Loe raamatut: «Das Geheimnis der Väter», lehekülg 4

Font:

Jakob Chrumm

Endlich rückte er näher, der Tag, dem ich schon sehnlichst entgegenfieberte. Ein Monat war nun vergangen, seitdem ich Neele nach zwanzig Jahren wiedergetroffen hatte, und dieses Wiedersehen hatte mein Leben gründlich durcheinandergebracht. Es quälte mich, dass wir uns seit dem Abend in der «Hafenbar» nicht mehr gesehen hatten. Es quälte mich, dass wir uns regelmäßig E-Mails schrieben, aber nie eine Verabredung zustande kam. Immer dieselben Ausreden: die Arbeit, zu viel zu tun … Vor allem aber quälte mich der Gedanke, einem großen Irrtum aufgesessen zu sein. Hatte ich mich in etwas verrannt? Hatte ich etwas missverstanden? Ich wollte ihren Erklärungen so gerne glauben, aber warum konnte ich mir Zeit für sie nehmen, sie sich aber umgekehrt nicht für mich? Und was sollte ich von der wirklich großen Verabredung halten, die wir vor einer Woche getroffen hatten? Wir wollten das kommende Wochenende gemeinsam an der Ostsee verbringen. Natürlich war diese Idee zunächst im Spaß geboren, schließlich hatten wir uns gerade erst nach vielen Jahren wiedergetroffen. Im Verlauf der Zeit war sie aber zu einem festen Vorhaben mutiert. Trotz allem ließ mich die Befürchtung nicht los, dass Neele es nicht ernst meinen könnte. Nicht, dass sich diese Vermutung auf Tatsachen gründete, nein, sie nahm meine Gefühle ganz ohne Grund in Beschlag. Ihre Kraft schöpfte sie aus meiner Erfahrung, dass sich meine Wünsche bisher noch nie erfüllt hatten.

Den gesamten Freitag war ich hin- und hergerissen zwischen Euphorie und tiefer Traurigkeit. Vor allem aber war ich erschöpft. Erschöpft davon, immerzu von überschwänglicher Freude in tiefe Betrübtheit zu fallen.

Meine Zweifel erwiesen sich als grundlos, als Neele tatsächlich ihr baldiges Kommen ankündigte. Dennoch beutelte mich meine Angst, während ich auf Neele wartete. Das ist reine Hinhaltetaktik. Sieh dich doch an, wie lächerlich du bist!, sagte eine innere Stimme zu mir. Ich bäumte mich auf. Warum sollte Neele so etwas tun? Das ist deine gerechte Strafe! Woher nimmst du das Recht, glücklich sein zu wollen? Glück muss man sich erarbeiten! Und was hast du bisher dafür getan?

Mehrmals hatte ich schon gedacht, Neeles Auto gesehen zu haben, als ich vor meiner Wohnung auf sie wartete. Aber die Wagen hatten ihrem auf den zweiten Blick nicht einmal farblich geglichen. Siehst du!, höhnte die innere Stimme, als ich mich wieder einmal getäuscht hatte. Doch dann bog Neele tatsächlich um die Ecke.

«Siehst du!», äffte ich meine zweifelnde Stimme laut lachend nach und zeigte ihr eine lange Nase. Sie war besiegt! Hoffentlich ein für alle Mal. Vor mir lag eine wunderbare Zukunft mit einer wundervollen Frau. Überglücklich stieg ich zu Neele ins Auto und stellte mir vor, wie mein innerer Widersacher allein auf dem Bürgersteig zurückblieb. Auf dass es ihm eine Lehre sein mochte! Mich umzudrehen, um mich zu vergewissern, dass ich ihn wirklich abgehängt hatte, traute ich mich allerdings nicht. Zu groß wäre die Enttäuschung gewesen, wenn ich mich getäuscht hätte.

Ich freute mich darauf, das ganze Wochenende auf einem Schloss zu verbringen. Bei der Ankunft erwartete uns bereits die mecklenburgische Dunkelheit. Aber sie vermochte es nicht, die Schönheit des abgeschiedenen Ortes unter ihrem langen schwarzen Mantel zu verstecken. Die kunstvolle Beleuchtung des alten Schlossguts Groß Schwansee und des rustikal verzierten Stalls unterstrich die würdevolle Atmosphäre. Vom Balkon unseres Zimmers aus konnte man die Sterne sehen, so klar war der Himmel und so dunkel die Umgebung. Wir genossen den Anblick und lauschten der Melodie der Stille. Einzig das entfernte Rauschen des Meeres war zu hören. Die Luft schmeckte frisch, ein wenig salzig und mit einer Prise Alge versetzt. Die Pappeln raschelten, ihre Silhouetten zitterten im Mondschein. Das spärliche Licht ließ den Park nur erahnen.

Wir gingen zurück ins Innere und nahmen auf dem Sofa Platz. Neele schlängelte sich um mich herum, als ob ihr Körper ohne Knochen auskäme. Ich öffnete eine Flasche Champagner. Worüber wir sprachen? Ich weiß es nicht mehr. Ich genoss ihre Gegenwart. Allmählich verloren unsere Berührungen an Schüchternheit, sie wurden intensiver und vertrauter. Meine Hände streiften ihren Oberschenkel, meine Lippen küssten ihren Hals. Wir sanken aufs Bett. Champagner perlte auf ihrem Körper. Meine Hand glitt in ihren Schoß. Sie stöhnte. Einige Zeit später schliefen wir erschöpft ein.

Mitten in der Nacht wurde ich aus dem Schlaf gerissen. Neele war hochgeschreckt und starrte aus dem Fenster in die Dunkelheit hinaus. Sie war aufgewühlt. «Mein Gott», hörte ich sie leise ausrufen, «jetzt weiß ich, woher ich den Namen kenne!»

Vom Schloss führte eine Allee zum Strand. Durch die Baumwipfel konnte man das Wasser schon von Weitem erkennen. Das Wetter war umgeschlagen. Der Wind blies heftig und kalt. Er zerpflügte das Meer nach seiner Façon. Schaumkronen tanzten auf den riesigen Wellen, die gierig am Strand leckten. Auf der anderen Seite der Bucht lag Travemünde fast unsichtbar hinter den tief hängenden Wolken. Der Sturm presste salzige Meeresluft in unsere Lungen. Ich brüllte ihn an und war ob seiner Lautstärke doch so klein und unwichtig, dass Neele neben mir mein Gebrüll nicht einmal wahrnahm. Auf der wütenden See hatten einige übermütige Schwäne einen Riesenspaß. Sie bewegten sich zur Musik des Meeres, begleitet vom prächtigen Farbenspiel der wenigen Sonnenstrahlen, die sich ihren Weg durch die Wolken erkämpften. Ein einzelnes Boot mit Sturmsegel bahnte sich entgegen aller Vernunft seinen Weg durch die Wellen. Vor uns lag die Steilküste. An einer geeigneten Stelle kletterten wir empor und blickten hinab.

«Kannst du dir vorstellen, dass sich dieser friedliche Ort vor gar nicht so langer Zeit ganz anders präsentierte? Bestens bewacht und abgesichert? Für niemanden zugänglich und doch Schauplatz zahlreicher Fluchtversuche?», sinnierte Neele laut. «Schau mal da vorne zum Beispiel», sagte sie und schlang einen Arm um meine Hüfte, während sie mit der anderen Hand direkt vor meiner Nase herumfuchtelte und auf irgendeinen Punkt am Strand zeigte. «Da vorne stieg bestimmt ein junger Mann mit seiner Liebsten ins Wasser, um sich ans gegenüberliegende Ufer abzusetzen. Flucht in den Westen. Schon Monate zuvor schlichen sie deswegen heimlich hier umher und erkundeten die Umgebung. Eines Nachts, es war stockfinster, der Mond war von Wolken bedeckt, glitten sie gemeinsam ins Wasser. Sie waren jung und gut trainiert, schwammen los und ließen alles hinter sich.»

«Ich liebe deine Fantasie!»

«Ach, tu nicht so!», schmollte sie. «Du hast ja recht, Männer mögen lieber Technik. Also gut, vielleicht benutzten sie diese Propellerbrettchen, die man aus Agentenfilmen kennt.» Sie lachte, umkreiste mich, zog mich an sich und küsste mich, bevor sie mir zuhauchte: «Wenn es die damals schon gab …»

«Dir ist ja heute sehr agentisch zumute», stotterte ich.

«Ich bin zu einer Hobbyagentin geworden.» Sie entfernte sich von mir mit herausforderndem Blick, streckte mir die Hand entgegen und zog mich zu sich. Dann erzählte sie mir von ihrem Vater und ihren Nachforschungen.

Hilmar van Lenk, 1985

Hilmar van Lenk brach jeden Abend zur gleichen Zeit zu einem Spaziergang mit dem Familienhund Schlünz auf. Besonders mochte er den Herbst, nicht nur seiner Farbenpracht wegen, sondern auch wegen der ungefesselten Kräfte der Natur. Starker Wind und kräftiger Regen zogen ihn hinaus in den Wald und zu den kleinen Wiesen. Der Regen machte ihm nichts aus, im Gegenteil, er war das Besondere. Hilmar von Lenk liebte den Regen. Er liebte ihn nicht um seiner selbst willen, er liebte ihn, weil er in ihm die Sehnsucht nach dem warmen Heim mit den hellen Fenstern, dem Kamin mit dem prasselnden Feuer und dem Sofa mit der weichen Decke weckte. Sehnsucht, davon war er überzeugt, war keine unangenehme Empfindung, die es zu bekämpfen galt. Sehnsucht lieferte ihm Energie, Sehnsucht führte ihm den Wert seines Lebens erst vor Augen.

Hilmar unternahm Ausflüge, um zurückzukehren. Selten fühlte er sich so frei wie in diesen Momenten, deshalb genoss er sie. Im Alltag überkam ihn häufig ein Gefühl der Enge, obwohl ihn weder seine Familie noch seine Arbeit einengten, im Gegenteil, sein Leben war wunderbar. Er hatte eine liebevolle Frau und eine zauberhafte kleine Tochter, er ging in seinem Beruf auf und kam mit seinen Kollegen gut aus. Es war das Leben in dieser Stadt, die von einer Mauer umgeben war, das ihm die Luft zum Atmen nahm. Die physische Enge, das bloße Bewusstsein, eingeschlossen zu sein, schnürte ihm die Kehle zu. Wie oft hatte er darüber nachgedacht, hinaus aufs Land nach Westdeutschland zu ziehen! Aber seine ­Tätigkeit als Journalist konnte er nur hier so ausüben, wie er es sich vorstellte.

Wenn er an einem typischen Herbsttag abends im Dunkeln unterwegs war, freute er sich über die Einsamkeit. Dann konnte er sicher sein, dass ihm weder auf der Straße noch im Wald jemand begegnete. Keine verliebten Pärchen, die einen «total verrückten» Spaziergang im Sommerregen unternahmen. Selbst der Hirsch würde ihn nicht stören, denn auch der hatte sich an einen trockenen Ort verkrochen.

Am regnerischen Abend des 18. Oktober 1985 trug Hilmar van Lenk seinen gelben Friesennerz, den er so lieb gewonnen hatte. Allen Familienmitgliedern hatte er solch einen praktischen Mantel geschenkt, dennoch wollten ihn Tochter und Frau nie auf seiner Runde begleiten. Selbst der Hund konnte bei diesem Wetter nur schwer dazu bewegt werden.

Hilmars Weg führte ihn an der einzigen Kneipe im Dorf vorbei. Durch die beleuchteten Fenster konnte er die Silhouetten der Gäste erkennen, Musik und Gelächter drangen nach draußen. Sehnsucht. Gehen, um zurückzukehren.

Schlünz hatte den Schwanz eingezogen und trottete mit hängendem Kopf neben ihm her. Als sie die Straße nach Stölpchensee erreichten, traute Hilmar van Lenk seinen Augen kaum: Trotz des schlechten Wetters kam ihm jemand auf der gegenüberliegenden Straßenseite entgegen, auch er führte einen Hund mit sich. Im schwachen Licht der Gaslaternen konnte Hilmar van Lenk die Umrisse der Person nur vage erkennen, sie schien keine Notiz von ihm zu nehmen. Er beschleunigte seinen Schritt.

Plötzlich, er hatte bereits die Brücke über den Teltowkanal überquert, hörte er einen dumpfen Aufprall. Er drehte sich um und horchte. Niemand schrie, niemand machte sich bemerkbar. Angestrengt schaute er in die Dunkelheit – nichts. Dann wandte er den Blick wieder nach vorne und setzte seinen Weg in Richtung seines Hauses fort.

Er fand seine Familie vor dem Fernseher. Schlünz schüttelte sich im Flur die Nässe aus dem Fell. Hilmar van Lenk hängte seinen Mantel auf und ging in den Keller, um Holz für den Kamin zu holen. Heute gelangte er ohne Umweg an die aufgestapelten Bretter. Er lächelte. Seine Frau musste sein Fahrrad, das ihm sonst immer den Weg versperrte, beiseitegeräumt haben. Er sah sich im Keller um, konnte es aber nirgends entdecken.

«Wo ist denn eigentlich mein Fahrrad?», fragte Hilmar van Lenk seine Frau, als er wieder nach oben kam.

«Das habe ich am letzten Wochenende an Jakobs Vater ausgeliehen. Er wollte eine Radtour mit Jakob machen.»

«An den? Warum hat er es denn noch nicht wieder zurückgebracht?»

«Merkwürdig, er wollte es heute Abend an unserem Zaun abstellen. Hat er das etwa nicht getan?»

«Nein», murmelte er. «Das muss er wohl vergessen haben.»

Neele van Lenk

Neele beobachtete Rainer Voß dabei, wie er seinen blauen Ford Mustang mit den roten Ledersitzen einparkte. Er ließ den Sechszylindermotor noch einmal laut aufheulen und zwinkerte ihr lässig zu, bevor er ihn abstellte. Nachdem er ausgestiegen war, umarmte er sie und gab ihr ein Küsschen.

Wie sie das hasste! Sie fragte sich, wann es eigentlich Usus geworden war, einer jungen Frau so distanzlos zu ­begegnen. Neeles ausgestreckte Hand wurde selten geschüttelt, stattdessen wurde sie umarmt oder abgeschmatzt. Nein, ich will das nicht!, wollte sie dann stets laut schreien. Sie war nicht altmodisch, aber eine gewisse Zurückhaltung wusste sie als Zeichen guter Erziehung durchaus zu schätzen. Im Wesentlichen gab es, so hatte sie festgestellt, zwei Sorten von Männern. Die einen waren etwas schüchterner und gaben einem beim ersten Kennenlernen noch die Hand. Hatte man allerdings mehr als zwei Sätze mit ihnen gewechselt, ging das Angetatsche los. Die anderen waren noch schlimmer. Wurde man ihnen vorgestellt, ließen sie sogleich alle Hemmungen fallen. Als ob die Tatsache, dass man einen Dritten als gemeinsamen Bekannten hatte, Vertraulichkeit rechtfertigen würde. Wann war es so weit, dass auch die Königin von England abgeknutscht würde?

Rainer schien das alles nicht zu interessieren. Er hielt Neele lachend an beiden Schultern fest und sagte: «Ich freue mich, dich zu sehen. Komm!» Dann zog er sie in eine Bar.

«Mach’s nicht so spannend!», drängelte Neele neugierig, nachdem Rainer ohne langes Überlegen einen Old Fashioned und sie einen Gin Fizz bestellt hatte. «Was hast du mir zu erzählen?»

Doch Rainer dachte anscheinend gar nicht daran, sein Geheimnis zu lüften. «Ich verstehe überhaupt nicht, was du an dieser Pfeife von Tino eigentlich findest», begann er. «Der ist doch total unreif.»

Der Kellner servierte die Drinks, und es dauerte eine Ewigkeit, bis er die kleinen Papierserviettchen, die als Untersetzer dienen sollten, in die richtige Position bugsiert hatte.

Neele konnte Rainer schwer einschätzen. Es war etwas Hinterhältiges in seiner Art. Vielleicht wollte er auch einfach nur bei ihr landen. «Also, was möchtest du mir erzählen?», fragte sie erneut.

«Das habe ich dir doch eben gesagt», antwortete er mit einem breiten Grinsen.

«Zahlen bitte!», rief Neele in Richtung des verdutzten Barkeepers.

«Schon gut, schon gut!», beruhigte Rainer sie. «Es gibt etwas, das tatsächlich mit dem Fall zu tun hat.»

«Moment noch!», wies Neele den Barkeeper an, der sich kopfschüttelnd wieder der Minze zuwandte, die er gerade zerkleinerte.

«Ich habe die Akte gelesen, weil ich weiß, warum du sie haben wolltest.»

«Und?»

«Ist dir nichts aufgefallen?»

«Mir ist nur aufgefallen, dass anscheinend niemand in Erwägung gezogen hat, dass der Autofahrer den Unfall auch selbst verursacht haben kann. So voll, wie der war! Es wurde aber alles so dargestellt, als wäre mein Vater unzweifelhaft der Schuldige.»

«Mag sein. Viel erstaunlicher ist aber doch, dass der Zeuge deinen Vater überhaupt nicht erkannt hat! Er hat ja nicht einmal gesehen, was er mit sich geführt hat. Von so viel schlechterer Qualität als heute waren die Brillen damals auch nicht, dass man einen Hund nicht von einem Fahrrad unterscheiden konnte. Und wenn dein Vater tatsächlich ein Fahrrad mitgeführt hat, dann hat der Zeuge den Hund überhaupt nicht gesehen.»

«Es war dunkel und hat geregnet. Kennst du den Unfallort? Ich habe dort gewohnt und weiß, dass die Straße durch den Wald nur sehr schwach beleuchtet ist. Gestern erst war ich dort. Außerdem könnte ich mich auch nicht daran erinnern, wer mir bei einem solchen Wetter auf der anderen Straßenseite entgegengekommen ist.»

«Ich will dir ja nichts einreden, aber wenn man schon gesehen haben will, dass jemand etwas mit sich führt, dann muss man doch wenigstens erkannt haben, ob es von alleine lief oder geschoben wurde. Die Kollegin damals ist mit Sicherheit auch nicht auf den Kopf gefallen. Wie gesagt, ich will dir nichts einreden. Aber wenn du immer noch ein ungutes Gefühl bei der Sache hast, dann sollte man sich etwas näher mit diesem Zeugen beschäftigen. Schließlich hat er nie eine Aussage gemacht, die in einem Prozess hinterfragt werden konnte, denn leider …»

«Ich weiß, was du sagen willst», unterbrach ihn Neele. «Eine unschöne Erinnerung!»

«Entschuldige! Trotzdem können Untersuchungen nicht einfach abgebrochen werden, wenn der Hauptverdächtige verstirbt. Nicht bei einem solchen Ermittlungsergebnis! Es könnte ja sein, dass der wirkliche Täter noch frei herumläuft.»

«Was willst du damit sagen?»

«Bei solch einem Ermittlungsergebnis hätte kein Staatsanwalt jemals Anklage gegen deinen Vater erhoben! Wir hätten die Sache postwendend wieder auf unseren Tisch bekommen, mit der Aufforderung, unsere Arbeit vernünftig zu machen.»

«Weiß man eigentlich irgendetwas über das Opfer?»

«Das Opfer? Warum sollte das wichtig sein?»

«Nur so. Aber vielleicht können wir dem Zeugen mal einen Besuch abstatten.» Früher hatte Neele nie verstanden, was Menschen daran reizte, Detektiv zu spielen.

Rainer schien ihre Gedanken erraten zu haben. «Hör zu, das hier ist keine Fernsehserie!»

«Nicht?», fragte sie ironisch.

«Das mit dem Zeugen ist zum Beispiel so eine Sache. Ich habe versucht, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen, aber irgendwie ist er von der Bildfläche verschwunden. Vielleicht ist er bereits tot.»

«Und warum, lieber Rainer, säst du dann Zweifel in mir, wenn der Zeuge vielleicht gar nicht mehr befragt werden kann?»

«Was sagt eigentlich Tino zu der ganzen Sache?» Rainer schien ablenken zu wollen.

«Jetzt lass mich doch endlich mit Tino in Frieden!» Sie wusste wirklich nicht, was diese Fragerei nach ihrem Freund sollte. «Ich habe ihm nichts von meinen Nachforschungen erzählt, und ich weiß auch nicht, warum du immerzu nach ihm fragst.»

«Redet man nicht eigentlich über solche Dinge, wenn man in einer Beziehung ist?»

Wie sie solche Fragen hasste! Ja, das tat man. Aber sie tat es nicht – gezwungenermaßen. Seit Wochen schon hatte sie nichts mehr von Tino gehört. Eigentlich wusste sie gar nicht mehr so genau, ob sie überhaupt noch mit ihm zusammen war. Am meisten erstaunte sie jedoch, dass sie sich zum ersten Mal nicht mehr sicher war, ob sie noch eine Beziehung mit ihm führen wollte.

Tags darauf war Neele überzeugt, sie müsse endlich flügge werden. Sie wollte nicht länger nur von Rainers Flügeln getragen werden. Sie wollte nicht alles mit ihm planen und unternehmen, sie wollte die Richtung ihrer Nachforschungen selbst bestimmen. Es sollte ihre Suche sein, es sollte ihr Ergebnis sein!

Sie hatte das Gefühl, dass sich Rainer in Angelegenheiten einmischte, die ihn nichts angingen. Vorsichtig tapste sie zum Nestrand. Den ersten Schritt des Flüggewerdens hatte sie bereits hinter sich gebracht: Sie hatte den Willen zum Fliegen entwickelt. Neele war eigentlich kein aufmüpfiger Mensch, aber wenn sie die damaligen Ermittlungsberichte überdachte, ging ihr die Hutschnur hoch. Der Unfall konnte sich eindeutig auch anders zugetragen haben, als amtlich festgestellt worden war. Der zweite Schritt des Flüggewerdens stand kurz bevor: losfliegen. Entschlossen machte sie sich auf den Weg, um ihre eigenen Erkenntnisse zu gewinnen.

Zweimal sah Neele auf das Straßenschild, um zu prüfen, ob sie sich nicht getäuscht hatte. Dieser Pfad sollte die Breite Straße sein? Da hatten doch bestimmt ein paar Halbstarke im Appelkornrausch die Schilder vertauscht! Sie schaute im Stadtplan nach. Tatsächlich – die Breite Straße war weder breit noch groß, sie war schmal und eng. Die Mehrfamilienhäuser, die sie rechts und links säumten, waren dafür umso prächtiger. Neele näherte sich dem Haus Nummer 24, einem der wenigen schmucklosen Altbauten der Straße.

In der Schule hatte sie viel über den Kampf um Berlin im Jahre 1945 gelernt, deshalb war sie verwundert, dass es hier noch so viele schöne alte Gebäude gab. Einige davon wirkten allerdings wie Pfauen mit Federnausfall. Von diesen Häusern, allesamt zu Kaisers Zeiten erbaut, hatte man in der Nachkriegszeit den Stuck abgeschlagen. Neele war entsetzt gewesen, als sie davon zum ersten Mal gehört hatte. Wie hatte man nur so etwas tun können? Dieses Vorgehen war jedoch nicht als Akt der Barbarei, sondern als ein Beitrag zur schnellen Beseitigung der Kriegsschäden gedacht gewesen. Stucksanierung war aufwendig, so hatte man Neele erklärt, und damit teuer. Also hatte man kurzerhand den Stuckmord mit Prämien für die finanzschwachen Hauseigentümer gefördert. Entstuckungsprämie – scheußliches Wort!

Der Türöffner der Nummer 24 summte, und Neele betrat das großzügige, mit aufwendigen Schnitzereien verzierte Treppenhaus. Im zweiten Stock erwartete sie eine Frau, deren Alter sie nur schwer einschätzen konnte. Also war sie wohl in den besten Jahren. Sie hatte kurzes, dauergewelltes Haar und wirkte weder langweilig noch altmodisch. Neele gefiel, dass sie offensichtlich nicht den albernen Versuch unternahm, jünger zu wirken, als sie tatsächlich war.

«Neele, wie schön, dich zu sehen! Auch nach all den Jahren hätte ich dich sofort wiedererkannt», begrüßte Sabine Wilke sie. Dann führte sie Neele in ihr Wohnzimmer.

Der Raum war auffallend sauber, selbst der helle Teppich war makellos. Und die verschnörkelten Möbel waren mit Häkeldeckchen verziert, auf denen kleine bunte Porzellanfiguren standen.

Neele kam ohne Umschweife auf ihr Anliegen zu sprechen. «Du hast dich bestimmt schon gefragt, warum ich dich treffen wollte», sagte sie, griff in ihre Tasche, holte ein Foto heraus und reichte es Sabine.

Die betrachtete das Bild intensiv, bevor sie langsam sagte: «Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir.» Sie deutete ein Lächeln an, aber es wirkte traurig. Dann gab sie Neele das Foto zurück.

«Es wäre schön, wenn du es behalten würdest. Ich dachte, es wäre vielleicht eine nette Erinnerung. Du und meine Mutter, ihr seht so glücklich aus auf dem Foto. Ich wusste ja nicht, dass du so viele Bilder hast …», erwiderte Neele und sah sich im Wohnzimmer um. Überall standen eingerahmte Fotografien.

«Das ist wirklich sehr aufmerksam von dir», wiederholte Sabine. «Aber das Bild stammt aus einer Zeit, die ich eigentlich aus meiner Erinnerung verbannt habe. Bitte versteh mich nicht falsch, Neele! Ich denke nicht schlecht über deine Mutter, das Gegenteil ist der Fall. Nur, die Umstände, die uns damals zusammengeführt haben, gehörten nicht zu den schönsten meines Lebens. Aber wem sage ich das! Du warst noch klein, als ich deine Mutter kennenlernte. Weißt du noch?»

Merkwürdig. Neele konnte sich beim besten Willen nicht daran erinnern, Sabine Wilke jemals zuvor getroffen zu haben. Vor ihrem inneren Auge sah sie nur immer wieder das Foto von Sabine und ihrer Mutter auf deren Kommode stehen. Einige Jahre war es nun schon her, dass Neele ihre Mutter gefragt hatte, wer die fremde Frau auf dem Bild sei. Doch Helena van Lenk hatte nur unwirsch Sabines Namen genannt und kurz erklärt, es handele sich um eine alte Bekannte. Sie hatte Neele weder gefragt, ob sie sich an Sabines Besuche erinnern könne, noch etwas über gemeinsame Erlebnisse erzählt. Über die Vergangenheit verlor ihre Mutter niemals ein Wort.

Während des Wochenendes an der Ostsee hatte Neele an ihre Heimat denken müssen. Im Traum war sie durch das Haus ihrer Mutter gelaufen und vor der Kommode mit den Fotos stehen geblieben. Plötzlich war sie hochgeschreckt. Der Name! Auf einmal hatte sie gewusst, woher sie den Namen kannte, den sie vor Kurzem in den Akten gelesen hatte: Valentin Faber. So hatte das Unfallopfer geheißen, und Sabine Faber lautete der Name der unbekannten Freundin ihrer Mutter auf dem Foto. Das war unheimlich. Neele hatte sich in dieser Nacht fest vorgenommen herauszufinden, ob es einen Zusammenhang zwischen diesen beiden Personen gab. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass ihre Mutter ihr darüber bestimmt nichts sagen würde. Also hatte sie sich entschlossen, der Sache selbst auf den Grund zu gehen.

Dennoch hatte sie noch am Abend ihrer Rückkehr ihre Mutter angerufen. Sie war ihr so lange auf die Nerven gegangen, bis Helena van Lenk ärgerlich geworden war. Ungehalten hatte die irgendwann erzählt, dass Sabine nach dem Unfalltod ihres Mannes einen alten Bekannten namens Robert Wilke, der schon seit Jahren hoffnungslos in sie verliebt gewesen war, geheiratet hatte und seitdem seinen Namen trug. Kaum hatte sie aufgelegt, hatte Neele zum Telefonbuch gegriffen.

«Sabine, ich möchte mich bei dir dafür entschuldigen, was deinem Mann damals passiert ist», sagte sie nun.

«Wie bitte?», fragte Sabine überrascht. «Neele, die Sippenhaft ist abgeschafft. Wenngleich es den Anschein hat, dass wir dazu neigen, viele der hart erkämpften Errungenschaften unserer Zivilisation allzu leichtfertig zur Disposition zu stellen.»

«Eigentlich weiß ich das», heuchelte Neele und fühlte sich dabei ziemlich durchtrieben, «aber es ist nicht ganz das, um was es mir geht.»

«Um was geht es dir dann?»

«Ich glaube, ich wollte nicht, dass du meinen Vater als Feigling in Erinnerung behältst, der deinem Mann das Leben nimmt und dann noch nicht einmal den Mut hat, die Konsequenzen dafür zu tragen. Ich bin mir sicher, er hätte gerne mit dir gesprochen.»

Sabines Gesicht war wie versteinert, hellte sich aber schnell wieder auf. Ihre Gesichtszüge wurden weich, fast zärtlich. «Neele, zu keinem Zeitpunkt habe ich deinen Vater verurteilt! Ich habe ihn nicht als Feigling in Erinnerung. Sei also ganz beruhigt. Ich möchte dir allerdings für die Zukunft noch etwas mit auf den Weg geben. Andere wären vielleicht ob deines doch recht eigensinnigen Gesuchs ziemlich ungehalten. Der Sache nach geht es dir nicht um eine Entschuldigung, sondern um etwas ganz anderes.»

Neele schluckte.

«Du möchtest die Witwe um Verständnis für den vermeintlichen Täter bitten! Schon deine Mutter wollte sich für ihren Mann entschuldigen. So entstand ja überhaupt erst unser Kontakt. Wir waren natürlich nicht die besten Freundinnen, das versteht sich von selbst, aber wir unterstützten uns gegenseitig in einer schweren Zeit. Seltsam, nicht wahr? Später verloren wir uns aus den Augen. Vor einigen Jahren habe ich dann erneut geheiratet. Das heißt nicht, dass ­Valentin nicht mehr in meinen Gedanken ist. Ich möchte aber nach vorne blicken und nicht für immer die Fesseln der Vergangenheit spüren.»

Neele senkte den Blick. «Vermeintlicher Täter? Du meinst also auch, dass mein Vater unschuldig ist?»

«Ich kenne deinen Vater als sehr aufrichtigen Menschen, und ich denke nicht, dass er dich jemals angelogen hätte.»

«Wie bitte?»

«Ich meine das, was mir deine Mutter über ihn erzählt hat. Nichts weiter.» Nervös rang sie ihre Hände.

«Du stimmst mir also zu, dass man den Fall noch einmal aufrollen müsste?» Neeles Plan schien aufzugehen. Sie wagte sich noch weiter vor. «Vielleicht können wir ja zusammenarbeiten.»

Sabine Wilkes Gesicht verfinsterte sich. «Nein, das ist überhaupt keine gute Idee! Wir werden niemals zusammenarbeiten. Es gibt nämlich nichts, woran wir zusammenarbeiten könnten.» Sie sprach langsam. «Du solltest nicht nach alten Geistern rufen!»

«Wenn wir sie gemeinsam rufen und verjagen, können wir beide besser schlafen.»

«Ich schlafe sehr gut.»

«Aber willst du denn gar nicht die Wahrheit erfahren?», drängelte Neele aufgeregt.

«Nein, liebe Neele, das möchte ich nicht», versetzte Sabine schroff. «Und weißt du auch, warum? Weil ich sie schon kenne. Und du kennst sie auch. Es tut mir leid, wenn ich mich eben missverständlich ausgedrückt habe. Du solltest im Übrigen auch nicht weiter in der Sache herumbohren. Erst am Ende der Suche wird sich nämlich zeigen, ob du mit der Wahrheit besser leben kannst als mit der Lüge. Aber dann ist es zu spät.»

«Es tut mir leid, wenn ich dich verletzt habe, Sabine! Oder gibt es etwas, das ich wissen sollte?»

«Ich bin müde. Mach dir nicht zu viele Gedanken um das Geschwätz einer alten Frau.»

«Darf ich dich noch einmal besuchen, wenn ich etwas Neues erfahre?», fragte Neele.

«Mach dir bitte keine Mühe. Versprich mir lieber, dich nicht auf ein Spiel einzulassen, dessen Regeln du nicht kennst. Leb wohl!»

Tasuta katkend on lõppenud.