Loe raamatut: «Mit dir, Ima»

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Über dieses Buch

Daniela Kuhn erzählt die bewegende Lebensgeschichte ihrer 1935 geborenen Mutter, einer irakischen Jüdin, die in Israel aufwuchs. 1967 heiratete sie in Zürich einen nichtjüdischen Schweizer, und bald darauf kam ihre Tochter zur Welt. Von ihrer Herkunft, auch von Kindheit und Jugend, sprach die Mutter nie. Sie sagt über sich, sie sei «heimwehkrank».

Anhand von Gesprächen, Briefen sowie der Agendanotizen ihres seit langem verstorbenen Vaters zeichnet die Autorin die Geschichte ihrer Familie nach. Sie reflektiert auch ihr eigenes Leben, das von der schwer fassbaren Krankheit ihrer Mutter geprägt ist. Das Buch zeugt von der Liebe zwischen Mutter und Tochter, die allen Widerständen trotzt und anhält bis zum heutigen Tag.


© Ayse Yavas

Daniela Kuhn, geboren 1969, publizierte als freie Journalistin in verschiedenen Printmedien mit thematischem Schwerpunkt Alter und Psychiatrie. Seit 2016 verfasst sie Auftragsbiografien und bietet Textcoachings an. Im Limmat Verlag sind von ihr bisher sechs Bücher erschienen, zuletzt ihre Reportage zum Besuchs- und Ausgehverbot in Schweizer Heimen, «Eingesperrt, ausge­schlossen». Daniela Kuhn lebt in Zürich.

Daniela Kuhn

Mit dir, Ima

Limmat Verlag

Zürich

1

Im Dezember treffen sich die Israelis in grossen Gruppen am Strand, junge Familien mit zwei oder mehr Kindern, die alle miteinander befreundet zu sein scheinen, obwohl sie sich bis vor Kurzem noch nicht gekannt haben. Goa ist ihr Winterdomizil. In meinem Bett, unter dem Moskitonetz, höre ich die Nach­barskinder miteinander spielen oder ihren Eltern rufen: «Abba, Ima!» – Vater, Mutter!

Hebräisch ist die Sprache meiner Mutter, unsere Geheimsprache. Vorgestern habe ich per Skype mit ihr gesprochen. Bevor ich abreiste, habe ich ihr ein Tablet gekauft und ihr gezeigt, wie sie es benutzen muss. Sie ist zweiundachtzig Jahre alt und hatte bisher weder Smartphone noch Computer. Es wird noch etwas dauern, bis sie das Gerät mühelos bedienen kann. Aber ich glaube, sie wird es lernen. Und bis dahin hilft ihr Ben.

Ben ist ihr Freund. Die beiden haben sich vor acht Jahren im Zürcher Seefeld kennengelernt, sie waren Nachbarn im selben Haus. Ben hatte während Jahrzehnten mit seiner Mutter dort gewohnt. Sie war gerade verstorben, als meine Mutter einzog, der Himmel schickte ihm einen veritablen Ersatz. Später gelangte das Haus in die Hände eines Spekulanten, meine Mutter zog in eine Wohnung, die ich für sie mietete, und Ben fand Unterkunft in einer betreuten Wohngruppe.

Seit drei Jahren lebt meine Mutter im Altersheim. Zuvor hatte sie zwei Jahre lang im Neubau des Heims in einer Zweizimmerwohnung gewohnt. Sie war dort sehr zufrieden gewesen, sie mochte die Nachbarinnen und lud einmal im Jahr ihren Bruder Mosche für eine Woche zu sich ein. Dann stellte sich heraus, dass die Sozialbehörden die Miete dieser Wohnung irrtümlicherweise bezahlt hatten, das Heim aber über kein entsprechendes Ab­­kommen verfügte. Meine Mutter, die bis dahin selbstständig eingekauft und gekocht hatte, musste ins Hauptgebäude wechseln, in ein Zimmer mit Balkon. Mit den drei Mahlzeiten, die nun mitbezahlt werden, ist es weitaus teurer.

Früher wäre meine Mutter angesichts eines erzwungenen Umzugs krank geworden. Sie hätte sich in ihre eigene Welt zu­­rückgezogen, sie hätte Stimmen gehört, unter deren Anleitung sie vielleicht eine lange Reise gemacht und viel Geld ausgegeben hätte, bis sie irgendwann nur noch im Bett gelegen wäre und der Notfallpsychiater sie in die Klinik eingewiesen hätte.

Vor vier Jahren war meine Mutter zum letzten Mal in der Klinik. Die Krankheit ist im Alter nicht verschwunden, aber über weite Strecken in den Hintergrund getreten. Die dramatischen Zeiten sind lange her. Was ihr heute begegnet, nimmt meine Mutter so, «wie es von Gott bestimmt ist». Sie lehnt sich nicht mehr gegen die Widrigkeiten des Lebens auf, sondern vertraut auf den göttlichen Plan. «Du kannst die Geschichte meines Le­­bens schreiben», sagte sie mir kürzlich, «denn sie endet gut: Dank meiner Rückkehr zu Gott bin ich nicht mehr krank.»

Seit meine Mutter zu ihren Wurzeln zurückgefunden hat, ist sie tatsächlich aufgeblüht. Sie strahlte, wenn die Mitglieder der jüdischen Gemeinde sie bei ihren regelmässigen Besuchen in der Synagoge herzlich empfingen und in ihren Kreis aufnahmen. Heute gefällt es ihr im Altersheim. Kein Hauskonzert, Vortrag oder Ausflug, an dem sie nicht teilnimmt. Ja, wer hätte gedacht, dass sie eines Tages so glücklich sein würde. Nie hätte ich für sie ein so friedliches und gutes Alter auch nur zu hoffen gewagt. Wenn wir abends telefonieren, sagt sie: «Ich hatte einen schönen Tag.»

Eine Pflegerin bringt ihr morgens und abends winzige Ta­­bletten, Neuroleptika, die sie beruhigen. Meine Mutter sträubt sich nicht dagegen, obwohl sie lieber darauf verzich­ten würde. Vor allem, weil sie nun ein paar Kilos mehr wiegt, ob­­­wohl sie sehr wenig isst. Das leichte Zittern in ihren Händen ist eine Nebenerscheinung der vielen Psychopharmaka, die sie in ihrem Leben geschluckt hat. Ausgerechnet sie, die sich immer besonders gesund und bewusst ernährt hat, die zu meinem grossen Ärger als Kind immer Vegetarierin war. Seit sie im Altersheim ist, schickt sie sich in die medikamentöse Behandlung und be­­sucht auch alle zwei Wochen ihren Psychiater. In den letzten beiden Dekaden traf sie es mit ihren Psychiatern gut: Die ersten beiden waren Israeli, meine Mutter war überglücklich, mit ihnen He­­bräisch sprechen zu können; den aktuellen, russischen Arzt mag sie nicht weniger. Sie schwärmte anfangs regelrecht von ihm und wollte mich mit ihm verkuppeln, auf ihrem Büchergestell stand ein Foto von ihm und eines von mir. Sie erzählt mir, sie hätten es immer lustig miteinander, er würde ihr jeweils Espresso servieren.

Dass ich ihre Sprache spreche, ahnen die israelischen Familien hier nicht. Eine Israelin, die mit achtundvierzig Jahren für längere Zeit allein nach Goa kommt, wäre sehr ungewöhnlich.

Meine Mutter ist mit drei Brüdern und vier Schwestern aufgewachsen. Schulamit lebt heute in Florida, Chava in Kalifornien, Ahuva, Victoria und Mosche leben in Israel, die beiden älteren Brüder sind gestorben. Ausser Victoria sind alle umgeben von mehreren Kindern, Enkeln und Urenkeln. Meine Mutter hätte auch mehrere Kinder gewollt, aber nach meiner Geburt war mein Vater nicht mehr dazu bereit. Er und seine Eltern kümmerten sich um mich, wenn meine Mutter weg war. Auf der Suche nach der grossen Liebe reiste sie mehrmals nach Amerika, einmal verfrachtete sie ihr ganzes Hab und Gut dahin. Ein anderes Mal wohnte sie monatelang bei ihrer Schwester Chava, die sie erfolgreich mit einem Schweizer Juden verkuppelt hatte. Etliche Wochen logierte sie im teuren Hotel Sonnenberg. Welche Wege sie in ihren Wahnvorstellungen auch ging, am Ende fand sie sich in der Klinik wieder, im doppelten Sinne des Wortes.

Den Schmerz, von ihr getrennt zu sein, spüre ich noch heute, wenn wir uns nach einem innigen Treffen verabschieden. Wenn sie mir an der Tür des Altersheims winkt, bis sie mich nicht mehr sieht, laufen mir manchmal die Tränen übers Gesicht. Ich war zwei Monate alt, als wir das erste Mal getrennt wurden. In der Krankengeschichte, die ich mit dem Einverständnis meiner Mutter von der Psychiatrischen Universitätsklinik Zürich erhalten habe, lese ich, meine Mutter sei damals «schwer kataton» gewe­sen, sie habe sich am Boden gewälzt, sei aufgestanden, habe eine Lampe angezündet und entrückt ins Licht geblickt, «vollkommen mutistisch». Sie habe gesagt, sie lebe in zwei Welten, aus der ei­­nen kämen Vorwürfe, sie höre Stimmen, die sie be­­schuldigten, ihre Familie verlassen und eine Sünde begangen zu haben. «Hier in der Klinik seien Tiere, vor denen sie Angst habe. Heute Nacht werde sie von denen vielleicht aufgegessen und ausgetrunken.»

Mein Vater nahm mich in der blauen Tragtasche in den Frauen­­besuchssaal mit. Zwei Tage später verschmierte meine Mutter mit ihrem Stuhl ihr Zimmer, «legte Kotballen auf ihren Teller», war «im Säli nachher wieder nett wie zuvor» und sagte dazu nur, bis heute sei sie rein gewesen. Nach drei Wochen wurde sie als geheilt entlassen.

Sie habe ein hübscheres Kind erwartet, erzählte mir mein Va­ter. In den Nächten, in denen er mit mir allein gewesen sei, habe er fast nicht schlafen können, er habe immer hören wollen, ob ich atmete. Mein Vater war in diesem Sommer achtunddreissig Jahre alt. Noch zwei Jahre zuvor hatte er bei seinen Eltern ge­­­wohnt, in einem grossen Haus im Bauhausstil am Stadtrand von Zürich. Die Dreizimmerwohnung meiner Eltern lag nur wenige Minuten zu Fuss davon entfernt, in der Nähe des Waldrands.

Meine Grosseltern waren körperlich und geistig in bester Verfassung, sie hielten Haus und Garten in vorbildlicher Ordnung, aber sie hatten wohl nicht damit gerechnet, im Alter nochmals ein Kleinkind betreuen zu müssen. Schon bald stand im Schlafzimmer meiner Grossmutter mein Kinderbett, im Sommer da­rauf spielte ich im Garten im Laufgitter, unter den liebevollen Augen von Grosspapa. Er war einundachtzig Jahre alt, zehn Jahre älter als meine Grossmutter. Seine erste Frau war bei der Geburt ihres zweiten Kindes verstorben, Grosspapa war damals mit einer achtjährigen Tochter allein dagestanden. Sehr bald hatte er eine Bekannte geheiratet, die hin und wieder mit seiner Frau und ihm musiziert hatte, meine Grossmutter. Der erste der beiden Buben, die auf die Welt kamen, war mein Vater.

Grosspapas Aufmerksamkeit war mir sicher. In den ersten Jah­ren holte er mich jeden Tag für einen Spaziergang im Wald ab. Ich legte meine Hand in seine grosse warme; er zeigte mir Forellen im Bach, weit unten im nahen Tobel. Auf dem Rückweg zählten wir die Treppenstufen, die aus dem friedlichen Wald ans Licht führten.

Vor dem Einschlafen sagten Grosspapa und ich: «Müde bin ich, geh zur Ruh, schliesse meine Äuglein zu. Vater lass die Augen Dein über meinem Bette sein.» Und am Morgen: «Fröhlich bin ich aufgewacht, hab gut geschlafen die ganze Nacht. Hab Dank im Himmel Du Vater mein, dass Du hast wollen bei mir sein. Nun bleib bei mir auch diesen Tag, dass mir kein Leid geschehen mag.» Einmal, so erzählte mir mein Vater, habe Grosspapa zu ihm ge­­sagt, ein Tag, an dem er mich nicht gesehen habe, sei ein verlo­rener Tag.

«Du bist das Wichtigste in meinem Leben», sagte kürzlich auch meine Mutter. Vor längerer Zeit sprach ich mit ihr über unsere vielen Trennungen. Es schüttelte mich vor Weinen, und auch meiner Mutter, die seit vielen Jahren nicht mehr weint, liefen Tränen über das Gesicht. «Glaubst du, dass ich nicht gelitten habe?», fragte sie mich. «Ich war in der Klinik und habe dich ver­­­­misst!» In guten Momenten können wir offen miteinander sprechen. Wir sind uns in gewisser Weise so nahe wie damals, etwas in uns beiden möchte nachholen, was sich nicht nachholen lässt.

Sie war den Stimmen ausgeliefert, die sie dazu aufforderten, das Glück woanders zu suchen. Die Krankheit war immer stärker als die Liebe zu mir. Das sei ein harter Satz, meinte eine Freundin. Ich muss ihn leider stehen lassen.

Kurz bevor ich nach Goa flog, stellte sich heraus, dass ich an einem Vitamin-B12-Mangel litt. Meine Hausärztin bestellte mich für eine Spritze auf halb sieben Uhr abends. Ich hatte meine Mutter zum Nachtessen eingeladen, und sie fragte mich, ob sie mich begleiten könne. Meine Ärztin war erstaunt, uns im Wartezim­mer zusammen anzutreffen, dass meine Mutter sogar mit ins Un­­tersuchungszimmer kam. Auf dem Hinweg hatte ich sie gebeten, nicht zu erwähnen, dass sie nie Fleisch gegessen und dennoch keine solchen Probleme gehabt habe, dass Eier und Käse genüg­ten. Sie hielt sich daran, als meine Ärztin sagte, in rotem Fleisch und roher Milch habe es am meisten Vitamin B12. Die Spritze bekam ich in einem anderen Raum.

Auf dem Heimweg klagte ich über den Schmerz, der stärker war als erwartet. «Ich hoffe, er vergeht bald», sagte meine Mutter, und ich spürte, wie sie mitlitt, wie es zwischen meinem und ih­rem Körper für sie keine Grenze gibt. Mein Vater hätte mir Mut ge­­macht, er hätte gesagt: «Das geht sicher bald vorbei.» Meine Mutter kann sich nicht selbst beruhigen, es fehlt ihr an innerer Stärke, um einer Widrigkeit etwas entgegenzuhalten. Und gerade sie hat so viel Schreckliches aushalten müssen, ausgehalten. Depotspritzen über Jahre, Elektroschocks, dutzende Male wurde sie gegen ihren Willen in die Klinik eingewiesen.

Ich war ein gesundes Kind. Abgesehen von den Knieschmer­zen, die mich eine Zeit lang fast jede Nacht quälten. Manchmal waren sie so stark, dass ich auf allen vieren weinend ins Zimmer meines Vaters kroch, in dem er tagsüber als Anwalt an der Schreibmaschine sass oder telefonierte. Er legte mir die orangefarbene Zauberwatte auf die Knie und befestigte sie mit einem Verband. Zu den wenigen Besuchen bei meiner anthroposo­phi­schen Ärztin kam er mit. Er war meine Verbindung zur Aussenwelt, zum schweizerischen Alltag, den meine Mutter nicht kannte und den sie auch nicht kennenlernen wollte. Bis heute spricht sie ge­­bro­chen Deutsch.

Der gemeinsame Besuch bei meiner Ärztin war etwas Neues. Es war meine Rolle gewesen, sie in der psychiatrischen Klinik zu besuchen, unzählige Male. Als Kind erzählte ich niemandem davon, obwohl im Quartier längst bekannt war, dass meine Mutter unsere Wohnung angezündet hatte. Im nahen Einkaufszentrum wurde bestimmt über sie getratscht, aber ich wurde weder in der Schule noch sonst wo auf sie angesprochen. Nur einmal begegnete ich der Mutter einer Mitschülerin, die als Sekretärin in der Psychiatrischen Klinik Burghölzli arbeitete. Das war mir unangenehm.

Zurück von meiner Ärztin assen meine Mutter und ich am Küchentisch Gemüse, Tofu und Bulgur. Danach setzten wir uns ins Wohnzimmer und flickten Löcher in Socken und Hemden. Meine Mutter schlug vor, die Goldberg-Variationen mit Glenn Gould zu hören. Ich genoss den Abend. Sie schickte sich ohne Lamento in den Abschied und meinte nur, für die, die blieben, sei es eine längere Zeit. «Aber wenn es dir in Indien gut geht und du dich dort wohlfühlst, freut mich das.» Ich bestellte ihr ein Taxi, das sie mit den Bons bezahlen kann, die sie von der jüdischen Gemeinde erhält. Ich mag Abschiede nicht, aber dieser fühlte sich überraschend leicht an. Ich schaute dem Taxi nach, das auf der leeren Strasse verschwand.

*

Wie viele kleine Mädchen wollte auch ich Säuglingsschwester werden. Irgendwann verblasste der Wunsch, stattdessen be­­schloss ich, eines Tages eigene Kinder zu haben, zwei oder drei. Als ich Anfang dreissig war, schenkte mir meine Mutter einen Ratgeber für Mütter, der Anfang der Sechzigerjahre in Israel erschienen ist. Da ich kein Hebräisch lesen kann, hätte sie mir daraus vorlesen müssen. Dazu ist es nie gekommen. Eigene Kinder blieben ein Wunsch. Als ich zweiundvierzig war, hatte meine Mutter die Hoffnung noch immer nicht aufgegeben, sie hielt länger daran fest als ich. Jetzt, da feststeht, dass ich keine Kinder habe, spüre ich ein gewisses Bedauern, aber keinen Schmerz. Auch meine Mutter hat sich mit einem Leben ohne Enkel arrangiert. Sie sagt, das Wichtigste sei für sie, dass ich glücklich sei, ob mit Kindern oder ohne.

Der Mann, mit dem ich vor bald zwanzig Jahren probierte, schwanger zu werden, erwies sich als unfruchtbar. Wir trennten uns voneinander, mit vielen Tränen, aber ich war zuversichtlich, dass sich mein Wunsch mit einem anderen Partner erfüllen werde. Sieben Wochen später war K. mit einer neuen Frau zu­­sammen, während ich in den folgenden sieben Jahren ohne Mann an meiner Seite blieb.

«Hättet ihr nicht dies und das noch probieren können? Oder Kinder adoptieren?» Alle, die von der Geschichte erfahren, fragen das. Zu Recht. Ich hatte mich auf K. nicht wirklich eingelassen, er war nicht mein Lebensgefährte gewesen, sondern der potenzielle Vater meiner Kinder. Ich dachte damals sogar, später, ir­gend­wann mal, einen interessanten Mann zu treffen.

Ach, die interessanten Männer. Natürlich, mein Vater war einer. Er hatte immer Geschichten, die er vor seinem Publikum ausbreitete, für die er bewundert und geschätzt wurde. Er war ein anregender Gesprächspartner, mit ihm war es nie langweilig, um eine Meinung war er nie verlegen. «Wenn ein Mann neben dir am Frühstückstisch die Zeitung liest, anstatt mit dir zu sprechen, dann steh auf und geh», sagte er einmal in Italien, als wir im Hotel beim Frühstück ein Paar beobachteten. Ich war vielleicht acht Jahre alt.

Dass man gemeinsam Zeitung lesen könnte, kam ihm nicht in den Sinn. Da schrieben Männer für Männer über Dinge, die Frauen nicht interessieren. Wie seine Eltern hatte auch mein Vater zeitlebens die Neue Zürcher Zeitung abonniert. In den letzten beiden Dekaden vor seinem Tod publizierte er darin hin und wieder Artikel, in denen er Israels Politik und das Recht auf einen selbstbestimmten Tod verteidigte, die Sterbehilfe. Beide Themen lagen ihm am Herzen, für beide setzte er sich leidenschaftlich ein.

Nach seinem Jurastudium schrieb er als freier Mitarbeiter für die National-Zeitung. Auf seine Initiative hin war er für dieses Blatt 1961 nach Jerusalem gereist, um über den Eichmann-Prozess zu berichten. In diesen drei Monaten lernte er meine Mutter ken­nen. Sechs Jahre später, im Februar 1967, bestieg sie in Tel Aviv das Flugzeug nach Zürich. Im Frühling darauf heirateten die beiden.

Als Publizist und Anwalt engagierte sich mein Vater in den Sechzigerjahren für den Lärmschutz, für ein nationales Nachtflugverbot. Er selbst reagierte sehr empfindlich auf Lärm, wie meine Mutter und leider auch ich. Ohne die rosafarbenen Wachskugeln, die er sich in beide Ohren stopfte, machte er kein Auge zu, nirgends. Kein Lärmproblem, das sich nicht lösen lässt, das war seine Maxime. In den Nächten, in denen er allein in seinem Einzelbett lag, las er mehrere Bücher gleichzeitig, Romane und Sachbücher, auf seinem Nachttisch lagen Philip Roth, Alfred Andersch oder Dostojewski. Vielleicht noch bedeutungsvoller als Literatur war für ihn die klassische Musik. Seine Mutter hatte als junge Frau das Klavier- und Cellodiplom erworben, sein Vater hatte Bratsche gespielt. Als junger Mann spielte mein Vater Cello. Er wollte Berufsmusiker werden, bis ihn eine Entzündung am Handgelenk dazu zwang, das Konservatorium zu verlassen.

In seiner Liebe zur Musik erkenne ich seine sensible und verletzliche Seite. In Worten drückte er sie kaum aus. Er verbarg seine Unsicherheiten, seine Zweifel und Ängste. Ich glaube, seit seine erste Liebe ihn in jungen Jahren wegen eines anderen Mannes verlassen hatte, und vor allem nachdem später sein bester Freund Ernst im Alter von siebenunddreissig Jahren an einem Hirnschlag gestorben war, wurde mein Vater ein einsamer und verschlossener Mensch. Er wählte Frauen, die weniger gebildet waren als er, die ihn bewunderten, denen er sich überlegen fühlte. Meine Mutter entsprach diesem Bild – wenn sie gesund war. In ihren psychotischen Phasen drehte sich das Blatt. Sie tätigte manische Einkäufe, die meinen Vater beinahe in den Ruin trieben, sie schrie ihn an und warf ihm alles Böse an den Kopf, sie verliess ihn wegen anderen Männern und brach dann irgendwann zusammen. Nach qualvollen Wochen, in denen mein Vater und ich zitternd weitere Katastrophen erwarteten, lag meine Mutter dann nur noch im Bett. Einmal stand sie nicht einmal mehr auf, um auf die Toilette zu gehen.

In all diesen Jahren erlaubte sich mein Vater nicht, die Hilfe eines Psychologen oder Psychiaters in Anspruch zu nehmen. Fragte er sich nicht, ob die Aggression seiner Frau mit ihm und ihrem Fremdsein in der Schweiz zu tun haben könnte? Er empörte sich über Bekannte, die es wagten, Fragen dieser Art zu stellen. Er betonte, dass meine Mutter bereits in Israel mehrmals in Kliniken ge­­wesen sei.

Eine unglückliche Ehe und die Entwurzelung von der eigenen Kultur können keine Schizophrenie auslösen. Aber beide Um­­stände haben die Krankheit verstärkt. Dennoch kamen meine Eltern nicht voneinander los. Nach der Klinik war mein Vater der liebevolle Mann, der das Häufchen Elend, das meine Mutter dort jeweils war, wieder bei sich aufnahm, ohne ihr jemals vorzuwerfen, was sie zuvor gesagt oder getan hatte. Dankbar und devot kehrte sie zu ihm zurück.

Als ich elf Jahre alt war, liessen sich meine Eltern scheiden, aber mein Vater blieb meiner Mutter bis ans Ende seines Lebens verbunden. Er fühlte sich für sie verantwortlich. Sie trafen sich weiterhin, besuchten zusammen Konzerte oder gingen ins Ther­malbad. Einmal sagte mir mein Vater: «Wenn ich Ima zufällig auf der Strasse antreffe, denke ich: Eine entzückende Frau! Keine andere hat mir so gefallen wie sie. Ich würde sie noch einmal heiraten.» Erst sein Tod trennte die beiden.

*

Kürzester Tag, in drei Tagen ist Weihnachten. Die Familie, bei der ich wohne, hat an der Fassade des Hauses Glimmergirlanden aufgehängt, gestern hatten die Kinder Weihnachtsmann-Mützen auf. Goa, das bis 1961 eine portugiesische Kolonie war, ist teilweise christlich. Und doch ist alles wenig weihnachtlich, zum Glück. Um neun Uhr schwamm ich im noch ruhigen Meer die Bucht ab und las danach unter einem Sonnenschirm aus Kokosfasern. Gegen Mittag, als es auch im Schatten zu heiss wurde, machte ich mich auf zu Sangeetas mit Plastikplanen impro­vi­sierter Imbissbude, um unter dem rotierenden Ventilator wun­der­bare Dosa Masala, Fischcurry und Gemüse zu essen. Fast im­­mer ist jemand da, den ich kenne. Zurück in meinem kühlen Zimmer lege ich mich zuerst ein wenig hin und setze mich dann an den Laptop.

Ich bin froh, in der Wärme zu sein, Weihnachten und Neujahr zu entkommen. In meiner Kindheit haben wir bei meinen Grosseltern gefeiert. Meine Grossmutter zauberte das ganze Programm hin, von selbstgemachten Guetzli über Krippe mit Glöcklein bis hin zum grossen Baum. Mit Grosspapas Tod starb auch Weihnachten, ich war elf Jahre alt. Nur bei den Grosseltern war das Fest so, wie es sein musste.

Auch wir hatten einen Baum. Er war mit glitzernden Kugeln geschmückt, die meine Mutter im ABM gekauft hatte. Ein Baum ohne Seele. Das Fest war meiner Mutter fremd. Die jüdischen Feiertage, die nur in einem grösseren Kreis begangen werden, hat sie nicht gehalten. Aber Pessach und Rosch ha-Schana, der Auszug aus Ägypten und das Neujahr, waren kritische Momente. Sehr oft war meine Mutter an diesen Tagen und noch weit da­­rüber hinaus in einem schlechten Zustand. Nur Chanukka, das achttägige Lichterfest, hat sie mit mir gefeiert. Jeden Abend hat sie eine Kerze mehr angezündet und die entspre­chenden Lieder mit mir gesungen. Mit Religion hatte dieses Ritual nichts zu tun, das Judentum war meiner Mutter damals nicht wichtig. Sie interessierte sich für anderes, etwa für Krishnamurti und die Scientologen, die ihr versicherten, sie sei nicht krank.

Ihre Mutter war eine fromme Frau. Sie trug ein Kopftuch und zündete am Schabbat Kerzen an. Ich habe noch immer den kleinen goldenen Davidstern, einen Anhänger, den sie mir als Kind geschenkt hat, getragen habe ich ihn nie. In den ersten Jahren, in denen meine Mutter in Zürich war, hatten meine Eltern etliche jüdische Bekannte, aber meine Mutter trat keiner jüdischen Gemeinde bei und ging schon gar nicht in die Synagoge.

Der säkulare Westen war ihr Ideal, die Bücher, die sie als Studentin der hebräischen Literatur kennengelernt hatte, symbolisierten den Fortschritt, das Gegenteil ihres Elternhauses. In Israel galten in den Fünfziger- und Sechzigerjahren nur europäische Juden als zivilisiert. Einwanderer aus arabischen Ländern, die nicht lesen und schreiben konnten, wurden verachtet. Meine Grossmutter war eine solche Frau. Meine Mutter schämte sich für ihre Herkunft. Als Kind, so erzählte sie mir vor Jahren, habe sie in der Schule einem Mädchen gegenüber behauptet, sie kom­me aus dem polnischen Lodz.

Sich in die Sonne zu legen, käme ihr nicht in den Sinn. Schon als junge Frau achtete sie darauf, keine dunkle Haut zu haben. Auf einem Schwarz-Weiss-Foto, das sie in einer Reihe mit anderen Frauen an Deck eines Schiffes zeigt, mit dem sie nach Amerika fuhr, liegt sie als Einzige unter einem Schirm. «Bitte», sagte sie am Vorabend meiner Reise nach Goa, «tu mir einen Gefallen und leg dich zwischen zwölf und vier Uhr nicht in die Sonne.» Im Unterschied zu ihr lasse ich mich gerne von der Sonne bräunen, solange ich die Wärme als angenehm empfinde.

Am Strand sind nun viele neu eingetroffene Westler zu sehen, die ihre weisse Haut von früh bis spät der brütenden Sonne aussetzen. Weiter südlich liegen Russen und reiche, übergewichtige Inder. Wenn die Ebbe es erlaubt, gehe ich kurz vor Sonnenuntergang zu einem längeren Strand, vorbei an einem gigantischen Golfhotel. Einheimische Fischer werfen dort ihre Netze aus. Einer dieser dunkelhäutigen, muskulösen und gertenschlanken Männer trägt einen Turban. Bevor er sein Netz als Kreis aufs Wasser fallen lässt, vollbringt er eine graziöse, kunstvolle Bewegung. Ge­genüber liegt eine Halbinsel, über der die Vögel hoch oben am Himmel kreisen. Die Bässe der Musik aus den Restaurants sind hier nicht mehr zu hören, nur die Wellen des Indischen Ozeans, der sogenannten Arabian Sea. Mein Blick schweift auch ins Hin­terland, in die nahen, erstaunlich hohen und bewaldeten Berge, in ein mir unbekanntes Land.

So urtümlich die Szenerie ist: Jeder dieser Fischer hat sein Handy dabei. Gestern ging die orangefarbene Kugel erstmals nicht im Dunst, sondern im Meer unter. Ich gehörte zu den wenigen, die das Spektakel nicht mit dem Handy fotografierten, filmten oder sich davor mit einem Selfiestick ablichteten. «Schick mir Fotos», bittet mich meine Freundin. Bis ich hier nicht mit Menschen unterwegs bin, an die ich mich später gerne wieder er­­innern möchte, mag ich keine Bilder machen. Ich fotografiere seit vielen Jahren kaum mehr. Meine Partner und Freundinnen haben uns, haben mich fotografiert. Hätte ich Kinder, wäre das wohl anders.

Die meisten Fotos entstanden in meinen ersten Lebensjahren; ein grosses rotes, ein gelbes, braunes und blaues Album. «Du warst ein liebes Kind, hast fast nie geweint», erzählten mir meine Eltern. Es gibt nur ein einziges Bild, auf dem ich heulend auf den Oberschenkeln meiner Mutter stehe. «Da warst du krank», erklärt meine Mutter.

Wenn ich heute irgendwo einen Säugling oder ein kleines Kind stark oder lange weinen höre, halte ich es kaum aus. Der Psychotherapeut, den ich als junge Frau aufsuchte, erklärte mir, ein kleines Kind könne sich in seinem egozentrischen Weltbild den Verlust der Mutter nur damit erklären, dass es nicht genüge. Ich muss meine Mutter vermisst haben, ich erinnere mich, von grösster Nähe und Zärtlichkeit abgeschnitten gewesen zu sein, an einen fast körperlichen Schmerz. Zu funktionieren, vom geliebten Grosspapa und meinem Vater umgeben zu sein und doch weit weg von aller Wärme. Fremd zu sein.

Mein Ideal war die Mutter meiner Kindergartenfreundin, die uns am Nachmittag mit Toast und Ovomaltine empfing. Bei uns gab es Sanddornsirup von Weleda, Cottage Cheese, Avocado und immer viel Salat. Meine Mutter züchtete in transparenten Kunststoffbehältern Weizen-, Alfalfa- und Sojasprossen, die sie dem Salat beifügte. Mir war das alles suspekt. Die Bierhefe in der Salatsauce oder der Apfelessig, den sie trank und mit dem sie sich die Haare spülte, empfand ich als Ausdruck ihrer Krankheit. Nichts mochte ich lieber als Rindsfilet mit Kräuterbutter, die meine Grossmutter selbst machte, ihren Nudelauflauf und ihre Brätchügeli.

Je strikter meine Mutter vegetarisch kochte, desto wichtiger wurde für mich Fleisch. Einmal stand ich aus Protest vom Tisch auf und ging zu meinen Grosseltern, bei denen es am Mittag meistens Fleisch gab. Und immer ein Dessert. Als ich einmal weinend nach Hause kam, weil ich mir den Zeigefinger eingeklemmt hatte, wollte meine Mutter die Wunde mit Honig bestreichen. Ich tobte. Ich war verzweifelt. Ich schrie wie am Spiess und verlangte nach normaler Medizin.

Meine Mutter hatte mich Ariela nennen wollen, mein Vater war gegen einen exotischen Namen gewesen. Das war in meinem Sinne. Nur meine dunklen Augen und Haare verrieten das Fremde. Im Kindergarten fragte mich ein Mann, der mit uns Lieder für eine Schallplatte einstudierte, ob ich aus Italien oder Spanien käme. Ich schüttelte nur den Kopf.

Ich sprach nicht gerne über meine Mutter. Sie las mir aus den hebräischen Kinderbüchern vor, sie lehrte mich Lieder, die niemand sonst kannte. Abends erzählte sie mir an meinem Bett Geschichten, die sie selbst erfand. Am liebsten hatte ich die Figur der Giveret Sonja Goldstein. Soooanja ist von Russland nach Israel eingewandert, sie fährt mit ihrem Mann, ihrer Tochter oder ihrer Freundin zum Strand und lädt zu Picknicks. Sonja führt ein ganz normales Leben. Meine Mutter imitierte den starken russischen Akzent, was ich sehr lustig fand. Von Sonja konnte ich nicht genug bekommen, sodass meine Mutter die Geschichte über viele Wochen, Monate oder gar Jahre weiterspann. Danach streichelte sie meinen Kopf. Mit geschlossenen Augen fühlte ich ihre Hand, immer wiederkehrend, unendlich. Der Schlaf war nahe, aber ich schlief nicht ein, ich merkte, wenn sie sich aus dem Zimmer schlich. Bevor sie die Tür schloss, machte sie diese mehrmals einen Spaltweit auf, schaute zu mir hin und sagte mit ihrer glanzvollen hellen Stimme: «Kuck!» Mein Vater fand dieses abendliche Ritual übertrieben, zu lang.

*

Es ist einfacher, hier in Goa über diese Dinge, über meine Mutter und mich zu schreiben. Vor meinem Fenster höre ich am Nachmittag die rot gekleideten Frauen, die am Ziehbrunnen Wäsche waschen. Sie sprechen kaum Englisch, unsere Begegnungen be­­schränken sich auf ein Lächeln und wenige Wendungen. «How are you?», werde ich gefragt, «cleaning?»

Gegenüber unterhalten sich die Nachbarn vor ihrem Haus, oft bis spät in die Nacht. Ich kann mich nicht genügend zurückziehen, denn die Fenster lassen sich nicht schliessen. Sogar mit Ohrstöpseln fühle ich mich in den Nächten, in denen die vielen Hunde der Gegend immer wieder lange bellen, ausgeliefert. Zu­­gleich weiss ich: Genau das tut mir gut, ich lerne hier, dass alles ein Ende hat, und sogar schneller als erwartet. Ich übe mich in Geduld und Gelassenheit.

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