Loe raamatut: «Das Geheimnis der Väter», lehekülg 2

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Jakob Chrumm

Neele lachte so herzlich, nachdem ich diese Geschichte erzählt hatte, dass sie sogar ihr Grübchen vergaß. «Ich war wirklich beeindruckt: ein Pool – cool!»

Wir lachten und stießen auf den Pool an.

Während wir über die alten Zeiten geplaudert hatten, hatte die Party mächtig Fahrt aufgenommen. Von drinnen sahen wir, wie sich einige Männer bis auf die Unterhose auszogen und unter lautem Gegröle ins Wasser sprangen. Die sündigen drei standen am Rand des Schwimmbeckens und sahen dem Treiben kreischend zu. Jemand fand einen riesigen aufblasbaren Wal und warf ihn ins Becken. Die Dreierbande trompetete. Da hatte endlich jemand genug von der Koketterie, schnappte sich kurzerhand die Blondine und warf sie vollbekleidet ins Wasser. Die übrigen zwei wieherten umso lauter, wodurch sich zwei weitere Männer ermutigt fühlten, sie ebenfalls ins Becken zu schubsen.

Bei diesem Anblick erzählte Neele, wie froh sie sei, dem Kleinstadtleben entflohen zu sein. Sie hatte beschlossen, ihre Arbeit als Sekretärin im Westfälischen aufzugeben und zurück nach Berlin zu ziehen. Durch Zufall hatte Kathi sie genau zu diesem Zeitpunkt in einem Internetportal wiedergefunden.

«Seit zwei Wochen bin ich nun hier, und mein Arbeitsplatz – ich versuch’s erst mal wieder als Sekretärin – ist schon vollständig eingerichtet, was man von meiner Wohnung nicht gerade behaupten kann.»

Ich konnte es nicht fassen. «Seit zwei Wochen? Und da wartest du bis jetzt, um mich …», ich stockte, «… um uns alle wiederzutreffen?»

Neele kaute auf ihrem Strohhalm herum und sah mich an. Die Wasserfreunde stiegen aus dem Pool und watschelten pitschnass zu uns ins Haus. Blondi stand mit einem der Männer tropfend vor der Toilette an, was die anderen aus der Schwimmgruppe zu zweideutigen Bemerkungen anstachelte.

Ich hätte mich noch stundenlang mit Neele unterhalten können, doch sie schaute nachdenklich aus dem Fenster. Das erste zarte Blau des Morgens zeichnete sich bereits am Himmel ab. Ein neuer Tag brach an.

«Es war ein wunderschöner Abend. Danke!»

«Er ist noch nicht zu Ende», erwiderte ich.

Sie legte ihre Hand auf meine Schulter. «Doch.» Sie sah mich nicht an. «Leider», fügte sie hinzu, bevor sie sich abwandte.

Ich wollte ihr folgen, aber Tom kam mit einer Schnapsflasche angelaufen und hielt mich fest. Hastig stürzte ich ein Glas hinunter und schob ihn zur Seite. Doch Neele war bereits im Morgengrauen verschwunden.

In dieser Nacht fand ich keine Ruhe. Ich wanderte ziellos durch meine stille Wohnung, die mir in dem fahlblauen Licht der Nacht unwirklich erschien. Erinnerungen besetzten meinen Kopf und verweigerten dem Schlaf den Zutritt. Seltsamerweise waren es nicht so sehr die Gedanken an Neele, die mich nicht schlafen ließen, sondern eher jene an meine Familie. Wieder und wieder ging mir durch den Kopf, wie meine Mutter meinen Stiefvater kennengelernt hatte.

Jakob Chrumm, 1981

«Am nächsten Wochenende fahren wir nach Braunschweig», verkündete meine Mutter eines Tages und bereitete damit den Boden für das Unheil, das uns Jahre später heimsuchen sollte.

Am nächsten Wochenende fahren wir nach Braunschweig. Meine Großmutter sollte uns begleiten. Ich traute meinen Ohren nicht. Braunschweig? Ich wusste zwar, dass Onkel Leberecht – als Bruder meines Großvaters war er eigentlich nur mein Nennonkel – Gutsbesitzer in der Nähe von Braunschweig war, allerdings hatte sich die Kontaktpflege bisher auf eine Postkarte zu Weihnachten beschränkt. Das hatte seine Gründe. Onkel Leberecht legte größten Wert darauf, nicht als ein Bauer auf einem schnöden Hof abgestempelt zu werden. Er war etwas anderes, etwas Besseres. Eben Gutsbesitzer. Die Schöpfung hatte ihn nicht gerade mit Frohsinn verwöhnt, das Schicksal hatte ihm seine Gattin gesandt, und das Leben hatte den Rest erledigt. Als einziger Trost war ihm sein gefestigter Klassenstandpunkt geblieben, der ihn auf seinem Gut ein strenges Regiment führen ließ. Selbst mit zunehmendem Alter, bereits 82-mal hatte er Geburtstag gefeiert, war er nicht milder geworden. Das Verhältnis zu seinen beiden Kindern, einem Jungen und einem Mädchen, war seit deren Kindheit unverändert schlecht geblieben. Doch an ihm lag das natürlich nicht! Diese undankbare, missratene Brut hatte es doch nur auf das Erbe abgesehen!

«Man kann sich seine Familie eben nicht aussuchen», schnaufte meine Mutter, während sie die Koffer ins Auto lud. Sie schlug die Heckklappe zu und schaute gequält. Meine Großmutter lächelte zaghaft.

Meine Freude auf die erste Reise, die mich aus Berlin hinausführen sollte, erlitt am Grenzübergang Dreilinden einen herben Rückschlag. Wir gerieten in einen endlosen Stau, und das graue Dach, das über den albernen Kontrollhäuschen des Grenzübergangs auf zahlreiche Metallstreben gespannt war, näherte sich nur unerträglich langsam. Meine Mutter schaltete nach allen paar Metern, die wir vorgerückt waren, den Motor aus. Gelangweilt beobachtete ich, wie einige der Fahrer neben uns ausgestiegen waren und ihre Autos schoben – Rentnerautomobile, an deren Heckscheibe unzählige Aufkleber von klingenden Orten wie Cochem oder Würselen prangten, und andere mit Atomkraft-nein-danke-Aufklebern.

Meine Mutter schaute abfällig zu ihnen hinüber. «Wer sein Auto liebt, der schiebt!», höhnte sie und startete wieder den Motor, um ein Stückchen vorzurücken.

Grenzer patrouillierten durch die Autoreihen vor den Häuschen und fragten jeden Fahrer in breitem Sächsisch: «Haben Sie Waffen, Funkgeräte?»

Nach einigen Stunden kamen wir endlich am ersten der mickrigen Kontrollhäuschen an. Meine Mutter ermahnte mich, dass dieses Hüttchen und ihre Bewohner ernst genommen werden wollten – auch wenn es schwerfalle. Der Wärter in Häuschen Nummer eins nahm unsere Pässe entgegen, schaute uns scharf an, legte die Dokumente beiseite und gebot uns weiterzufahren.

«Wo sind denn unsere Pässe hin?», wunderte ich mich.

«Die fahren jetzt auf einem Rollband in das nächste Häuschen, und da bekommen wir sie wieder», erklärte meine Mutter.

Die graue «Pass-Rollbahn» machte seltsame Geräusche. Das Dach über dem Rollband wirkte noch alberner als der Rest der Maschinerie. Der Wärter in Häuschen Nummer zwei gab uns schweigend die Pässe wieder, schaute sich aber zuvor unsere Namen und Gesichter noch einmal genau an.

«Und dafür mussten wir jetzt so lange warten?», fragte ich laut.

«Pst!», zischte meine Mutter.

Nachdem uns die Sphinx hatte passieren lassen, durften wir endlich die ersehnte Transitautobahn befahren. Das Tacktack-tacktack-tacktack der Autoreifen auf den Betonplatten machte mich zwar schläfrig, aber meine Neugier siegte. In unregelmäßigen Abständen standen auf den Parkplätzen kleine, raupenartige Baracken. So etwas hatte ich noch nie zuvor gesehen.

«Das sind Intershops», erklärte meine Mutter. «Da kann man zollfrei Zigaretten, Alkohol und Ähnliches kaufen.»

«Bäh!», rief ich aus.

«Die haben auch andere Sachen.»

Mein Misstrauen aber war geweckt. Deutlich konnte ich mich an eine Szene erinnern, die sich in der Weihnachtszeit zugetragen hatte. Damals hatte ich meiner Großmutter einen Besuch abgestattet. Als ich ins Haus getreten war, hatte ich sie in der Küche hantieren gehört und zunächst durch den Türspalt gespäht. Ich traute meinen Augen kaum: Auf dem Holztisch in ihrer gemütlichen, alten Küche stand ein großes Paket, um das herum Schokoladentafeln, Päckchen mit Kaugummis und Gummibärchen und anderes, was ein gutes Weihnachtsgeschenk ausmachte, lagen. Strumpfhosen und Deo irritierten mich aber. Je länger ich nachdachte, desto seltsamer kam mir das alles vor. Meine Großmutter neigte üblicherweise nicht zu Übertreibungen, das hier aber war der Inbegriff des Überflusses. Was hatte das nur zu bedeuten? Offenbar bereitete sie eine Weihnachtsüberraschung für mich vor. Ich sollte ihr Zeit geben, die Sachen vor mir verstecken zu können. Vorsichtig schlich ich von der Küchentür zurück. Der alte Boden knarrte.

«Jakob? Bist du schon da? Wie schön! Ich bin in der Küche. Komm doch zu mir!»

Ich stutzte. Zaghaft öffnete ich die Tür. Als ich eintrat, ging meine Großmutter um den Tisch herum und sah konzentriert auf einen Zettel, den sie in der Rechten hielt. Die Linke hatte sie in ihre Hüfte gestemmt. Ihr weißes Haar war zusammengebunden. Sie murmelte etwas vor sich hin. Als sie mich sah, ließ sie den Zettel sinken, lachte und hob mich hoch.

Ich schaute auf den Tisch und heuchelte Überraschung. «Oh, so viel Schokolade, wie toll!» Ich befreite mich aus ihren Armen und wollte die Sachen genauer inspizieren.

«Finger weg, das ist nicht für dich!»

Wie bitte? Meine Traumblase platzte. Ich war entsetzt. Wie konnte sie nur so herzlos sein?

«Das ist für deinen Onkel Ortwin und seine Familie in Chemnitz.»

Genau genommen war auch Onkel Ortwin gar nicht mein Onkel, sondern einer ihrer Brüder. Ihre eigensinnige Wortwahl betraf nicht nur ihn, sondern auch seinen Wohnort: Den Namen «Karl-Marx-Stadt» durfte niemand von uns in den Mund nehmen.

«Aber … warum bekommt er all die schönen Sachen und ich gar nichts?», fragte ich enttäuscht. «Die kann er sich doch selbst kaufen wie alle anderen Erwachsenen auch!» Wahrscheinlich hatte ich meine Großmutter nur in einem ungünstigen Moment erwischt, und sie versuchte nun mit Ausreden, ihre Überraschung für Weihnachten zu retten, überlegte ich.

Doch sie beugte sich zu mir herunter und sagte im verschwörerischen Tonfall: «Du weißt doch, dass Onkel Ortwin drüben wohnt.»

«Und deswegen bekommt er alles und ich gar nichts? Das ist gemein!»

«Red keinen Unsinn!», wies sie mich zurecht und fügte streng hinzu: «Die Menschen da drüben bekommen gar nichts!» Energisch schnaufend legte sie eine Packung Kaffee ins Paket. «Deswegen schicken wir ihm ja diese Sachen. Onkel Ortwin kann nicht einfach in einen Laden gehen und sich Dinge kaufen, die er gerne hätte. Dinge wie diese bekommt man drüben eben nicht so leicht.»

Ich hatte das damals ungerecht gefunden und sogar noch ein Stofftier von mir für Onkel Ortwin dazugelegt.

Nun aber brachten die Raupenbaracken an der Autobahn die Wahrheit ans Licht: Dort konnte man doch alles kaufen! Ich fühlte mich belogen und betrogen.

«Im Intershop kann Onkel Ortwin nichts einkaufen, dort kann man nur mit D-Mark bezahlen», belehrte mich meine Mutter, als ich sie darauf ansprach, und blickte finster geradeaus auf die Autobahn.

«Die nehmen ihr eigenes Geld nicht?» Ich verstand das alles nicht. «Warum kaufen wir dann nicht dort ein, wenn da alles günstiger ist?» Ich wollte der Wahrheit auf den Grund gehen.

«Wir werden diesen Staat nicht unterstützen!», erwiderte meine Mutter knapp und ließ keine weitere Diskussion zu.

Schweigend sah ich aus dem Fenster. So würde ich nie erfahren, ob der Onkel dort tatsächlich nicht einkaufen konnte. Während ich grübelte, kam es mir so vor, als stünden fast ebenso viele DDR-Fahrzeuge am Rand der Autobahn, wie auf ihr unterwegs waren – meist mit geöffneter Motorhaube. Die fahrtauglichen Autos waren überwiegend voll besetzt, und ihre Insassen winkten mir stets freundlich zu, auch wenn sie in den kleinen Fahrzeugen arg zusammengequetscht wirkten.

Ich wurde aus meinen Gedanken gerissen, als meine Mutter laut triumphierend «Da ist wieder einer!» rief und auf den Straßenrand zeigte, an dem ein mit Tarnnetzen abgedeckter Polizei-Lada stand. Kurz darauf, vor dem nächsten Parkplatz, führte ein Volkspolizist am Rand der Autobahn ein seltsames, aber beeindruckendes Tänzchen auf, bei dem er so gekonnt mit einem schwarz-weiß gestreiften Stock herumfuchtelte, dass man sich gar nicht daran sattsehen konnte. Ein Verkehrssünder sollte zur Strecke gebracht werden. Meine Mutter hielt sich genauestens an die zugelassene Höchstgeschwindigkeit, denn auch in dieser Hinsicht wollte sie «diesem Staat kein Geld in den Rachen werfen».

Das war auch nicht nötig, denn nach einer Weile erreichten wir die Grenze. Die westdeutsche Autobahn ohne Geschwindigkeitsbegrenzung erschien mir wie ein Werbetrick: Nach der stundenlangen «Hunderterei» in der Zone sollte der freie Bürger auch endlich freie Fahrt haben. So flogen wir durch Niedersachsen, und nachdem wir die Autobahn verlassen hatten, führte uns eine Landstraße durch zahlreiche kleine Örtchen.

«Toll, dass hier vor jedem Dorf steht, wie es heißt», freute ich mich.

«Jetzt mach dich nicht dümmer, als du bist!», sagte meine Mutter ärgerlich.

Meine Großmutter kam mir zur Hilfe. «Woher soll der Junge die gelben Schilder denn kennen? In Berlin brauchen wir so etwas schließlich nicht!»

Bald erreichten wir eine kleine Anhöhe, von der aus man eine prächtige Einfahrt sehen konnte. Ein großes schmiedeeisernes Tor thronte zwischen zwei hohen Säulen, die den Weg zu einem kleinen Schloss bewachten.

«Da wohnt Onkel Leberecht», flüsterte meine Großmutter.

Wir passierten das mächtige Tor und fuhren über das alte Kopfsteinpflaster an hohen Scheunen vorbei auf das große alte Gutshaus zu. Es war hell gestrichen, hatte ein rotes Dach und kleine Gauben. An den Hausecken rankten Rosen empor. Die grünen Fensterläden waren geöffnet, und eine kleine Treppe führte zum Eingang, über dem ein prächtiges Vordach thronte.

Onkel Leberecht öffnete die Tür. «Der Junge ist ja groß geworden, groß geworden, ni wa, ni wa!», rief er zackig aus und schüttelte mir die Hand. Wie hätte er wohl gestrahlt, wenn ich die Hacken zusammengeschlagen hätte!

«Und das ist alles deins?», fragte ich staunend. «Ich will auch Bauer werden!»

Von der Diele, die die arme Haushälterin täglich mit kochendem Wasser schrubben musste, führte eine breite Treppe aus dunklem Holz hinauf ins Obergeschoss, das schon lange keine Rolle mehr im täglichen Leben meines Onkels spielte und nur noch selten von Gästen genutzt wurde. Onkel Leberecht ging voran, um uns die Zimmer zu zeigen. Düstere Bilder hingen an den Wänden. Und die Ahnen beobachteten uns finster aus ihren Holzrahmen, als wir die knarrende Treppe emporstiegen. Es fiel kaum Licht in den Flur, der Fußboden ächzte. Das Zimmer, das mir der Onkel zuwies, war ebenso trostlos wie dunkel. Alte Tapeten klebten an den Wänden, die staubigen Vorhänge waren zugezogen. Aus der Mode gekommene Möbel der frühen Fünfzigerjahre waren in diesem Raum abgestellt und warteten auf eine neue Verwendung. Es roch muffig. Hier war man lebendig begraben. Seufzend setzte ich mich auf die Bettkante. Ich hörte meine Mutter im Nebenzimmer fluchen.

«Im Dorf ist am Wochenende Schützenfest, Schützenfest, ni wa, ni wa!», schmetterte Onkel Leberecht, als wir gemeinsam Kaffee tranken.

Meiner Großmutter fiel fast die Kaffeetasse aus der Hand. Entsetzt sah sie den Onkel an. Meine Mutter ließ die Kuchengabel sinken und schaute wiederum ihre Mutter verblüfft an.

«Hurra!», rief ich und freute mich.

Es war noch früh am Abend, vielleicht gegen achtzehn Uhr, als wir zum Festplatz gingen, doch die ersten Betrunkenen wankten uns bereits entgegen. Schon von Weitem hörte man die Musik aus dem Festzelt. Onkel Leberecht steuerte auf einen Bierwagen zu, vor dem zwei Männer im Alter meiner Mutter standen. Einer von ihnen trug ein gelbes Sakko und eine schmale schwarze Lederkrawatte.

«Bitte nicht!», flehte meine Mutter leise.

Schon beim Kaffeetrinken hatte Onkel Leberecht unverhohlen die Meinung geäußert, dass meine Mutter endlich einen vernünftigen Mann finden solle. Einen vom Lande. Einen aus gutem Hause. Seine Familie solle schließlich guten Umgang haben. Und nun stellte sich heraus, was er damit meinte. Den Mann mit dem gelben Sakko machte er uns als Thomas Deuchter bekannt. Mit dessen Vater Eberhard sei er bereits seit Kindertagen befreundet, tönte er. Warum Eberhard Deuchter mit Onkel Leberecht befreundet war, wusste niemand mehr, jedoch war seine Familie für Onkel Leberecht ohne jeden Zweifel «guter Umgang».

Thomas Deuchter schien sich darum allerdings nicht zu scheren. Er war nicht einmal umgänglich. Ein Gespräch kam kaum in Gang, aber Onkel Leberecht bekümmerte dies nicht. Familie ist Familie. Punktum! Die abweisende Haltung Deuchters war förmlich mit den Händen zu greifen. Einzig sein Freund Georg Chrumm hielt das Gespräch am Leben, nicht zuletzt, weil er in Berlin arbeitete. Aber was genau er dort machte, begriff ich trotz all seiner Erklärungsversuche nicht. Dass er im Hahn-Meitner-Institut, einem Forschungsreaktor in Wannsee, irgendetwas mit Atomen zu tun hatte, war das Einzige, was ich damals verstand. Chrumm war ein zurückhaltender und vornehmer Herr, gut gekleidet und höflich, ein Mensch, zu dem man schnell Vertrauen fasste – das genaue Gegenteil von seinem Freund Thomas Deuchter.

Da Onkel Leberecht keinen Widerspruch duldete, waren Thomas Deuchter und Georg Chrumm am nächsten Tag zum Abendessen eingeladen. Nach dem Essen wollte ich mir die Traktoren anschauen. Meine Mutter war jedoch dagegen, und so schlich ich mich verstohlen aus dem Haus. Das Licht schien nur spärlich durch das halboffene Tor in die riesige Scheune. Eine Schwalbe flatterte im Giebel umher. Plötzlich hörte ich Stimmen. Ich erschrak.

«Warum hast du so lange gewartet, verdammt?», zischte eine Männerstimme.

Vorsichtig tastete ich mich an den großen Traktor heran und versteckte mich dahinter. Ölgeruch stieg mir in die Nase.

«Kannst du ihm vertrauen?»

«Ja, natürlich!», flüsterte ein anderer.

«Du unternimmst nichts weiter, verstanden? Ich veranlasse alles Notwendige.»

Ängstlich blickte ich an dem großen Motorblock vorbei. Im Dämmerlicht konnte ich die Gesichter der beiden Männer nicht erkennen. Ich sah nur, wie der eine dem anderen etwas in die Hand legte. Dann drehten sich die beiden um. Vor Schreck trat ich einen Schritt zurück, doch ich blieb mit dem Fuß an etwas hängen. Hektisch versuchte ich mich zu befreien, als auf einmal einige Schaufeln und Forken scheppernd zu Boden krachten. Ich schrie leise auf.

«Was war das?», raunte der eine.

«Wer ist da?», rief der andere drohend.

Ich zog meinen schmerzenden Fuß unter den Geräten hervor und wollte wegrennen. Doch als ich mich umdrehte, stieß ich gegen einen Mähdrescher und fiel hin.

«Komm heraus, wir wissen, dass du da bist!»

Unter der Maschine hindurch sah ich die Füße der beiden Männer auf mich zukommen.

«Was hast du denn hier zu suchen?», fuhr mich Thomas Deuchter an.

Neele van Lenk, 1985

Das dunkelste Kapitel in Neeles Kindheit begann am Abend des 19. Oktober 1985. An jenem Abend konnte ihr Vater sich nicht einmal in Ruhe die Schuhe ausziehen, als er nach Hause kam, weil sie ihm so aufgeregt entgegenrannte.

«An der Straße durch den Wald!», japste sie. «Ein Auto am Baum! Total kaputt! Die Feuerwehr hat Pulver verstreut. Keiner mehr da. Nur noch das kaputte Auto.» Wild fuchtelte sie mit ihren Armen umher und sprang von einem Satz zum nächsten, sodass ihr Vater offensichtlich alle Mühe hatte, ihren Ausführungen zu folgen.

«Ich weiß, Kleines, ich bin auch daran vorbeigefahren», versuchte er sie zu beruhigen.

«Ja, aber …» Bevor Neele ihren Satz beenden konnte, klingelte es an der Tür.

«Erwartest du jemanden?», fragte Hilmar van Lenk seine Frau, die auf dem Sofa saß, ein Magazin las und Schlünz, den Hund, kraulte.

Sie schüttelte nur den Kopf.

«Herr van Lenk?», fragte eine blonde Endzwanzigerin, nachdem der Vater ihr und ihrem Begleiter die Tür geöffnet hatte. «Mein Name ist Wendlandt, Kripo Berlin. Könnte ich kurz mit Ihnen sprechen?»

«Eine Dame von der Kripo!», rief der Vater erstaunt seiner Frau zu.

«Was möchte die Dame denn?», fragte die Mutter zurück, nahm ihre Beine von der Fußablage und erwiderte den Gruß, bevor sie sich zu ihrer Tochter drehte. «Neele, geh hinauf in dein Zimmer!»

Neele beobachtete noch, wie ihre Mutter das Klatschmagazin zur Seite legte, verließ dann aber widerspruchslos den Raum. Sie wusste, dass eine Diskussion zwecklos war. Sie hatte bessere Wege entdeckt, ihre Ziele zu erreichen. Unbemerkt blieb sie auf dem oberen Treppenabsatz sitzen und lauschte. Von dort aus hatte sie einen guten Blick in den offenen Wohnraum. Polizei – das fand Neele sehr spannend!

Ihr Vater setzte sich mit der Kommissarin an den Esstisch. Die fremde Frau redete nicht lange um den heißen Brei herum, sondern legte ihm ein Polaroid vor. «Herr van Lenk, haben Sie dieses Fahrrad schon einmal gesehen?»

Er schaute genauer hin, offenbar war die Aufnahme von schlechter Qualität. «Ja, ja», rief er nach einer Weile aus, «das ist doch mein Rad! Gott, was ist denn damit passiert? Das ist ja vollkommen demoliert. Gestern erst sprachen wir noch darüber. Meine Frau hat es einem – wie soll ich sagen? – Bekannten, oder besser, dem Vater eines Schulfreundes meiner Tochter ausgeliehen.»

«Sie haben es verliehen? Wie heißt denn der Mann, dem Sie es gegeben haben?»

«Georg Chrumm, er wohnt hier gleich um die Ecke», antwortete nun Neeles Mutter. Sie war vom Sofa aufgestanden und näherte sich dem Tisch, an dem der Vater mit der Kommissarin saß. «Eigentlich wollte er es gestern Abend wieder zurückbringen, aber anscheinend hat er es noch nicht getan. Er wollte es am Zaun abstellen. Oder ermitteln Sie, weil das Rad gestohlen wurde? Wir haben doch noch gar keine Anzeige erstattet.» Sie sah ihren Mann an und zog einen Stuhl zurück, um sich zu setzen. «Hast du …»

«Nein, Frau van Lenk, ich bin nicht wegen eines Diebstahls hier», unterbrach sie die Kommissarin mit ernster Miene. Sie stand auf, ging zu ihrem Kollegen, der die ganze Zeit an der Tür gewartet hatte, und flüsterte ihm etwas ins Ohr. Der nickte und verließ das Haus. Die Kommissarin ging zurück an den Tisch, blieb hinter dem Vater stehen, sah auf ihn herab und fragte: «Herr van Lenk, wo waren Sie gestern Abend gegen 22.15 Uhr?»

Der Vater blinzelte irritiert und drehte sich zur Kommissarin. «Ich war mit meinem Hund spazieren. Wieso fragen Sie?»

«Im Regen?» Die Kommissarin setzte sich wieder. «War noch jemand dabei?»

«Nein, ich war alleine. Ich gehe gerne allein im Dunkeln spazieren. Und bei Regenwetter ist es besonders einsam, da kann ich meine Gedanken voll und ganz der Arbeit widmen. Ich bin Journalist, müssen Sie wissen.»

«Aha.» Sie nickte desinteressiert. «Wo lang?»

«Wie bitte?»

«Ihr Weg – wo führte der lang?»

«Ach so. Ich ging unter der Eisenbahnbrücke hindurch, dann in den Wald, an den Schienen entlang, unter der nächsten Unterführung hindurch auf die andere Seite der Gleise, schließlich auf die Straße und dann wieder über den Kanal zurück nach Hause. Warum ist das wichtig?» Es war deutlich zu spüren, dass Neeles Vater langsam ungeduldig wurde.

«Sie sind alleine im Dunkeln bei strömendem Regen durch den Wald gelaufen?» Die Polizistin runzelte die Stirn.

«Mein Mann geht diese Strecke jeden Abend um die gleiche Zeit. Nach dem Ende des Abendspielfilms macht er für gewöhnlich die letzte Runde mit dem Hund», kam ihm die Mutter zur Hilfe. «Hören Sie, was soll das eigentlich?» Jetzt wurde auch sie ungeduldig.

«Herr van Lenk, es gab gestern Abend gegen 22.15 Uhr einen schweren Unfall auf der Straße kurz vor der Brücke über den Teltowkanal. Ein Autofahrer wollte offenbar einer Person ausweichen, die ein Fahrrad schob und gerade aus dem Wald kam. Die wechselte nämlich plötzlich, ohne nach links und rechts zu schauen, auf die andere Straßenseite. Bei dem Ausweichmanöver fuhr der Autofahrer gegen einen Baum und war sofort tot. Die Person, die das Fahrrad mit sich geführt hat, ist flüchtig. Ein Passant hat den Unfall beobachtet und sofort die Polizei verständigt.»

Hilmar van Lenk unterbrach sie. «Ich habe das Autowrack heute gesehen. Aber warum erzählen Sie mir das alles?»

«Das Fahrrad, das über die Straße geschoben wurde, ist Ihres, Herr van Lenk», sagte die Kommissarin schneidend. «Sie haben es gerade identifiziert.»

Neeles Vater ließ sich in seinen Stuhl zurückfallen. Nach einem kurzen Moment legte er einen Zeigefinger an die Lippen und fragte: «Wollen Sie damit sagen, ich hätte einen Unfall verursacht und wäre dann abgehauen? Das ist hoffentlich nicht Ihr Ernst! Ich habe doch eben erklärt, dass ich mit dem Hund unterwegs war und mein Fahrrad verliehen hatte. Jemand müsste mich dort gesehen haben. Denn irgendeine Person lief auf der anderen Straßenseite.»

«Das stimmt – das war der, der die Polizei rief. Der Mann hat aber auch ausgesagt, dass Sie einen Gegenstand mit sich führten, der Ihnen bis über die Hüfte reichte. ­Genaueres konnte er aufgrund der Dunkelheit und des Regens nicht erkennen, da er zu weit von Ihnen entfernt war. Und nun erzählen Sie mir, dass Sie Ihr Fahrrad an einen entfernten Bekannten verliehen hätten, den Sie anscheinend noch nicht einmal sonderlich mögen, der es aber nach seiner Fahrradtour vor Ihrem Grundstück abgestellt haben soll, ohne es anzuschließen. Der große Unbekannte soll es dann geklaut haben. Und Sie? Sie gehen zufällig zur selben Zeit alleine bei einem Wetter, bei dem man nicht einmal einen Hund vor die Tür jagt, mit Ihrem Hund im Wald spazieren.» Sie holte Luft. «Wollen Sie mir das ernsthaft weismachen?», fragte sie schließlich und sah ihn herausfordernd an. «Es geht hier um ein Tötungsdelikt, wenn dieses auch – soviel wir bis jetzt wissen – nur fahrlässig begangen wurde, in Tatmehrheit mit Unfallflucht.»

Neeles Mutter schüttelte empört den Kopf. «So ein Unsinn! Mein Mann würde so etwas nie tun!»

«Herr van Lenk, Sie sind bereits wegen Unfallflucht vorbestraft. Damals versuchten Sie, sich der Verurteilung wegen fahrlässiger Köperverletzung zu entziehen. Und jetzt das!», sagte die Kommissarin provozierend.

«Das ist doch schon ewig her und hat rein gar nichts hiermit zu tun! Ich habe damals nicht bemerkt …»

Er wollte sich erklären, doch Helena van Lenk hatte genug. Sie schlug mit der Hand auf den Tisch und sprang auf. «Was erlauben Sie sich? Verlassen Sie sofort unser Haus!» Sie war außer sich.

Da klingelte es an der Tür. Der zweite Polizist stand davor.

«Haben Sie auch noch etwas Geistreiches beizutragen?», herrschte die Mutter den Mann an, nachdem sie ihm geöffnet hatte, drehte sich um und ging wieder zum Esstisch.

«Ich muss dringend mit Frau Wendlandt sprechen», rechtfertigte sich der Uniformierte.

«Für Sie», sagte Neeles Mutter zu der Kommissarin und zeigte mit dem Daumen auf die Tür, obwohl die das selbst mitbekommen hatte.

Die Kommissarin erhob sich und ging zu ihrem Kollegen.

«Sie wollte sowieso gerade gehen», rief ihr der Vater hinterher. Offenbar kam er langsam in Stimmung. «Wenn es schon unglaubwürdig ist, dass ich alleine spazieren gehe – warum ist das bei dem Zeugen nicht der Fall?», fügte er hinzu. «Und der Gegenstand, den ich angeblich mit mir geführt habe, muss unser Hund gewesen sein.»

Die beiden Polizisten sprachen leise miteinander, dann kehrte die Kommissarin zurück an den Tisch. Sie blieb neben Neeles Vater stehen und sah ihn an. «Herr van Lenk, es tut mir leid, aber ich muss Sie bitten, ein paar Sachen zusammenzupacken!»

«Das ist ein Scherz, oder? Ich habe Ihnen doch gesagt, dass ich das Fahrrad verliehen habe. Fragen Sie doch den Chrumm!»

«Ich komme gerade von ihm», erklärte der Kollege der Kommissarin mit Amtsmiene. «Er sagt aus, er habe das Fahrrad gestern gegen 19.30 Uhr in Ihrem Garten abgestellt. An die Zeit erinnere er sich ganz genau, da er rechtzeitig zur Tagesschau wieder daheim sein wollte.»

«Und warum habe ich das Fahrrad dann nicht gesehen, als ich losgegangen bin?»

«Das fragen wir Sie.»

«Weil es wohl jemand geklaut haben muss, verdammt noch mal! So schwer ist das doch nicht zu verstehen!» Wütend ging er im Zimmer auf und ab, massierte sich die Schläfen und vergrub dann schnaufend sein Gesicht in den Händen.

«Im Regen?», fragte die Kommissarin.

«Bricht man im Regen nicht in Häuser ein?»

«Machen Sie sich nicht lächerlich, Ihr Fahrrad ist kein Haus! Es ist auch nicht wertvoll. Ein wertloses Fahrrad wird nur entwendet, wenn es gerade gebraucht wird, sprich, man klaut es, weil man irgendwohin möchte, und nicht, um es zu verkaufen. Aber wer sollte das bei solch einem Wetter schon getan haben?»

«Woher soll ich denn wissen, wer im Dunkeln mein Fahrrad klaut? Verwechseln Sie nicht etwas? Es ist doch Ihre Aufgabe, das herauszufinden!»

«Sehen Sie, da wir das wissen, haben wir unsere Aufgabe auch prompt erledigt: Ihr Fahrrad wurde nicht gestohlen. Sie sind, nachdem Sie es in Ihrem Garten gefunden haben, damit in den Wald gefahren. Dort stellten Sie fest, dass der Boden durch den Regen viel zu weich war, um darauf zu fahren. Deshalb wollten Sie das Rad nach Hause schieben. Als Sie über die Straße gingen, haben Sie nicht auf das Auto geachtet, das sich Ihnen näherte. Der Fahrer wollte Ihnen ausweichen und ist dabei zu Tode gekommen. Das ist die Sachlage!»

Die Kommissarin schien es wirklich ernst zu meinen. «Und warum sollte ich im Regen mit Fahrrad und Hund durch die Gegend laufen?»

«Ich denke, Sie gehen gerne im Regen spazieren?», erwiderte die Frau schnippisch.

«Ja, spazieren, aber nicht Rad fahren!»

«Viele Menschen fahren Fahrrad, wenn sie ihren Hund spazieren führen. Dadurch wird das Tier trainiert, und man kann die übliche Strecke in kürzerer Zeit zurücklegen. Sehr praktisch. Vor allem bei Regen. Außerdem soll Ihr Hund ja sicher nicht verfetten. Er ist ja auch groß und kräftig genug für einen Fahrradausflug. Packen Sie bitte ein paar Sachen zusammen!»

«Sie verhaften mich wegen eines Verkehrsverstoßes? Ich will sofort mit meinem Anwalt telefonieren! Helena, ruf sofort Dieter an, der soll herkommen!»

«Herr van Lenk, das ist kein normaler Verkehrsverstoß. Sie sind nicht bei Rot über eine Straße gegangen. Ein Mensch ist zu Tode gekommen, und Sie haben nicht einmal einen Arzt gerufen, sondern sind einfach weitergegangen. Außerdem sind Sie einschlägig vorbestraft, und diese Vorstrafe ist noch gar nicht so alt. Haben Sie nicht heute ein Visum für eine Reise in die DDR beantragt?», fragte die Kommissarin Wendlandt scharf.