verdienen. Im Jahr darauf bricht die Tuberkulose auch bei Ihrer Mut­ter aus. Einer Frau von neununddreißig Jahren, von der Sie sagen, sie sei stark und fröhlich gewe­sen. Bevor sie krank wurde, sang sie den ganzen Tag. Nachts werden Sie von ihren Schmerzensschreien geweckt, gehen an ihr Bett, beobachten sie, wie Sie später das zunehmende Leiden auf dem Gesicht von Valentine verfolgen.

Jeden Morgen steht Ihre Mutter auf, um sich um die Kinder zu kümmern. Bis zu jenem Tag im März 1867, Sie waren vierzehn Jahre alt. Sie arbeitet auf den Feldern außerhalb der Stadt, bricht plötzlich zusammen. Sie, das Kind Ferdinand, legen die Leiche auf einen Karren. Mit Ihren Brüdern und Schwestern bringen Sie sie nach Hau­se. Ich stelle mir den Umzug der Kinder vor, die weinend hinter den sterblichen Überresten ihrer Mutter durch die Vororte von Thun ziehen. Hat sie die Augen noch geöffnet oder hängen die Arme aus dem Karren? Danach wird keiner Ihrer Brüder das Erwachsenenalter erreichen. Was Ihre Kindheit betrifft, sagen Sie: «In der Fami­lie war der Tod allgegenwärtig. Ich glaube, am Ende hatte es immer einen Toten im Haus, als müsse das so sein.»

Ihr Stiefvater erträgt den Tod seiner Frau nicht, bringt alle seine Kinder bei Ver­wandten unter. Sie, Ferdinand, vertraut er einem Lehrmeister an. Dann packt er seine Koffer und zieht nach Amerika. An­fänglich scheint es, er komme davon, er meldet sich bei den Hinterbliebenen. Zwei Jahre nach seiner An­kunft in Boston erfahren Sie, er sei gestorben.

Ihr Leben beginnt im Zeichen des Todes. Man weiß, dass dieser uns einholt, aber in Ihrem Fall wird man sagen, er sei Ihnen vorausgegangen. Deshalb prägt er alle Ihre großen Werke. Niemand schaut ihm so oft ins Gesicht wie Sie.

Die Begegnung

Am 14. März 1913 hat die französische Regierung Sie anlässlich Ihres sechzigsten Geburtstags zum Offizier der Ehrenlegion ernannt. Berthe, Ihre Frau, hat Ihnen vor­geschlagen, in Paris eine Dankesvisite ab­zu­statten. Sie behauptete, das sei für Ihre Karriere nötig, und da Sie Ihrerseits einige Fragen zu Bildern von Courbet und Ingres stellen wollten, haben Sie sich auf die lange Reise gemacht.

Nachts hatten Sie wenig geschlafen. Am Morgen, als der Botschaftssekretär Sie am Gare de Lyon abholen kam, haben Sie sich gefragt, was Ihnen nur einge­fallen war, auf diese Rückkehr nach Paris einzugehen.

Das Tagesprogramm war für Sie organisiert worden. Erst am Abend, auf der Ter­rasse einer Brasserie in Montparnasse, haben Sie endlich Ihr Skizzenheft hervorneh­men können, um zu zeichnen, was Ihnen der Mühe wert schien in Paris: die Parise­rin­nen, ihre erstaunlichen Hüte, ihre elegante Erscheinung, zielstrebig in ihren Stie­feln. Sie waren allein. Berthe ­wartete im Hotel in der Nähe auf Sie. Der Kellner hat Ihnen eine Decke angeboten, die Sie abgelehnt ha­ben. Sie beobachteten die Hand­griffe eines Straßenla­ter­nenanzünders. Mit seiner Stange glich er einem Landsknecht mit seiner Hellebarde. Sind Sie Maler?, hat eine Frau gefragt, die auf dem Trottoir vorbeiging.

Die Krümmung ihrer Nase ist Ihnen aufgefallen. Sie war ein Musterexemplar der Stadt, weiße Bluse, schwarzes Gilet, die Haltung ihres Kopfes hatte etwas Amerikanisches. Sie haben ihr nicht geantwortet. Vielleicht wegen Ihres Ak­zents, der Sie als Auslän­der verraten hätte. Oder aber weil Sie diese indiskreten Frau­en von schlechtem Lebenswandel, die sich auf den Pariser Trottoirs herumtrieben, verabscheuten. Sie hat nicht auf einer Antwort bestanden, sich et­was weiter weg hin­gesetzt, Ihnen ihr Profil zugekehrt.

Ohne zu überlegen, haben Sie in Ihrem Heft ge­blättert und dann in wenigen Stri­chen die Skizze der Unbekannten beigefügt, als hätten Sie ihre Frage be­antworten wollen: Ja, Madame, ich bin Maler.

Sie hat den Kopf mit einem halben Lächeln Ihnen zugewandt und Ihnen dadurch erlaubt, weiterzuzeichnen, aber Sie mochten nur richtige Posen, und die Fremde hatte sich gerade bewegt. Auf den Terrassen in Montparnasse gab es wenige Frauen ohne Be­gleitung. Im Allgemeinen warteten sie auf jemanden, der sich verspätet hatte, oder suchten Klienten. Einige boten sich als Modell an, was meist mit einem aus­schwei­fenden Leben verbunden war. Berthe erwartete Sie, Sie haben dem Kellner ein Zei­chen gegeben, dass sie zahlen wollten. In diesem Moment hat sich die Dame, die Sie gezeichnet hatten, Ihrem Tisch ge­nähert und Ihnen mit einem Lächeln ihre Visiten­karte entgegengestreckt: Es würde mich nicht stören, Ihnen Modell zu stehen.

Erneut sind Sie sprachlos geblieben, haben die Kar­te mürrisch mit einem kaum wahr­nehmbaren Ni­cken in die Tasche gesteckt. Sie war schon gegangen.

Am nächsten Tag im Louvre vor einem Gemälde von Ingres, als Sie Ihr Heft geöff­net haben, um ein Detail zu kopieren, ist die Visitenkarte herausgefallen. Nehmen wir an, es handelte sich um Valentine Godé-Darel mit einer Adresse im sechsten Ar­ron­disse­ment. Das gelang Ihnen nicht oft, mit drei Strichen jemanden, der vorbei­ging, zu zeichnen. Sie ­ha­ben an das große unvollendete Bild in Ihrem Atelier in Genf gedacht, das Sie Blick in die Unendlichkeit nannten. Es fehlte dort noch eine weibliche Person. Und da, vor dem Gemälde von Ingres, haben Sie die Intuition gehabt, diese Lücke könnte durch die ­Pariserin, die Sie am Abend zuvor in Montparnasse gesehen hatten, gefüllt werden.

Zurück im Hotel, während Berthe schon die Koffer für den nächsten Tag packte, haben Sie ihr vorgeschlagen, einige Tage in Paris zu bleiben. Sie war darüber er­staunt, erfreut, nochmals Ihr Geld für Kin­­kerlitzchen in den Läden der großen Bou­levards ausgeben zu können.

Sie haben einen Laufburschen geschickt, ein Atelier in der Grande Chaumière zu reservieren, dann zu der Dame, deren Adresse Sie hatten – Rue Saint-Benoît –, um ihr eine Sitzung vorzuschlagen. Je schneller desto besser.

Am Tag darauf hat dann die erste richtige Begegnung stattgefunden. Nach zwei Stunden, in denen Sie sie gezeichnet haben, als säße sie immer noch auf der Terrasse von Montparnasse, haben Sie die Dame zu einem Glas Wein eingeladen und ihr vor­ge­schla­gen, am nächsten Tag nochmals zu kommen. Das war ihr unmöglich. Sie ha­ben nicht zu fragen gewagt, woher der melancholische Schleier komme, den Sie in ihrem Blick gesehen hatten. Sie lächelte ihnen zu, Sie sagten Plattitüden. Später haben Sie erfahren, dass sie eben eine schmerzhafte Scheidung hinter sich hatte.

Monsieur Hodler, diese Frau hat Sie eingeschüch­tert. Sie haben über sich gespro­chen und abschließend gesagt: Entschuldigen Sie, Madame Darel, ich rede und rede … Ausgerechnet Sie, von dem alle sagten, Sie seien wortkarg, unwirsch, «unfähig, einen Satz zu beenden», Sie haben Ihre Projekte und zu­letzt das erwähnte Bild in Genf geschildert. Sie hat nur einige Bemerkungen gemacht, aus denen klar geworden ist, dass sie über Ihre Kunst und die Theorie der Malerei mehr wusste als Sie. Sie kannte die Werke der meisten Ihrer Zeitgenossen, sodass Sie gedacht haben, sie male ebenfalls, wagten aber nicht, sie danach zu fragen.

Über die Frauen haben Sie festgefahrene Meinungen gehabt. Die einen waren schö­ne Modelle, mit denen Sie die Sitzungen im Atelier gerne in schnelle Um­­armungen verlängerten, die Liste der Namen wäre lang. Die anderen Blaustrümpfe, verklemmte, gebildete Spieß­bürgerinnen, aber unattraktiv. Zum ersten Mal begegneten Sie einer Frau, die Sie gleichzeitig wegen ihrer Schönheit «einer byzantinischen Kai­se­rin» auf einem Mosaik in Ravenna und wegen ihrer Intelligenz faszinierte. Valentine hat Ihre Vorstellung der weiblichen Welt durcheinandergebracht. ­

Es hat nur eine Skizze in Montparnasse und zwei Sit­zun­gen mit ihr als Modell in der Grande Chaumière ge­braucht, um zu verstehen, wie Ihnen geschah. Des­halb Ihr Vorschlag: Madame, wür­den Sie nicht einige Tage nach Genf kommen? Antwort: Monsieur Hodler, ich glaube nicht, die Frau zu sein, die Sie su­chen, aber wenn ich Ihnen damit eine Freude be­rei­ten kann …

Später hat sie behauptet, Sie seien leicht verwirrt gewesen, bevor Sie entgegneten: Oh doch. Sie haben so getan, als hätten Sie von ihr keine Antwort bekommen, als Sie sie verließen, als wüssten Sie nicht, ob Sie sie je wiedersehen würden. Bis zu dem Tag, an dem Sie von ihr ein Briefchen erhalten haben.

Tasuta katkend on lõppenud.